Die mit der Keule kommen... Muss das sein?

  • Als grundsätzlich positiv denkender und harmonieaffiner Mensch sehe ich in der Weigerung, als Gymnasiallehrer dauerhaft an der Förderschule zu unterrichten, weniger eine Ablehnung der dortigen Klientel als vielmehr eine Wertschätzung und Anerkenntnis der schwierigen Arbeit, die dort von den speziell ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen geleistet wird.

    Ich könnte das im übrigen auch nicht - nicht im Sinne von dass es mich Überwindung kostete, sondern dass mir dafür die Kenntnisse fehlten. Und das, obwohl ich eine Förderschule leite.

    „Think of how stupid the average person is, and realize half of them are stupider than this.“ - George Carlin

  • Ich sehe das auch so. ICH wäre die Zumutung, da ich nun wirklich keine Ahnung habe, wie der Dienst an einer GE-Schule abläuft. Mein Onkel war Lehrer an einer LE-Schule und wurde vor ein paar Jahren eine Zeitlang als Mobile Reserve an eine G-Schule abgeordnet. Er meinte, das sei eine völlig andere Welt gewesen und er fühlte sich völlig falsch, weil nicht dafür ausgebildet.

  • Das bedeutet aber gleichzeitig, dass Jeremy-Joel von der 23. Grundschule und Lydia aus der Astrid-Lindgren-Schule, die auch im 3. Schuljahr sind und leiden und ihre Umwelt tyrannisieren nicht diesen Platz haben können.

    Ich denke, daß sich an der Stelle schon die Einstellungen von Förder- und Regelschulkollegen unterscheiden. Nicht Jeremy-Joel und Lydia leiden. Sie haben nur den Förderbedarf.

    Die Leidenden sind alle anderen „normalen“ Schüler in der Klasse. Diese leiden unter der Tyrannei der „Verhaltensoriginellen“.

  • Wo habe ich denn so etwas behauptet?!

    Nirgends.

    Das ist jetzt wirklich mein allerletzter Versuch und auch nur, weil ich dich eigentlich mag Plattenspieler :*


    Das sind Unterschiede, aber imho keine prinzipiellen oder wesentlichen, und die speziellen Aufgabenbereiche lassen sich alle den Kernbereichen des Lehrerberufs zuordnen (Unterrichten, Erziehen, Beurteilen, Beraten, Innovieren).

    Da hast du das geschrieben. Du weisst schon, dass hier KuK mitschreiben, die in der Erwachsenenbildung tätig sind? Die erziehen nichts und niemanden. Was genau meinst du denn mit "Innovieren"? Ich behaupte, die meisten Fachlehrpersonen innovieren genau gar nichts, wenn ich überhaupt richtig verstehe, was du meinst. Wenn's um Änderungen in der Stundentafel bzw. dem Lehrplan geht, dann wird das an den jeweiligen Fachvorstand delegiert, der sich freiwillig dafür gemeldet hat und der bei uns in der Schweiz nota bene noch nicht mal Entlastungsstunden dafür bekommt. Weiss ich, weil ich mir den Fachvorstand Chemie mit einem Kollegen teile, ich bin für die FMS zuständig.


    Als Fachlehrperson am Gymnasium berate ich auch nur ausgesprochen selten im eigentlichen Sinne. Dafür ist die Klassenlehrperson zuständig, die im Idealfall meine diesbezügliche Meinung einholt. Wenn mich eine Schülerin oder ein Schüler explizit um Rat bezüglich der weiteren Ausbildungskarriere fragt, stehe ich selbstverständlich jederzeit zur Verfügung, das passiert jedoch ausgesprochen selten. Ich schwafle natürlich ständig irgendwas über das Leben im Allgemeinen im Fachunterricht, aber das ist mehr so allgemeine Lebensberatung um die mich eigentlich keiner gebeten hat. Wir haben vier explizit für entsprechende Probleme ausgebildete Kolleginnen und Kollegen, die für die allgemeine Beratung auch Entlastungsstunden bekommen. Not my buisiness.


