Okay, sorry. Ich wollte eigentlich nur kurz Stellung beziehen, aber es kam ein etwas längerer Text heraus, der verschiedene Aspekte der Hochbegabung thematisiert. Ich interessiere mich seit Jahren für das Thema und habe mich bereits während dem Studium und auch danach in Seminaren und Fortbildungen tiefer darüber informiert. Zur besseren Lesbarkeit habe ich den Abschnitten Stichworte voran gestellt...
Ich tendiere immer mehr dafür, von Hochbegabung so zu sprechen, wie von Menschen, die überdurchschnittlich groß sind. Es ist erst einmal nur ein körperliches Merkmal, das je nach Situation (viele) Vorteile bringen kann. Für Hochbegabte glücklicherweise leben wir in einer sehr kognitiv orientierten Gesellschaft, so dass Hochbegabte in vielen Bereichen Vorteile haben. Trotzdem ist das erst einmal nicht anderes, als alle anderen auch besitzen: Intelligenz - nur halt ein wenig mehr.
Hochbegabung liegt bei einem standardmäßig normiertem IQ-Test ab 130 vor (bzw. ab zwei Standardabweichungen über dem Mittelwert). Mit einem IQ von 115 ist man (gemessen an dem entsprechendem Test - "Intelligenz ist, was der IQ test misst") intelligenter als ca. 85% der Menschen, ab einem IQ von 130 ist man intelligenter als 97,72 % der Menschen. Persönlich würde ich jemanden, der intelligenter als 85% der Bevölkerung ist, durchaus auch als pfiffig bezeichnen ;-). Die Grenze bei 130 ist ausschließlich mathematischer Natur und ist für Forschungszwecke festgelegt (Begrenzung der betrachteten Gruppe bei zwei Standardabweichungen über dem Mittelwert). Pädagogisch oder gesellschaftlich dürften wir mit genauso viel Recht schon ab 120 (oder 115, oder...) von "Hochbegabung" sprechen.
Underachiever und Overachiever: Hochbegabung muss als Potential gedeutet werden, um kognitive Anforderungen zu meistern. Davon zu trennen ist die Performanz, also die gezeigte Leistung, die (z.B.) in der Schule sichtbar wird. Die meisten Hochbegabten haben gute bis sehr gute Schulleistungen (etwa 85%). Aber es gibt einen kleinen Teil von sogenannten Underachievern, die zwar über einen hohen IQ verfügen, diesen aber nicht in schulische Leistung umsetzen können. Gründe für dieses Minderleister-Syndrom sind vielfältig: soziale Probleme / Selbstwert / Selbstbild / Interesse / Beziehung zu Schule und Lehrer / .... Manchmal (!) ist auch Unterforderung ein Grund oder zumindest ein verstärkender Faktor. Qualitative Untersuchungen zeigen aber, dass die meisten Hochbegabten durchaus um ihre Intelligenz wissen (auch ohne das Wort dafür zu benutzen) und diese schulisch entsprechend dosieren. Nicht repräsentativ, aber durchaus häufig ist der Typus, der seine Intelligenz nutzt um gut durchzukommen, aber eben nicht Vollgas gibt (weil er weiß, dass er das nicht braucht). Underachiever sind deshalb von Interesse für die psychologische Forschung (und uns als Pädagogen), weil sie sich uns gegenüber als durchschnittliche Schüler präsentieren (sehr selten nur als wirklich schlechte Schüler) und deshalb niemals von uns als Förderbedürftige wahrgenommen werden. Das Underachiever-Syndrom gibt es wohl vermutlich auf allen Leistungsstufen, wenn aber ein Normalbegabter "minderleistet", dann greifen sofort verschiedene Fördermaßnahmen. Es wenig relativiert sich übrigens der Hype um Hochbegabung, wenn man betrachtet, dass es durchaus auch Overachiever gibt. Das sind Menschen, die Herausragendes und Geniales leisten, auch wenn ihr IQ unter 130 liegt (zB Richard Feynman).
Hochbegabte in der Schule erkennen: Alle Studien zeigen, dass Lehrer nicht valide in der Lage sind, Hochbegabung zu diagnostizieren. Lehrer diagnostizieren Leistung, denn das ist ihr Job und dafür sind sie Experten. Aber ein schlummerndes Potential zu erkennen, ist ohne einen passenden Test schlicht verdammt schwer. Natürlich bekommt man in manchen Situationen eine Ahnung und natürlich sind Hochbegabte dann doch irgendwie erkennbar, aber halt nur das: man kann erkennen, dass jemand hochbegabt ist. Man kann aber (eigentlich) nicht sagen, dass jemand nicht hochbegabt ist. [Zusätzlich tendieren Lehrerurteile auch dazu, solchen eine Hochbegabung zu zu schreiben, die zwar sehr gute Leistungen bringen, deren IQ aber tatsächlich unter 130 liegt].
