Meine Eltern haben den Krieg als Kinder miterlebt - wie beeinflusst das mein heutiges Denken und Urteilen?

  • Die Geschichten, von denen @samu schreibt, kenne ich auch, mal erzählt, mal angedeutet,

    die einen sind geflohen, die anderen nicht, aber brennende Städte, Ruinen und der Hungerwinter war dennoch schrecklich.


    Silvesterböller finden übrigens auch Menschen schrecklich, die in anderen Ländern in anderen Jahren im Krieg waren ... und ich hatte mich schon sehr über das Verbot in NDS gefreut, aber leider kam es ja zur Klage.

  • Eine Zeitlang hat meine Oma die Kinder mit Klamotten und Schuhen ins Bett gelegt, damit man schneller in den Luftschutzkeller kam. Ich denke mir das sinnbildlich so: wer es geschafft hat, achtsam zu sein aka nicht durchzudrehen und im Luftschutzkeller Kinderlieder zu singen, der hat seine Kinder halbwegs unbeschadet durch deren Kindheit gebracht.

  • Wir durften zuletzt auf dem Schulhof keine Knallgasballons mehr zünden weil es zu Beschwerden aus dem Bundesasylzentrum direkt gegenüber kam. Gut für uns ist aus dem Bundesasylzentrum jetzt die Corona-Teststation geworden ;)


    Ich hatte sowohl in Genf an der Uni als auch an meiner ersten Schule im Aargau Kollegen, die aus Bosnien geflohen waren. Ich habe mit beiden mehr als einmal zusammen geweint. Krieg zerstört einfach nachhaltig Seelen.

  • Danke für den Link, die Doku hatte ich neulich zufällig mal gesehen...

    ... Ich assimiliere nicht, ich bleibe wer ich bin und nehme das dazu, was hier ist.

    So soll es sein, dass wir auch die Stärke erkennen und mitnehmen, die unsere Vorfahren hatten und auf ihre Weise zu vermitteln versuchten<3

  • Wunderbarer Beitrag, @samu !

    Ich lese das und fühle mich so unglaublich verstanden! :troest:

    Danke dir dafür! :rose:

  • Ich lese das und fühle mich so unglaublich verstanden! :troest:

    So ging's mir, als ich das erste Mal mit anderen "Kriegsenkeln" gesprochen habe. Unglaublich, dass wildfremde Menschen ähnliche Erinnerungen haben. Und erst seit 15 Jahren oder so überhaupt darüber gesprochen wird. Also nicht nur die 68er, die die Schuld thematisieren mussten, das Spießbürgerliche nicht ertragen haben, sondern auch die Erkenntnis, dass unsere Eltern Opfer waren und kaum einer gesprochen hat, weil war ja nix Besonderes, ging ja jedem so. Andere hatten's ja noch schwerer.



    Und das:

    ... Kein Entsetzen, keine Resignation... eher so eine völlig unpassende Sachlichkeit.

    Traumatisierung, Abspaltung. Und da soll man seine Kinder irgendwie normal erziehen.

    • Offizieller Beitrag

    Was ich abseits der traumatischen Gewalt- und Kriegserfahrung besonders tragisch finde, ist, dass drei ganze Generationen (Eltern der Kriegsgeneration, die Kriegsgeneration, deren Kinder) mitunter um ihr Lebensglück betrogen wurden - ungeachtet dessen, ob sie im Krieg umkamen oder nicht.

    Meine Großmutter hatte ihren ersten Mann und ihren Bruder im Krieg verloren - ihr erster Mann war und blieb ihre einzige Liebe. Ihren zweiten Mann, meinen Großvater, hatte sie nach eigenem Bekunden nur geheiratet, weil sie noch Kinder wollte. Nach seinem Tod Mitte der 70er war sie alleine geblieben und teils unfähig oder unwillig, sich noch einmal zu binden. Die emotionalen Päckchen, die sie mit sich herumtrug, wirken bis heute fort, auch in der Familie meiner Frau gab es ein zentrales Trauma, das bis heute nachwirkt. Wir sind uns beide dessen bewusst und arbeiten tagtäglich daran, diese Traumata und Päckchen nicht an unsere drei Kinder weiterzugeben. Ich glaube, wir sind damit ganz erfolgreich, aber es erfordert eine Menge Kraft und eine ständige Auseinandersetzung mit sich und der eigenen Familienbiographie.

    Natürlich beeinflusst das auch meine Arbeit als Geschichtslehrer. Ich lasse viele Aspekte meiner Familiengeschichte in den Unterricht einfließen - ich schreibe den Stammbaum meiner Großmutter auf (sie war Vierteljüdin), um an einem konkreten Beispiel zu zeigen, wie die Nazis vorgegangen sind. Ich weiß, dass Verfehlungen womöglich erst eine oder zwei Generationen später "geheilt" oder "vergeben" werden. Ich weiß, dass politische Bildung heute ungeheuer wichtig ist und vermittele das entsprechend in meinem Unterricht.