    Im Idealfall funktionieren Gymnasiastinnen und Gymnasiasten tatsächlich einfach so. Es wird ja immer mal wieder behauptet, dass ein gewisser Intellekt auch Probleme im sozialen Bereich mit sich brächte, das ist aber absolut nicht so, ganz im Gegenteil. Ich mache seit 10 Jahren die Erfahrung "je schlauer, desto unproblematischer", sprich unsere A-Schülerinnen und Schüler (Schwerpunktfach Mathe und Physik) sind diejenigen, mit denen man neben dem Fachunterricht am wenigsten zu tun hat im Sinne von irgendwelche Wehwehchen verarzten. Mit denen sitzt man allenfalls in der Sonne und philosophiert vollkommen dekadent über denn tieferen Sinn des Lebens.


    Was mir aber regelmässig den Schweiss ins Gesicht treibt sind z. B. experimentelle Maturarbeiten. Da wird von jungen Menschen, die eigentlich noch keine Ahnung von irgendwas haben, abverlangt sie mögen eine wissenschaftliche Arbeit kurz vor Bachelor-Niveau verfassen, irgendwas, was pihaupts noch keiner vor ihnen so gemacht hat (steht so in unserem MA-Leitfaden), was natürlich vollkommener Quatsch ist, aber die nehmen das echt ernst. Also hockt man als betreuende Lehrperson Stunden um Stunden um Stunden daneben und zeigt wissenschaftliche Methoden, hilft bei der Recherche und Einordnung von Quellen, zeigt wie man Daten in Excel respektive R auswertet, bemüht sich um Durchblick bei der Interpretation des generierten Datenwusts, steht 2 Tage vor Abgabe der MA dann doch noch mal mit im Labor weil alles ganz anders rauskam, als man so gedacht hat, usw. usf.


    Das ist jetzt nur eines von ganz vielen ganz konkreten Beispielen, die dir an der Förderschule so ganz sicher noch nie begegnet sind. Ich habe dafür noch nie erlebt, dass Jugendliche morgens ohne Frühstück an die Schule kommen, weil Mutti daheim keine Brote schmiert. In dem Alter, in dem die zu uns kommen, holen die sich morgens das Brötli bei Coop Pronto, wenn's daheim keins gibt. Ich habe auch keine Jugendlichen denen man beibringen müsste, dass es nicht angebracht ist nur mit ner löchrigen Strumpfhose bekleidet an die Schule zu kommen. Das merken die selbst, dass das irgendwie schräg ist. Deren Probleme sind subtiler und erfordern subtilere Lösungen. Meist sind die Probleme auch gar nicht die Jugendlichen selbst sondern deren Eltern und man muss überlegen ob und wie man helfen kann die nötige Distanz herzustellen.


    Sehr oft führe ich allerdings akademische Diskussionen über den Sinn des Lebens im Allgemeinen, so ähnlich wie hier im Lehrerforum. Da geht es nicht um irgendeine existenzielle Bedrohungslage sondern dass eins meint, man müsse doch am Gymnasium auch mal anschauen wie man eine Steuererklärung ausfüllt. Oder dass das jetzt aber schon ganz schlimm sei, im Klassenlager, dass wir gestern bei der Migros eine Packung Minze gekauft haben die wir heute gar nicht verkocht haben und die jetzt leider im Müll landet weil sie sonst eh nur vergammelt.


    Das sind wirklich komplett andere Themen mit denen ich tagtäglich konfrontiert bin. Ich meine ich habe schon mehrfach erwähnt, dass ich selbst aus dem absoluten Ghetto gekrochen komme aber ich habe ehrlich keine Lust mich in meinem Berufsleben weiter mit diesem zu beschäftigen. Die intellektuelle Dekadenz hat auch ein Recht darauf beschult und begleitet zu werden. Für die möchte ich zuständig sein und ich glaube, das kann ich sehr gut. Ich habe grossen Respekt vor all jenen, die sich um die weniger Privilegierten kümmern und auch die auf den Weg bringen. Ich bin froh und ewig dankbar dafür, dass es eine Lehrperson in meinem Leben gab, die mich auf den Weg gebracht hat. Ich könnte neben meiner Mutter hier auch einen Namen nennen, die Person ist allerdings leider früh verstorben, sie würde es also sicher nicht mehr lesen. Meine Berufung ist das aber nicht.

