Coming out im Jahre 2019?

  • Insofern sehe ich einen großen Unterschied zwischen "die scheiß Lesbe" und "die Doofe mit der großen Nase".


    Du siehst einen Unterschied, weil dich das eine offenbar mehr trifft. Ich sehe keinen Unterschied, weil fiese Teenies dazu neigen, genau das herauszupicken, womit sie den anderen an der empfindlichsten Stelle treffen können. Sei es das Körpergewicht, die Nase oder die sexuelle Orientierung.


    Vielleicht hast du es nicht so gemeint, aber geschrieben steht's da und mir ist es wichtig, das klarzustellen, weil wir als Lehrer ja ständig mit derlei zu tun haben und mit der Zeit vielleicht vergessen, wie derart beschimpfte leiden. Nix für ungut :)

  • Ich sehe es wie @Krabappel, wenn es nicht die scheiß Schwuchtel ist, ist es der scheiß Streber oder die scheiß Kartoffel. Wer jemanden aufziehen will, findet bei seinem potentiellen Opfer einen wunden Punkt, auf dem man mit dem Zeigefinger Druck ausüben kann...

  • Den "wunden Punkt", mit dem man jedes potenzielle Opfer aufziehen kann, kann ich voll und ganz verstehen. Was mir die ganze Zeit im Hinterkopf herumschwirrt, ist die Frage, welche Angriffe ein Opfer auf welchem "Niveau" wahrnimmt bzw. verarbeitet.
    Also in etwa so etwas wie die Maslowsche Bedürfnispyramide (obwohl ich befürchte, dass das hier nicht so ganz passt). Was / welche SIcherheit benötige ich, um mich vollständig verwirklichen zu können? Wobei ich die nächsthöhere Stufe nur erreichen kann, wenn die darunterliegende erfüllt wurde. Nicht ganz so frei nach Wikipedia:


    (1) Grund-/ Existenzbedürfnisse: Physiologische Bedürfnisse (alle Grundbedürfnisse, die zum Erhalt des menschlichen Lebens erforderlich sind, wie Atmung, Wasser, Nahrung, Schlaf, Fortpflanzung).




    (2) Sicherheitsbedürfnisse: wie körperliche und seelische Sicherheit, materielle Grundsicherung, Arbeit, Wohnung, Familie, Gesundheit. [Mein Erfahrungswert & der anderer in diesem Thread: körperliche Angriffe, Ablehnung / "Verstoßen" in der Familie & durch "Freunde", Verweigerung der Vermietung/Wohnung (immerhin in der ach so toleranten Großstadt), Verweigerung der Arbeit/Einstellung.]


    (3) Soziale Bedürfnisse: Familie, Freundschaft, Gruppenzugehörigkeit bzw. Zugehörigkeitsgefühl, Kommunikation, sozialer Austausch, Gemeinschaft, gegenseitige Unterstützung, Beziehung, Zuneigung, Liebe und sexuelle Intimität.


    (4) Individualbedürfnisse: Vertrauen, Wertschätzung, Selbstbestätigung, Erfolg, Freiheit und Unabhängigkeit. [Vor nicht allzu langer Zeit wurde durch die Politik diskutiert, dass Schwule doch bitte nur unter Anwesenheit einer weiteren Person mit Schülern interagieren sollten. Relativ schnell (nach Nachfragen) wurde nachgeschoben, dass homosexuelle Lehrkräfte nicht gemeint seien. Aber das mangelnde Vertrauen war erst mal klar formuliert. Zu den anderen Stichpunkten ließen sich leider auch Erläuterungen finden.]


    (5) Selbstverwirklichung: Wenn bis auf diese Stufe alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird nach Maslow eine neue Unruhe und Unzufriedenheit im Menschen erwachen: Er will seine Talente, Potenziale und Kreativität entfalten, sich in seiner Persönlichkeit und seinen Fähigkeiten weiterentwickeln und sein Leben gestalten und ihm einen Sinn geben. [Nur: Wie sehr halte ich mich evtl. zurück, obwohl ich eine brilliante Lehrkraft/Schulleiterin/Seminarleiterin etc. wäre? An welcher Stelle befürchte ich Diskriminierungen aufgrund von Homosexualität, Behinderung oder einer großen Nase [um das Zitat/Beispiel von Eliatha noch einmal einfließen zu lassen, das hier zu Nachfragen führt].)