    Und ich verachte Menschen, die eine Legitimation dafür finden, darüber nachzudenken oder aktiv daran zu arbeiten, anderen Menschen noch einmal so etwas anzutun.

  • Ach herrje, jetzt ist mir doch noch eine Marotte in den Sinn gekommen, die ich lange von meiner mir unbekannten Grossmutter übernommen hatte: Du musst das Haus aufgeräumt verlassen, man weiss ja nie, ob man am Abend noch zurück kommt und was denken denn dann die Leute. Ich habe irgendwann mal beschlossen sowas von auf die Leute zu scheissen und lasse seither grad extra jeden morgen meine Kaffeetasse auf dem Tisch stehen :teufel:

  • Du musst das Haus aufgeräumt verlassen, man weiss ja nie, ob man am Abend noch zurück kommt


    Vor etwa 25 Jahren hatte wir hier im Raum Aachen nachts ein Erdbeben (Epizentrum irgendwo bei Heinsberg). Innerhalb von geschätzt zwei Minuten waren wir mit unseren vier Kindern im Bulli unterwegs Richtung Polizeipräsidium, um Aufklärung zu bekommen. Ich war da noch der festen Überzeugung, dass da auf der Raketenbasis Nörvenich son scheiß A-Bömbchen hochgegangen war. Da hatte ich GENAU DAS Gefühl wie deine Großmutter.

    #Zesame:!:


    Konzentrieren Sie sich ganz auf den Text, wenden Sie das Ganze auf sich selbst an. (J.A. Bengel)

  • Meine Eltern sind nach dem Krieg geboren, aber ich gucke trotzdem immer mein Essen genau an und schmeiße nur die halbe Birne oder ein paar Heidelbeeren oder so weg...


    Aber auch da bin ich froh mal etwas mehr aus deren Geschichte erfahren zu haben, als damals als Kind. Vor kurzem erst hat mir meine Mama erzählt wie es war mit 16 endlich aus Ostpreußen ausreisen zu dürfen, alles verlassen zu müssen, hier aufs Internat (Förderschule zum Erlernen der Deutschen Sprache) gehen zu müssen.

    https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44914326.html Der Artikel spiegelt es etwas wieder, aber meine Mutter hatte Glück, dass zu Hause im Normalfall deutsch gesprochen wurde.


    Mein Vater kam mit 4 nach Deutschland. Eine lange Reise von NW-Russland (Komi) über einen Familienbesuch in der DDR mit Ausflug nach Berlin und Flucht über die Grenze.

    So ganz habe ich bis heute nicht verstanden wie die Familie damals dort gelandet ist. Ein Teil wohl vor dem 2. WK und mein Opa hat dann dort meine Oma kennengelernt.


    Was ich sagen will? Ich glaube sparsames Verhalten oder auch andere Macken liegen auch viel in der Familie allgemein. Ich oder meine Eltern hab jedenfalls einigen von denen, die ihr aufgelistet habt, obwohl meine Eltern den Krieg nur aus Erzählungen kennen und meine Großeltern ihn auch nicht hier erlebt haben.

    Only Robinson Crusoe had everything done by Friday.

  • Meine Eltern wurde beide nach dem Krieg geboren, aber meine Großeltern haben den Krieg als junge Erwachsene miterlebt.

    "Kein Essen verschwenden" ist sicher das, was mich am meisten geprägt hat. HEUTE schaffe ich es, wenn ein Apfel fault, den ganzen Apfel wegzuschmeißen und nicht nur den verfaulten Teil. Interessanterweise habe ich damit in der Schwangerschaft angefangen, weil ich keinen Durchfall bekommen wollte, mit dem ich dann ohne Medikamente fertig werden musste. Nach der Schwangerschaft habe ich damit weiter gemacht, hauptsächlich, weil ich da ziemlich krank war. Aber ich bin dabei geblieben. Wenn der Apfel anfängt zu faulen, dann schmeiße ich ihn weg. Auch sonstige übrig gebliebenes Essen schmeiße ich inzwischen "einfacher" weg, als noch vor 7 Jahren.

    Mit Geld bin ich auch sehr vorsichtig und ein Satz meiner Oma hat sich bei mir unglaublich festgesetz:"Wenn du Geld hast, dann inverstiere es in Land. Das ist das einzige, was immer bleibt."