  • Ich denke, daß sich an der Stelle schon die Einstellungen von Förder- und Regelschulkollegen unterscheiden. Nicht Jeremy-Joel und Lydia leiden.

    Na danke, ich kann schon trotzdem erkennen, dass die "Verhaltensangepassten" leiden.

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

  • ich kann schon trotzdem erkennen, dass die "Verhaltensangepassten" leiden.

    Dann bist Du aber eine der ganz Wenigen. Uns Regelschullehrern wird doch auch hier im Forum immer erzählt welche Bereicherung inkludierender Unterricht für die normalen Schüler doch sei.

  • Dann bist Du aber eine der ganz Wenigen. Uns Regelschullehrern wird doch auch hier im Forum immer erzählt welche Bereicherung inkludierender Unterricht für die normalen Schüler doch sei.

    Hier im Forum erzählt das eigentlich kaum jemand, dieses Narrativ kommt in der Regel von Personen, die mit der praktischen Umsetzung Ihrer Ideen nichts zu tun haben.

  • Ich denke, daß sich an der Stelle schon die Einstellungen von Förder- und Regelschulkollegen unterscheiden. Nicht Jeremy-Joel und Lydia leiden. Sie haben nur den Förderbedarf.

    Die Leidenden sind alle anderen „normalen“ Schüler in der Klasse. Diese leiden unter der Tyrannei der „Verhaltensoriginellen“.

    Also wenn, dann nicht die Einstellung, sondern das Wissen darum, auf welche Weise die Kinder zu Hause psychisch und physisch misshandelt werden. Außerdem habe ich bewusst von Leiden und Tyrannisieren anderer gesprochen, das hast du möglicherweise überlesen. Und ob die beiden Genannten nicht auch unter den Verhalten des anderen leiden, wenn man sie in eine Klasse setzt, müsstest du mal noch erklären, aber das ist wieder der Aspekt, was bringt die Förderschule den Kindern mit Förderbedarf.


    Mir ging es aber um theoretische Überlegungen zu den Konstrukten 'Behinderung' und 'Förderschule' und 'Schulart'. Förderbedarf ist nicht dasselbe wie Behinderung. Manche SuS haben ganz offiziell keine Behinderung mehr, sobald sie die Förderschule verlassen und mancher mit Behinderung benötigt keine besonderen Lernbedingungen.


    Und manche Lehrkraft denkt, dass eigenbrödlerisches Verhalten Autismus sein muss. Das nur zur Diagnostik und Definition von Störungen im Allgemeinen.

  • Ich habe aktuell auch einen sehr verhaltensauffälligen Schüler und er leidet definitiv auch an seinem Verhalten, kann es aber nur zeitweise abstellen. Er reagiert mitunter sehr aggressiv, sehr eigenartig (unkontrolliert) und ist anschließend todunglücklich. Aber gerade er zeigt, dass wir am Gymnasium nicht ausreichend für ihn tun können. Viele Kollegen haben absolut kein Verständnis, andere bemühen sich. Aber bei über Dutzend verschiedenen Kollegen und vielen Vorfällen verliert jeder den Überblick (und reagiert dann unpassend).


    Gymnasien sind halt irgendwie Massenbetrieb. Die Schüler haben viele Kollegen teilweise nur eine Stunde pro Woche, wir Lehrer viele Schüler (2 Klassen habe ich jeweils nur eine Stunde pro Woche). Bei ca. 30 Schüler pro Klasse kann ich mich nicht jedem einzelnen so widmen wie er es braucht, wie ich es gerne möchte.

    Meine Beiträge werden auf einer winzigen Tastatur eines Tablets mit Autokorrektur geschrieben. Bitte entschuldigt Tippfehler. :mad:

  • Beiträge die Menschen mit Behinderung /SuS mit Förderbedarfen als nicht - normal bezeichnen würden von mir gemeldet.

