Hallo Leute,
ich weiß mir gerade nicht anders zu helfen und muss hier mal was los werden.
Ich möchte von meiner Schule erzählen, da ich gerne wüsste, ob das woanders auch so ist, ob dort Lösungen gefunden wurden oder jemand eine Idee hat, wie man hier vorgehen könnte.
Ich bin seit einigen Jahren LehrerIn an einer Gesamtschule im Ruhrgebiet (6-zügig in den meisten Jahrgängen, etwas über tausend SchülerInnen). Unsere Schule hat den Standorttyp 5 (Schulleitung sagt auch gerne mal 5+, ich wünschte, ich könnte das noch witzig finden...), einen sehr hohen Anteil an sozioökonomisch schlecht gestellten SchülerInnen aus eher bildungsfernen Haushalten. Seit ich hier bin eine Riesenbaustelle. Schlechte Ausstattung was Lehrmaterial angeht, digitale Lehrmaterialien und Geräte sehr spärlich, häufig defekt. Organisatorisch und kommunikativ ist es "von oben nach unten" auch nicht optimal und häufig sehr chaotisch. Das sind keine tollen Voraussetzungen, aber das ist ok, habe gute Erfahrungen an einer anderen Schule mit ähnlichem Standorttyp und Voraussetzungen gemacht. Aber hier bin ich in einer anderen Welt...
Ich denke, dass einige Sachen nicht mehr "normal" bzw. an anderen Schulen nicht in dieser Art vorkommen (vielleicht dazu mal eure Meinung):
- Die SchülerInnen haben keine Motivation, keine Ambition; der Lehrer ist der "Feind" und Unterricht wird bewusst sabotiert;
- jeder Versuch den Unterricht besonders, motivierend, methodisch abwechslungsreich zu gestalten, wird mit absolutem Desinteresse bis hin zur Boykottierung quittiert.
- Selbstständiges Arbeiten ist nicht möglich. Jede Freiheit wird ausgenutzt, um destruktiv zu handeln.
- Respektlosigkeit ggü. MitschülerInnen und LehrerInnen, dem Inventar und auch sich selbst. Mobbing, Schlägereien und andere Auseinandersetzungen (auch mit Waffen, wie z.B. Messer oder Schlagring) sind an der Tagesordnung. Inventar der Schule (Schränke, Tische, Stühle, Tafeln, ...) wird zerstört, gestohlen, versteckt, verschmutzt. TäterInnen lassen sich meist nicht feststellen bzw. werden gedeckt. Keine Aussichten und Pläne für das eigene Leben, hygienische Vernachlässigung, Drogen, Leben "nur für den Moment".
- Kein Pflichtbewusstsein, ständiges Zu-spät-kommen ohne Begründung, für welches LehrerInnen Verständnis und Nachsicht aufbringen sollen. Termine (Sprechtage, Abgaben,...) werden selten eingehalten, sollte es dadurch zu Problemen kommen, ist natürlich die Lehrkraft schuld. SchülerInnen kommen in und verlassen den Unterricht, wie es Ihnen gefällt.
- Nationalismus und religiöser Extremismus, der offen und mit Stolz zur Schau gestellt wird. Diskriminierung Andersdenkender.
- Pädagogische Gespräche sind aufgrund der Anti-Haltung der SchülerInnen meist nicht möglich oder fruchtlos, auch wenn Profis (Soz.Päd.; Schulsozialarbeiter) im multiprofessionellem Team zu vermitteln versuchen.
- Gespräche mit Eltern scheitern an Sprachbarrieren oder stoßen auf taube Ohren und ziehen ggf. eine Beschwerde bei der Schulleitung nach sich. Sollten die Eltern doch versuchen erzieherischen Einfluss zu nehmen, resultiert das in sehr temporären minimalen Verhaltensänderungen (keine Woche). Machtlose, kraftlose Eltern, die ihr Kind aufgegeben haben... (mein Eindruck)
- Noten, Tadel, Ordnungsmaßnahmen spielen keine Rolle und sind für die SchülerInnen bedeutungslos und ohne Konsequenzen (Zitat bzgl. einer Wiedergutmachung, also entweder ersetzen oder Ordnungsmaßnahme "Nimm' Ordnungsmaßnahme, dann kriegst du schulfrei!"). Gespräche betreffs Ordnungsmaßnahmen, zu denen SchülerInnen und Eltern eingeladen werden, scheitern am Fehlen der Gäste.