    Angst vor Krieg hatte ich selber sehr lange auch. Wenn nachts Flugzeuge über unser Haus geflogen sind, dachte ich immer, dass gleich irgendwann Bomben fallen müssen. Das kam sicher durch Erzählungen der Großeltern. Das wurde allerdings im Teenageralter deutlich besser, vermutlich, weil wir mir da klar war, dass nicht "einfach so" Bomben auf unser Haus geschmissen werden. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang allerdings an eine Situation, in der ich 14 war und mein Bruder 10. Wir waren zusammen im Keller (keine Ahnung mehr warum) und plötzlich haben Sirenen geheult. Es handelte sich dabei um einen Feuerarlarm und mir war das auch klar, meinem jüngeren Bruder allerdings nicht. Er hat sich furchtbar an mir festgeklammert und geweint, bis die Sirenen wieder aus waren. Interessant ist hier vermutlich noch, dass unser Vater bei der Feuerwehr war, wir also bei allem was mit "Alarm" zu tun hatte, eigentlich von klein auf an wirklich gut informiert waren. Wir wussten, wenn die Sirenen losgehen, muss Papa los, aber er hat eine Schutzausrüstung und trainiert regelmäßig für Einsätze, es kann nichts passieren. Aber die Erzählungen der Großeltern vom Fliegeralarm waren so prägend, dass wir trotzdem (bis zu einem gewissen Alter) wahnsinnige Angst hatten.

    • Offizieller Beitrag

    Meine Eltern sind zwar beide im Krieg geboren, waren aber bei Kriegsende noch sehr jung. Da fehlte einfach die Erinnerung.

    Mein Großvater mütterlicherseits war "wichtig" und war nicht im Krieg. (Es gab da damals einen Begriff, so wie heute "systemrelevant"). Er ist aber auch schon vor meiner Geburt gestorben.

    Mein Großvater väterlicherseits war im Krieg bei der Marine. Er hat mir eine handvoll Geschichten erzählt, ich gebe aber zu, dass es mich nicht so interessiert hat. Als Kind.


    Ein beinahe einschneidendes Erlebnis hatte ich in den 90ern beim Jobben. Es war in einer Alten-WG, ich war zur über nacht-Betreuung da. Eine Frau klingelte jede Nacht, zeigte (wenn ich reinkam) aus dem Fenster und fragte "Was ist das?" Draußen vorm Fenster ragte in einiger Entfernung der Lichtstrahl einer Disco zu Werbezwecken in den Himmel. Ich habe eine zeitlang gebraucht (weil der Krieg mit seinem Leid für mich nie wirklich ein Thema war) bis ich verstanden habe, warum der Lichtstrahl sie ängstigte. 50 Jahre nach Kriegsende.


    Aber ihr macht mich nachdenklich. Ich bin sehr pazifistisch erzogen worden (meine Eltern ist nicht ein einziges Mal die Hand ausgerutscht, z. B.). Beim nächsten Telefonat mit meinem Vater und meiner Mutter frage ich Sie mal, woran das lag.


    Kl.gr.Frosch

  • Meine Eltern sind zwar beide im Krieg geboren, waren aber bei Kriegsende noch sehr jung. Da fehlte einfach die Erinnerung.

    Bist du sicher, dass sie sich nicht erinnern?

    Brennende Ruinen und Bombenalarm im Keller sind offenbar so einschneidend, dass auch sehr junge Kinder daran später oft Erinnerungen haben.

    Danach kam der Umgang mit Aliierten, Heimkehrern ... und wie lange waren noch Kriegsgefangene in Deutschland?

  • Kann man die ganzen Kriegsauswirkungen nicht auch positiv für sich umdrehen? Meine Oma stammt aus ganz kleinen Verhältnissen, mit 16 ist sie von zu Hause weg "in Stellung', damit die einen Fresser weniger haben. Später wurde sie mit 27 Kriegswitwe, mit meinem Vater schwanger, meine Tante war da 2. Sie hat nie mehr einen Partner gehabt, war eine unglaublich toughe und selbständige Frau. Ihre Kinder hat sie alleinerziehend als Näherin in Heimarbeit durchgebracht, hat versucht, ihren Kindern gute Bildungschancen zu ermöglichen. Mein Vater, Jahrgang 1942, war der erste, der in seiner Familie Abitur gemacht und studiert hat. Klar, meine Oma war absolut von der Sorte "nix verkomme lasse", sie hat tatsächlich sogar Geschenkpapier gebügelt und wiederverwendet. Außerdem war sie aus meiner damaligen Sicht einfach aus der Zeit gefallen. Sie hat noch Kürbis- und Quittenmarmelade eingekocht, als das kein Mensch mehr gemacht hat. Kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie out das mal war. Meine Oma hat mich aber trotzdem positiv geprägt. War sehr gastfreundlich, immer optimistisch. Und für die Zeit damals unglaublich selbstbewusst. Ich versuche, das Positive aus ihrer Zeit für mein Leben mitzunehmen.