    SuS mit Förderbedarfen sind normale Menschen und normale SuS.

    Ich bitte dringend darum diese diskriminierende Ausdrucksweise zu beenden.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Quittengelee

    Zu Autismus in den verschiedensten Formen hatten wir mehrfach eine Fortbildung. Alle unsere Autisten waren offiziell anerkannt (deshalb erhielten wir auch jedes Mal weitere Informationen zu dem konkreten Fall).


    Mag sein, dass ein einzelner Kollege mal blöd daher quatscht, aber er wird sofort von Kollegen korrigiert. Es ist nicht so, dass wir gar keine Ahnung haben.

    Meine Beiträge werden auf einer winzigen Tastatur eines Tablets mit Autokorrektur geschrieben. Bitte entschuldigt Tippfehler. :mad:

    • Offizieller Beitrag

    Beiträge die Menschen mit Behinderung /SuS mit Förderbedarfen als nicht - normal bezeichnen würden von mir gemeldet.

    SuS mit Förderbedarfen sind normale Menschen und normale SuS.

    Ich bitte dringend darum diese diskriminierende Ausdrucksweise zu beenden.

    Vielleicht passt hier "beeinträchtigt" und "nicht-beeinträchtigt" besser?

    Gleichzeitig finde ich Euphemismen wie "verhaltenskreativ" oder "verhaltensoriginell", wie sie hier gefallen sind, problematisch, weil sie sie einen Zynismus innerhalb der politischen Korrektheit, die uns ja (scheinbar) zu exklusiv positiven Formulierungen zwingt, darstellen.


    Trotzdem benötigen wir Termini, die die entsprechenden Auffälligkeiten beschreiben - im Idealfall nicht wertend, aber dennoch in der Sache zutreffend.

  • Vielleicht passt hier "beeinträchtigt" und "nicht-beeinträchtigt" besser?

    Gleichzeitig finde ich Euphemismen wie "verhaltenskreativ" oder "verhaltensoriginell", wie sie hier gefallen sind, problematisch, weil sie sie einen Zynismus innerhalb der politischen Korrektheit, die uns ja (scheinbar) zu exklusiv positiven Formulierungen zwingt, darstellen.


    Trotzdem benötigen wir Termini, die die entsprechenden Auffälligkeiten beschreiben - im Idealfall nicht wertend, aber dennoch in der Sache zutreffend.

    Persönlich finde ich, dass "behindert" und "nicht-behindert" in vielen Fällen völlig ausreichende Beschreibungen sind, solange man sich nicht die Unsitte mancher Mitmenschen zu eigen macht, das Wort "behindert" als Synonym für "dumm" zu verwenden (was ich auch schon bei Kollegen- nur männlich- bemerkt und kritisch angemerkt habe). Je nach Kontext kann ich persönlich aber auch mit "beeinträchtigt" und "nicht-beeinträchtigt" sehr gut leben. Beide Formulierungen erfordern es aber wie ich finde in besonderem Maße bewusst zu reflektieren, ob man gerade über einen Kontext spricht, in dem ein behinderter Mensch tatsächlich behindert ist/wird bzw. beeinträchtigt wird/ist oder eben nicht. Auch ein Mensch mit GdB 100 ist schließlich regelmäßig nicht in jeder Situation oder zwischenmenschlichen Interaktion beeinträchtigt/behindert.


    Deine Anmerkungen zu "verhaltenskreativ" oder "verhaltensoriginell" teile ich bezogen auf die Weise, wie die Formulierungen hier im Thread speziell vom User Plattyplus verwendet wurden.