    Natürlich ist es äußerst verletzend, wenn jemand aufgrund seines Aussehens, einer Behinderung oder einfach "nur so" angegriffen wird. Aber gibt es Gruppen, die "institutionalisiert" und auf "niedrigeren" (also verletzenderen) Stufen benachteiligt werden? Denen gegenüber verbale (und ggf. sogar körperliche) Gewalt bagatellisiert wird / als angemessen / gerechtfertigt angesehen wird?
    Auf welcher "Stufe" behindern mich bereits diese Angriffe? Gibt es einen (maslowschen oder anderen theoretischen/ nicht persönlicehn / evtl. sogar messbaren) Unterschied zwischen dem Angriff aufgrund von z.B. körperlichen Merkmalen und Homosexualität? (Also zum Beispiel zu Stufe 2: Wendet sich meine Familie von mir ab, weil ich adipös bin? Tut sie es, weil ich die "falsche" Person liebe?)


    Und genau an der Stelle sehe ich eine Unterschied zwischen dem "Die hat mich nicht abschreiben lassen, die Doofe mit der großen Nase." und "Die hat mich nicht abschreiben lasse, die scheiß Lesbe." Das mag durch persönliche Erfahrungen / Einstellungen geprägt sein. Aber vielleicht gibt es doch tatsächlich einen Unterschied. (Schließlich gibt es Länder, in denen mein Leben bedroht ist aufgrund von Homosexualität. Die selbe Bedrohung mit der Nase, Behinderung, Übergewicht, whatever (mit Ausnahme von Religion) habe ich im Ausland doch eher selten gehört.)

  • Disclaimer/ PS: Da schrieb wer, das mich die einen bösen Bemerkungen (bzgl. Homosexualität) wohl mehr träfen als die anderen (z.B. bzgl. Aussehen). Mal ganz davon abgesehen, dass ein wenig Empathiefähigkeitja durchaus sinnvoll wäre und von allen erwartet werden sollte ...
    Ich biete: Eine Mutter, die als Flüchtling in die BRD gekommen ist. Ein Elternhaus, bei dem ich mich schon in jungen Jahren darüber aufregte, dass ich dort angeblich nur einen "restringierten Code" erlernen würde. Brille (trotzdem bei weitem keine 100% Sehfähigkeit). Regelmäßige (also äußerst verlässliche) spontane intensive Untersuchungen an Flughäfen (egal, ob ich allein reise oder mit SuS: Kommen Sie mal mit. Ziehen Sie dieses Kleidungsstück aus. Legen Sie diese "Prothese" ab [ohne die ich bei einer Reise nicht unterwegs sein wollte]. Ich wisch hier mal [das war der nicht weiter kommunizierte Drogentest].)
    Und noch mehr (reicht aber hoffentlich).
    Meinen Mitschülern (allesamt fiese Teenies?) habe ich mehr als genug Gelegenheit geboten, kreativ zu werden. Die haben das auch gern ausgenutzt. Meiner Erfahrung nach gibt es trotzdem einen Unterschied dabei, auf welcher Ebene der Angriff erfolgt. Ist aber sicherlich individuell unterschiedlich empfunden (weshalb ich wie oben angesprochen versuche, einen theoretischen / belegten Ansatz zu finden).


    [Dieser Beitrag wird sich übrigens in absehbarer Zeit in Nichts auflösen.]

  • Ich für mich habe beschlossen, dass ich lebe, wie jeder andere auch. Das bedeutet, dass ich mich ständig „oute“. Habe ich Lust die Hand meines Ehemanns zu halten, dann mach ich das. Bin ich wo eingeladen, wo der Lebensgefährte/Ehemann mitgebracht wird, dann mache ich auch das, sofern er Lust hat – und werde bestimmt nicht vorher vorfühlen, ob dies in Ordnung ist, oder ankündigen, dass er ein Mann ist. Werde ich nach meiner Ehefrau gefragt, dann äußere ich, dass diese ein Mann ist. Ich erzähle, wie jeder andere auch, von meinem Leben, wenn ich mich mit Menschen unterhalte, genauso, wie es diese eben auch tun. Alles andere wäre mir zu anstrengend. Da müsste ich immer überlegen, wie umschreibe ich das jetzt, oder erzähle ich jetzt lieber nichts. Für mich ist das die Normalität, die ich von anderen erwarte und deshalb auch genau so lebe.