Denken von Hochbegabten: Die gesamte Forschung zu Hochbegabten hat gezeigt, dass Hochbegabte aller Wahrscheinlichkeit nach keine andere Art zu denken besitzen. Das Phänomen an sich ist plural, Hochbegabte tendieren z.B. dazu (normale) Lern-Strategien schneller und effizienter zu benutzen, insofern ist es Teil der allgemeinen Intelligenz, dass man - wie alle Menschen - ein Bewusstsein für das hat, was man kann und was man nicht kann, und darüber hinaus erkennt, wie man diesen Zustand effektiv beheben kann. Einzig: Je intelligenter ein Mensch, umso stärker scheinen diese selbstregulatorischen Fähigkeiten ausgeprägt zu sein (was man m.E. gut mit dem Arbeitsgedächtnismodell und den darauf operierenden exekutiven Funktionen erklären kann). M.a.W.: Das Denken von Hochbegabten unterscheidet sich nicht primär qualitativ, sondern nur graduell von dem Denken Normalbegabter.
Inselbegabung: Hochbegabung hat nichts mit den Inselbegabungen zu tun. Die psychologische Forschung hat immer wieder und wieder bestätigt, dass der generelle Intelligenzfaktor (oft g-Faktor genannt) der einzige unabhängige Prädikator für Intelligenzleistungen ist, mithin alle anderen Intelligenzleistungen als davon abhängig (oder vorsichtig formuliert: damit hochgradig korrelierend) festgestellt wurden. D.h. Hochbegabte können generell in allen kognitiven Bereichen schneller Lernen. Hochbegabte haben also das kognitive Potential, um eine bessere Performanz in so ziemlich allen kognitiven Schulfächern zu bringen: Sei es in Sprachen / Natur- oder Gesellschaftswissenschaften. Insofern sind Hochbegabte kognitive Generalisten. Wie bei allen Menschen kommt es dann natürlich auf Interesse, Motivation und andere Einflussfaktoren an, ob der Hochbegabte sein Potential überall / nur in manchen Fächern / gar nicht auslebt. Inselbegabungen sind ein Phänomen für sich, das extrem plural ist, auf viele unterschiedliche Ursachen zurückgeht und mit IQ per se erst einmal nichts zu tun haben muss.
Sozialleben: Die Studie von Detlef Rost hat auch gezeigt, dass Hochbegabte im Mittel das gleiche Maß an sozialer Eingebundenheit und Beliebtheit erleben wie alle anderen auch (sogar: Hochbegabte haben hier einen kleinen, aber kaum relevanten Vorteil). Insofern stimmt das Vorurteil vom hochbegabten Eigenbrötler nicht. Hochbegabte erleben die gleichen Freuden, Probleme, Freunde und Streitigkeiten wie alle anderen auch.
Förderung: Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Akzeleration und Enrichment. Ersteres meint ein schnelleres Durchlaufen von Bildung (Überspringen, Schülerstudium, ..), Zweiteres eine besondere Anreicherung. Letztlich zeigen die meisten Studien, dass die effektivste Förderung von Hochbegabten die innere Differenzierung ist. Es gibt keine Studie, die aufzeigen kann, dass Hochbegabtenklassen oder -internate für die Entwicklung des kognitiven Potentials von Hochbegabten besser seien als normale Regelklassen (obschon solche Dinge natürlich andere Vorteile haben, die Einfluss auf das spätere Gehalt haben können). Das ist m.E. ein sehr charmantes Ergebnis, weil wir als Pädagogen Hochbegabte weder identifizieren müssen noch ihnen ein Label "HB" aufdrucken. Wir können einfach und simpel denen, die schnell fertig sind, mehr Futter geben (gleichwohl: das kostet viel Arbeit und daher muss man oft auch damit leben, dass man andere Wege geht --> Hilfe für Mitschüler etc...). Damit werden weder Hochbegabte stigmatisiert noch alle anderen (in der ohnehin so aufs Kognitive getrimmten Schule) degradiert. Es gibt nun manche Förderangebote, wo es sinnvoll ist, eine Hochbegabung von einer Fachstelle (Schulpsychologen, BRAIN in Marburg, etc..) diagnostizieren zu lassen. Namentlich sind es solche Fördermaßnahmen, die Normalbegabte (vermutlich) vor zu große Herausforderungen stellen würden: Überspringen, Schülerstudium, Drehtürmodelle. Aber auch hier kommt man oft ohne eine Diagnose aus, weil die meisten Angebote auch auf Probe gefahren werden können. Meistens muss man also gar nicht mal wissen, wo der IQ genau liegt. [Es gibt bislang nur eine einzige Studie aus den USA, die keinen klaren Zusammenhang herstellen konnte, aber gezeigt hat, dass _tendenziell_ es für hochbegabte Schüler eher hinderlich war, von ihrer eigenen Begabung zu erfahren. Man vermutet, dass dies damit zusammenhängt, dass Kinder das Konzept "Hochbegabung" nicht richtig einordnen können und dies dementsprechend einen Einfluss auf deren Selbstbild haben kann]