    Wer im Übrigen meint, das Wort "behindert" sei eine exklusiv positive Formulierung möge sich überlegen, wie es sich anfühlen würde, dieses Label in unserer Gesellschaft tagtäglich tragen zu müssen/zu tragen. Ich persönlich habe es mir rund ein Jahr lang nachdem ein Arzt mir den Antrag eines GdB vorgeschlagen hatte überlegt, ob ich das machen möchte, weil ich wusste, dass das angesichts des gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit dem Thema ein Stigma ist, welches ich lebenslang zu tragen hätte (wobei ich heutzutage gelernt habe zu mir zu stehen und vor allem auch für mich und andere Menschen mit Behinderung zu kämpfen). So krank zu sein, dass man einen GdB erlangen könnte ist bereits schwer genug, dieses Label offiziell zu tragen wird einem aber zusätzlich erschwert, nicht zuletzt auch, weil es Lehrkräfte gibt, die weiterhin Menschen mit Behinderung als unnormal ansehen/bezeichnen und diese Haltung weitertragen, statt ihr entschieden entgegenzutreten.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Deine Anmerkungen zu "verhaltenskreativ" oder "verhaltensoriginell" teile ich bezogen auf die Weise, wie die Formulierungen hier im Thread speziell vom User Plattyplus verwendet wurden.

    Ich habe mit dem Begriff „verhaltensoriginell“ in diesem Thread nicht angefangen. Da der Begriff von anderen Usern bereits genutzt wurde, bin ich dieser etablierten Titulierung im Sinne der political correctness gefolgt.

    • Offizieller Beitrag

    Ich habe mit dem Begriff „verhaltensoriginell“ in diesem Thread nicht angefangen. Da der Begriff von anderen Usern bereits genutzt wurde, bin ich dieser etablierten Titulierung im Sinne der political correctness gefolgt.

    Ist das in diesem Fall wirklich politisch korrekt, wenn klar ist, dass das alles andere als "wertschätzend" gemeint ist?

  • Ich wäre für „Systemsprenger“, sie sprengen das System Regelschule zu Lasten aller Beteiligten (ggf. außer ihnen selber).


    Auch ganz treffend: https://images.app.goo.gl/C8i6KHfwSsQWDotK7

    Nicht jeder Mensch mit Behinderung fällt unter die Bezeichnung "Systemsprenger", ebenso wenig wie man Förderschüler:innen qua Förderstatus per se derart bezeichnen könnte. Tatsächlich betrachte ich einen Begriff wie "Systemsprenger" vor allem als Kritik an einem System, welches offenbar den Bedürfnissen mancher Kinder und Jugendlicher nicht gerecht wird und diese zwar gerne labelt und in Schubladen packt, aber keine adäquaten Lösungen anzubieten hat für manche Kinder/Jugendliche. Kinder und Jugendliche die das System "sprengen" sind insofern vor allem ein Appell an uns, die Teil des Systems Schule sind, dass wir dieses verändern müssen, um auch solche Kinder/Jugendliche erziehen/fördern/unterrichten zu können, für die es womöglich tatsächlich aktuell an keiner Schulart einen passenden Schulplatz gibt.


    Dies geschrieben habe ich an meiner Refschule einen Praktikanten (erstes Orientierungspraktikum im Lehramststudium) kennengelernt, der mir irgendwann (und wiederholt) sehr negativ aufgefallen ist aufgrund seiner von negativen Stereotypen geprägten Haltung bezogen auf SuS mit Behinderung im Allgemeinen, sowie Inklusion im Besonderen. Ich habe dann das Gespräch mit ihm gesucht und konnte ihn dadurch erreichen, dass ich ihm gegenüber erst einmal deutlich gemacht habe, dass auch ich schwerbehindert sei, so wie die SuS, über die er so pauschal qua Status als Behinderte urteilte. Daraus haben sich dann tatsächlich konstruktive Gespräche ergeben, in deren Verlauf er mir offenbart hat, dass er selbst von der Grundschule an eine Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung (Esent) gekommen war für drei Jahre (wobei er zunächst selbst als sogenannter "Systemsprenger" betrachtet, bezeichnet und behandelt wurde), eher er über einen Hauptschulabschluss den Weg an die zweijährige Realschule und sodann ans berufliche Gymnasium bis eben ins Studium gefunden habe. Den Weg von der Hauptschule bis ins Studium meinte er, würde er einem Lehrer verdanken, der ihn noch an der Förderschule kennengelernt und an ihn geglaubt und ihn motiviert hatte. Dieser Lehrer kam wohl zeitgleich mit ihm an die Hauptschule und hat ihm dann Mut gemacht, an sein Potential zu glauben und sich nicht von seinem Förderstatus für den Rest seines Lebens definieren zu lassen. Auch sogenannte "Systemsprenger" sind also nicht per se verloren für eine gesellschaftliche Integration, sondern können mittels entsprechender Förderung und Begleitung für sie selbst gesündere Wege einzuschlagen lernen.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

  • Ist das in diesem Fall wirklich politisch korrekt, wenn klar ist, dass das alles andere als "wertschätzend" gemeint ist?