    Es kommt dann natürlich auch vor, dass damit jemand ein Problem hat. Das ist dann aber deren Problem und nicht meines – und ich mache es auch nicht zu meinem. Ergibt sich ja eigentlich auch schon aus der Formulierung.


    Bei meinem Direkteinstieg wurde ich schon im Bewerbungsgespräch gefragt, weshalb ich einen Doppelnamen habe. Damit war die Sache schon in den ersten fünf Minuten gegessen. Auch in den meisten Klassen ergibt es sich so meist recht schnell und beiläufig, wenn es von anderen Schülern nicht eh schon bekannt ist. Einer meiner Fachdidaktiker im Direkteinstieg hat des Öfteren seltsame Kommentare von sich gegeben: „Ja, aber wer kocht denn dann bei Ihnen, oder putzt.“ „Da fehlt doch aber eindeutig die Frau in der Beziehung.“ Ja mei, wenn er meint sich als Ewiggestriger outen zu müssen, dann kann ich ihm das ebenso wenig verbieten, wie er mir meines.


    Mich wundert hier so ein wenig die Wertung von verschiedenen Diskriminierungen bzw. Herabsetzungen. Das ist meines Erachtens eine individuelle Frage, wie schlimm etwas erlebt wird und hängt von vielen, sich stetig ändernden Faktoren zusammen (z. B. die aktuelle Tagesverfassung). Manches kann am einen Tag verletzend sein und am anderen und durch eine andere Person geäußert, trifft es kaum/nicht. Eine Wertung von außen ist da eher akademisch und nicht lebensnah. Für mich ist auch nicht immer jede unbedachte Äußerung einer Diskriminierung gleichzusetzen. Ich glaube jeder hat anderen Menschen gegenüber Vorurteile, insbesondere bei Minderheiten, mit denen man bisher kaum etwas zu tun hatte. Da ist mir sicher auch schon mal was Blödes über die Lippen gerutscht. Dann bin ich sogar eher froh, wenn mein Gegenüber mich darauf aufmerksam macht.


    Allerdings erlebe ich schon auch Diskriminierung. Ich wurde, nur aufgrund meines schwul seins, geschlagen, angespuckt, habe Wohnungen und Arbeitsstellen nicht erhalten, beleidigt, hatte Informationen zur Teufelsaustreibung im Briefkasten …


    Oder, für andere vielleicht kaum nachvollziehbar, aber ein Beispiel systemischer Diskriminierung: Wir mussten damals eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen, da die Ehe noch nicht geöffnet war. Auf vielen Formularen des Staates gab es allerdings kein Feld dafür, sondern nur „verheiratet, ledig, verwitwet, geschieden“. Das hat mich zur Weißglut gebracht, ebenso die bis vor drei Jahren grundsätzliche Anrede von einem von uns beiden als Ehegatte und dem anderen als Ehefrau durch die Steuerbehörde bei der Steuererklärung. Wie gesagt: individuelles Erleben. Manch anderen lässt dies kalt.


    Auch erlebe ich dies von absolut unterschiedlichen Seiten. Ich erlebe religiöse Menschen aller Religionen als offene Menschen und auch deren intolerante Versionen. Es gibt Menschen mit geringer Bildung die intolerant sind ebenso wie Menschen mit Bildungshintergrund. Jung und Alt, aus allen Gesellschaftsschichten … ich für mich kann da kein Muster erkennen. Wer meint einen blöden Witz machen zu müssen, bekommt einen zurück. Wer meint mich schlagen zu müssen, bekommt eins zurück (nein, ich halte nicht die andere Wange hin). Jemand der mir ungefragt erklären muss, dass mein schwul sein irgendwie nicht in Ordnung ist, dem bin ich dankbar, dass ich hier keine Beziehungsarbeit investieren muss und gleich weiß, dass hier zwei Menschen aufeinander treffen, die sich nicht grün sind – wie es oft auch aus anderen Gründen der Fall ist. Bei all dem ist es mir egal, ob das passiert, weil ich schwul bin oder weil ich blonde Haare habe, oder eine große Nase – es ist, egal aus welchem Grund, nicht angebracht und kann verletzen oder auch nicht.