    • Offizieller Beitrag

    Meine Mutter war nicht einmal 1 Jahr alt. Mein Vater knappe 3 Jahre alt. Beide kamen aus einer Gegend, die relativ vom Krieg verschont geblieben ist. (Zu abgelegen für Bombenangriffe, etc.)

  • Kann man die ganzen Kriegsauswirkungen nicht auch positiv für sich umdrehen?

    Das kann man bestimmt, aber mancher erst, wenn er alles verstanden und verarbeitet hat. Es ist wie im anderen Thread schon angeklungen: wenn es mir gut geht, kann ich leicht sagen, hey, sieh das Positive! Wenn ich Depressionen habe, kann ich das nicht. Es geht ja gerade um unverarbeitete Traumata, nicht um spannende Kindheitserzählungen. Solche gesunden Familien gibt es natürlich auch.

  • Meine Mutter war nicht einmal 1 Jahr alt. Mein Vater knappe 3 Jahre alt. Beide kamen aus einer Gegend, die relativ vom Krieg verschont geblieben ist. (Zu abgelegen für Bombenangriffe, etc.)

    Meine Mutter war 4. Es wurde immer sehr viel erzählt vom Krieg in der Familie. Wahrscheinlich erinnert sie sich deshalb so gut.

    Faszinierend für mich als Kind: Der Dachboden von Oma. Da gab es noch alte Kriegsuniformen und Gasmasken.

    Und es gab eine kleine Truhe mit etwas Geld. Da das Saarland innerhalb von 200 Jahren 8mal seine Nationalität änderte, gab es wohl auch jedes mal eine andere Währung. Anscheinend wurden immer die "Reste" aufgehoben.

    • Offizieller Beitrag

    Ob man die Kriegserlebnisse im Nachhinein für sich positiv umdrehen kann, hängt von der eigenen Leidensgeschichte sowie von dem Leben nach dem Krieg ab. Wenn man sich nach dem Krieg etwas aufgebaut hat, seine Liebe nicht verloren oder eine neue gefunden hat, die Kinder hat in Frieden und relativem Wohlstand großgezogen hat, erlebt hat, wie sie sich womöglich nach oben gearbeitet haben, wie man erlebt hat, dass Tod und Krankheit durch Impfungen und Antibiotika nicht mehr so allgegenwärtig waren wie noch in den 30er oder 40er Jahren, dass man relativ gut versorgt den Lebensabend mit den (Ur)Enkeln erleben kann, dann können all diese Erlebnisse durchaus die Leiden kompensiert haben und die Kriegsgeneration zu glücklichen Menschen gemacht haben. Ich hätte mich gefreut, wenn meine Großmutter ihr Schicksal nicht primär als Leid erachtet hätte und sich an dem Erfolg ihrer Kinder und ihrer sieben Enkel nachhaltiger erfreut hätte. Ich habe Bilder von ihr, wo sie meinen Ältesten und meinen Mittleren auf dem Schoß hat. Auf diesen Bildern sieht man ein sonst selten erlebtes Strahlen.

    Bei Millionen gefallener Soldaten war aber auch klar, dass viele Kinder ihre Väter nie kennenlernen durften, viele Mütter ihre Söhne und viele Ehefrauen ihre Männer nie wiedersahen. Kamen dann noch Hunger, Seuchen, Gewalterfahrung dazu, muss man schon analog zur Großmutter von gingergirl sehr "tough" gewesen sein, um durch die ganzen Erfahrungen nicht als psychisches, gebrochenes Wrack zu enden.


  • Bei Millionen gefallener Soldaten war aber auch klar, dass viele Kinder ihre Väter nie kennenlernen durften, viele Mütter ihre Söhne und viele Ehefrauen ihre Männer nie wiedersahen. Kamen dann noch Hunger, Seuchen, Gewalterfahrung dazu, muss man schon analog zur Großmutter von gingergirl sehr "tough" gewesen sein, um durch die ganzen Erfahrungen nicht als psychisches, gebrochenes Wrack zu enden.

    Ich gebe dir Recht. Vermutlich trug einen der Familienzusammenhalt (und der Glaube, gemeinsames Beten in den Häusern) sehr viel durch die Zeiten. Mein Opa hat als sechsjähriger seine Mutter verloren und seinen Zwillingsbruder als achtjähriger. Ich kann mich noch gut erinnern, wie eng er mit seinen 10 Geschwistern war und wie gut sie singen konnten. Er bildete mit seinen verbliebenen 8 Brüdern einen Großteil des Männergesangsvereins. :)

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