    Das hängt davon ab, was man unter "political correctness" versteht - Form, Inhalt und/oder dahinter stehende Intention. Ich habe schon Kritiken des Konzepts gelesen, die hervorheben, dass A geschrieben werde, um negatives Feedback zu vermeiden, aber tatsächlich B gemeint sei.

    Im Grunde lässt sich die Intention nur dann kennen, wenn man eine Person oder dessen Beiträge in ausreichendem Maße kennt, um beurteilen zu können, ob sowas wie "verhaltenskreativ" wertverschätzend oder neutral oder ablehnend gemeint ist.

  • ...Auch sogenannte "Systemsprenger" sind also nicht per se verloren für eine gesellschaftliche Integration, sondern können mittels entsprechender Förderung und Begleitung für sie selbst gesündere Wege einzuschlagen lernen.

    Die Frage wäre, ob die Erziehungshilfeschule der Ort war, an dem ihm auf diesen Weg geholfen wurde, ob es die Hauptschule war, oder 'dieser eine Lehrer'? Und was wäre, wenn er in seiner Grundschulklasse verblieben wäre? Kann man für diese Person natürlich nur spekulieren, aber sollte man sich generell fragen, ob es am Ende nur auf den einen Lehrer ankommt. Wäre wiederum ein klassischer Burnoutfaktor, weil dann müsste man sich als Lehrkraft auch verantwortlich machen lassen für diejenigen, die ohne Schulabschluss im Knast landen. Klar, wir arbeiten immer als Menschen mit Menschen aber wir sind auch professionell und unterrichten und fördern unter bestimmten Rahmenbedingungen.


    Kris24 Es ging auch nur um einzelne Sichtweisen und ist überhaupt kein Angriff auf alle Lehrkräfte an Grund- und weiterführenden Schulen der Bumdesepublik. Davon abgesehen, Autismus diagnostiziert sowieso keine Lehrperson, egal von welcher Schulart. Der Punkt ist, dass 'Förderschüler zu sein' ein aushandelbares Konstrukt ist. Unter anderem von den Diagnostizierenden abhängig, von Rahmenbedingungen wie freien Plätzen, bundeslandspezifischen Regelungen, Elternwille und auch, wie sehr ein Kind andere behindert. Wird ja hier oft genug geschrieben, der Rollstuhl ist nicht das Problem, das unkontrollierbare Verhalten schon.



    Ich las z.B. kürzlich, dass in Salzburg der diagnostizierte Förderbedarf stark gestiegen ist und man noch nicht weiß, warum das so ist. Dass wirklich plötzlich sehr viel mehr Kinder mit Behinderungen ausschließlich in Salzburg geboren wurden, ist doch eher unwahrscheinlich:


    https://salzburg.orf.at/stories/3189225/

  • Schüler mit Förderbedarf im sozial-emotionalen Bereich sind v.a. ganz arme Wurtschele, denen in der (Klein-) Kindheit übel mitgespielt wurde. Die einen reagieren mit Verhaltensstörungen, die man nicht übersehen kann, die andren werden eher still.

    Mit diesem Verhalten können sie keine Systeme sprengen (anbei finde ich den Begriff unpassend, weil martialisch), wohl aber Menschen an ihre Grenzen bringen, so wie sie selbst mehrfach Behandlung erfahren haben.

    Wie wir relative Normalos damit umgehen, darum sollte es gehen. In erster Linie sind es Kinder und Jugendliche. Aus.

    Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert.

    Aldous Huxley

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