Nie zuvor hatten Referendare so wenig Zeit wie heute. Die Bundesländer verkürzen ihren Vorbereitungsdienst und Schulleiter setzen die Anfänger oft wie fertige Lehrer ein. So eine Lehrzeit traumatisiert die jungen Akademiker, warnt ein Experte.
"Für mich war dieser Beruf immer das Ziel", sagt Melanie Siegert, 30. Zu unterrichten war ihr Traum - bis das Referendariat begann: "Ich war eigentlich überzeugt von mir, aber dann brach alles zusammen", sagt sie. Sie suchte einen Therapeuten auf und bezahlte ihn aus eigener Tasche, damit einer Verbeamtung nichts im Wege stünde. Jetzt überlegt sie, ihre Laufbahn abzubrechen.
Seit jeher gilt das Lehramtsreferendariat als stressig, die Vorbereitung an den Unis als unzureichend und der Gang an die Schulen als Sprung ins kalte Wasser. Noch nie aber hatten Lehramtsanwärter in der Bundesrepublik so wenig Zeit wie heute, vom Studierenden zum Lehrenden zu reifen: Im vergangenen Jahr verkürzte mit Nordrhein-Westfalen auch das größte Bundesland den Vorbereitungsdienst von zwei auf eineinhalb Jahre; Berlin folgt 2013, genauso Brandenburg, wo 2018 erreicht sein soll, was in Sachsen bereits Realität ist: Das zwölfmonatige Referendariat. In Bayern herrschen diesbezüglich verträglichere Zustände: Referendaren bleiben hier noch immer zwei Jahre Zeit.
Kurse, Noten, Klausuren - 70 Stunden pro Woche
Melanie Siegert macht ihren Vorbereitungsdienst an einer Gesamtschule im Ruhrgebiet. Dauerte es früher ein halbes Jahr, bis Referendare allein vor der Klasse standen, blieb ihr nur eine Einführungsphase von drei Monaten. Zu wenig, sagt Siegert, die sich schnell überfordert fühlte. Innerhalb kürzester Zeit musste sie Kurse übernehmen, Noten geben, Klausuren stellen, Unterrichtsbesuche planen und nebenher Fach- und Kernseminare besuchen, in denen Leiter sitzen, deren Vorstellungen von einem guten Unterricht nicht selten weit abseits der Realität liegen: Ihre wöchentlich Arbeitszeit liege derzeit bei 70 Stunden, rechnet Siegert vor.
Melanie Siegert, die ihren richtigen Namen nicht veröffentlicht wissen will, ist damit nicht allein: 60 Stunden Arbeit die Woche im Schnitt, sagen Experten, seien realistisch. Was kaum verwundert, füllen Referendare doch oft von jetzt auf gleich eine halbe Stelle aus: In der Regel besteht ihr Ausbildungsunterricht aus eigenständig erteilten und angeleiteten Stunden. In Hamburg machen sie zwölf Stunden eigenständig, in NRW sind es neun, in Sachsen zwölf, in Baden-Württemberg 13.
Dazu kommt der angeleitete Unterricht: Die Referendarin Julia Wolthaus unterrichtet in Gelsenkirchen Mathe und Biologie - 15 Stunden insgesamt, sagt sie. In Berlin, wo der eigenständige Unterricht mit acht Stunden gering ausfällt, begrüßen Gewerkschafter diese vergleichsweise referendarfreundliche Regelung: "Man muss sich entscheiden, ob man Bedarfsdeckung oder Ausbildung betreibt", sagt Tom Erdmann von der Bildungsgewerkschaft GEW.
"Verkürzung ist reine Sparmaßnahme"
Wer Ulrich Wehrhöfer, den Gruppenleiter Lehrausbildung beim NRW-Ministerium Wissenschaft und Weiterbildung, befragt, bekommt ähnliche Argumente für die Verkürzung genannt wie in anderen Teilen der Republik: Er verweist darauf, dass die als zu lang geltende Lehrerausbildung gestrafft worden sei, ohne dass die Praxis gelitten habe - schließlich gebe es Praxissemester und -phasen im Studium. Außerdem sei bei den konsekutiven Bachelor-Master-Studiengängen die schriftliche Examensarbeit am Schluss des Referendariats gestrichen worden.
"Die Praxisphase während der Uni ist kaum zu vergleichen mit dem Referendariat", sagt dagegen Inge Goerlich von der GEW in Baden-Württemberg, wo man mit der neuen Ausbildungsstruktur schon seit Jahren Erfahrung hat. Die Bildungsgewerkschaft sieht in der Verkürzung eine reine Sparmaßnahme: "Mehr Stellen bei gleicher Finanzierung."
Das hat auch gesundheitliche Folgen: Laut GEW gaben in Hamburg 84 Prozent der 18-Monats-Referendare für das Grundschullehramt, der Sekundarstufe 1 und Sonderschulen an, sich gesundheitlich belastet zu fühlen. Fachleiter in NRW sprechen davon, dass der Druck spürbar zugenommen habe: "Die ersten Referendare informierten sich schon im Dezember und Januar über die Möglichkeit des Abbruchs. Das war sehr auffällig", sagt Michael Brischke, der als Fachleiter in Solingen arbeitet und seit 26 Jahren als Personalrat für über 10.000 Lehrer und Referendare zuständig ist.
"Gesellschaftlich akzeptierte Traumatisierung"
Viele beklagen außerdem, dass ihr Privatleben leidet. Ein psychologischer Effekt allerdings, der Referendare wie fertige Lehrer gleichermaßen betrifft: "Arbeit und Freizeit in eine vernünftige Balance zu bringen, fällt schwer, auch weil die Arbeit vor allem zu Hause stattfindet", sagt Uwe Rohlje, Psychotherapeut in Münster, der seinen Patienten schon mal den Rat gibt, die eigenen Ansprüche zu senken.
Was in NRW, wo der Lehrermarkt zurzeit relativ entspannt ist, möglich sein mag, wird beispielsweise in Baden-Württemberg oder Bayern, wo es zum Teil kaum Stellen gibt, schwierig: "Es herrscht ein enormer Konkurrenzdruck", sagt die Gewerkschafterin Goerlich, die von Schulleitern erzählt, die die Situation ausnutzten - und Referendare zusätzlich Vertretungsunterricht machen ließen. Aber auch Referendarin Wolthaus erzählt von Schulen in NRW, wo Leiter verlangen würden, dass Referendare zusätzlich Schülerarbeitsgruppen einrichten.
Therapeut Uwe Rohlje hat Patienten, die nach nicht so gelungenen Unterrichtsbesuchen niedergemacht werden. Manch ein Referendar berichtet, er habe sich Sätze wie diesen anhören müssen: "Für die Schüler wäre es besser gewesen, Sie hätten die Stunde nie gehalten." Und das, obwohl die Referendare in ihrem Lehrerseminar angehalten würden, noch in der schlechtesten Schülerleistung Positives zu finden.
Rohlje bezeichnet das Referendariat mittlerweile als "gesellschaftlich akzeptierte Traumatisierung" junger Akademiker. "Die Probleme sind nicht neu, aber potenzieren sich", sagt der Psychotherapeut, der glaubt, dass für den Lehrerberuf eine enorme Kommunikations-, Konflikt- und Problemlösungsfertigkeit nötig ist, die vor allem eines braucht: Zeit.