Jede Unterrichtsstunde ist ein gefühlter "Kampf" und strengt ungemein an. Dazu ist die Respektlosigkeit sehr belastend, vor allem, wenn man seine Autorität und sein Gesicht wahren möchte. Die Anti-Haltung der Schüler geht langsam auch auf mich über ("Warum soll ich eine schöne, interessante Stunde vorbereiten? Wird doch sowieso nichts."; was sich leider dann auch bewahrheitet). Unsere Schulleitung macht den Eindruck, dass sie der Masse an Problemen nicht mehr gewachsen ist und auch langsam resigniert.
Besonders traurig macht, dass man den SchülerInnen (scheinbar?) nicht bewusst machen kann, dass Schule auch schön, interessant und "lehrreich" sein kann. Natürlich gibt es auch motivierte und nette SchülerInnen, diese haben dann aber unter der Antipathie der MitschülerInnen zu leiden. Sie werden im wahrsten Sinne des Wortes zu "Opfern".
Ich halte mich für eine pflichtbewusste, starke Person mit gutem Durchhaltevermögen und erledige alle Aufgaben und Sondertätigkeiten nach bestem Wissen und Gewissen. Ich habe mir den Respekt der meisten SchülerInnen hart erarbeitet und versuche täglich den Level an Respekt zu erhalten (verteidigen?). Ich gebe mir Mühe optimistisch zu bleiben, aber die tägliche Enttäuschung zehrt einen langsam auf. Ich merke, dass ich immer weniger Kraft habe und weiß (noch) nicht, wie das weitergehen (enden?) soll.
Zum Ende noch ein paar Anekdoten, die das oben Geschriebene unterstreichen. Was jetzt folgt sind Tatsachen... LehrerInnen aus dem Bekanntenkreis können diese Begebenheiten nicht glauben und reagieren mit Schrecken, Mitgefühl, aber auch mit Zweifel. Das kann ich verstehen, nur dass ich diese Umstände jeden Schultag vor Augen habe.
- Aufgrund erheblicher Verschmutzung der Schultoiletten (Fäkalien an den Wänden, mit Klopapier verstopfte Toiletten) sind die Toiletten nur noch mit ausleihbarem Schlüssel zu betreten. Konsequenz: Die SchülerInnen erleichtern sich im Treppenhaus.
- Schüler unter offensichtlichem Drogeneinfluss geht auf eine Lehrkraft los, welche sich in einen Klassenraum flüchtet und sich einschließt. Vater des Schülers wird dazu geholt und muss sein Kind mit nach Hause nehmen. Konsequenz: Vater beschwert sich, dass er angerufen wird und zur Schule kommen muss. Schüler, kehrt nach drei Tagen Ausschluss zurück und lässt sich von MitschülerInnen feiern.
- Wasserpistolen werden mit Urin gefüllt und auf MitschülerInnen gespritzt.
- Lehrkraft wird unterstellt, "ungläubig" zu sein. Letzter Satz: "Sie kommen sowieso in die Hölle!"
- Im Werkunterricht wird versucht, anstatt Klingelschildern Schlagringe und Stichwaffen zu basteln.
Ich könnte noch mehr berichten, aber ich möchte hier natürlich anonym bleiben.
Nur das Kollegium hält zusammen und versucht, sich gegenseitig Kraft zugeben. Aber wir alle gehen auf dem Zahnfleisch und merken, dass die ganze Sache hier eine gefährliche Dynamik entwickelt. Einige Kollegen wurden schon krank und mussten uns verlassen. Andere sind "geflüchtet", haben dabei sogar vertragliche Verpflichtungen missachtet, weil es "einfach nicht auszuhalten ist".
Gibt es hier Leute, die ähnliche Erfahrungen machen mussten? Hat jemand einen Vorschlag, was man hier machen könnte?