    Weil dies alles für mich vor allem auf der individuellen Ebene die ausschlaggebende Rolle spielt, finde ich es schwierig hier Ratschläge zu geben. Ist man als Person gefestigt und weiß, dass man i.d.R. auch mit schwierigen Situationen zurechtkommt, die ja nun auch nicht täglich passieren, und mag sich nicht immer Gedanken darüber machen, was erzähle ich wann, wo und wem, dann kann man offen damit umgehen. Es ist aber auch absolut nicht verwerflich, sich dem zu entziehen und erstmal abzuwarten, wie sich dies z. B. am neuen Arbeitsplatz gestaltet. Mach es also am besten davon abhängig: „Womit fühle ich mich momentan wohl?“– das ändert sich im Laufe des Lebens sowieso. Meine „ländlichen“ Schüler sind zu mir, unabhängig ob ich nun schwul bin oder nicht, wie zu jedem anderen Lehrer eben auch: nett, freundlich, arschig, nervig, ein Gewinn in meinem Leben, zum kotzen, witzig, kann ich drauf verzichten, mögen mich, mögen mich nicht … deshalb zählt nur, mit was du dich als Lehrperson wohlfühlst. Die Schüler selbst haben bis auf eine Ausnahme bisher noch nie versucht mich auf der Eben meiner Homosexualität anzugreifen. Aber auch da, egal auf welcher Ebene dies erfolgt, ist es nicht angemessen, wird es nicht toleriert – ist es nur ein doofer Spruch, gibt’s eben einen zurück …

  • Ich weiß, dass wir eigentlich solche Kommentare nicht schreiben dürfen, aber das war ein richtig toller Beitrag @sascha77 und ich finde deine Einstellung super!

  • @Bear, danke, jetzt weiß ich zumindest was du meinst. Ich glaube trotzdem nicht, dass man Verletzungen gegeneinander aufrechnen sollte. Ja, natürlich gibt es Familien, in denen der Partner nicht willkommen ist, egal welches Geschlecht er hat. Ja, natürlich gibt es Familien, in denen die Kinder ohne Liebe und adäquate Bindung aufwachsen. Viele davon werden Suchtkrank oder entwickeln andere psychische Störungen, ihr Leben wird schon zerstört, bevor sie wissen, ob sie Männer oder Frauen lieben. Und wie sehr Mitschüler andere fertigmachen können, das hat sicher der eine oder andere hier schon erlebt. Also vielleicht reagiere ich deswegen empfindlich: ich möchte nicht, dass meine Erfahrungen als egal abgestempelt werden. Das will nämlich niemand ;)

  • A propos und völlig OT zur Steuererklärung: Die diskriminiert mich übrigens auch. Obwohl ich als Ehefrau das Ausfüllen der Steuererklärung übernehme, muss ich auf dem Mantelbogen immer als "Haushaltsvorstand" den Ehemann als erstes angeben.

  • Was mir die ganze Zeit im Hinterkopf herumschwirrt, ist die Frage, welche Angriffe ein Opfer auf welchem "Niveau" wahrnimmt bzw. verarbeitet.
    Also in etwa so etwas wie die Maslowsche Bedürfnispyramide

    Den Ansatz finde ich wirklich interessant, ich glaube, du hast recht, Bear.


    Wer immer sich erdreistet, in irgendeinem Aspekt nicht dem gängigen Mann-Frau-Schema zu entsprechen, bekommt tagtäglich zu spüren, dass es mit der Toleranz bei uns wohl doch nicht so weit her ist. Aber es stimmt, dass man als Alleinerziehende nicht mehr angespuckt oder geschlagen wird. Die Beispiele von Intoleranz gegenüber heterosexuellen Paaren im verlinkten Film betreffen tatsächlich eher die oberen Stufen der Bedürfnispyramide. Ich finde sie aber trotzdem interessant, weil sie zeigen, wie groß der Druck schon hier ist.
    https://www.youtube.com/watch?v=EB6XWkKh8nI

  • Semi-Off-topic:


    In der heutigen öffentlich-rechtlichen Radio-Durchsage der ev. und kath. Kirche ("Drittsenderecht") meinte die Pfarrerin bzgl. des heutigen schlechten Rufs des Kirchbesuchs:


    "In die Kirche gehen ist das neue schwul sein!"


    weil es heutzutage sehr uncool sei, noch in die Kirche zu gehen, seine Kinder taufen zu lassen usw. - und dazu viel Mut gehöre. Deshalb fände die sie auch die Schwulenbewegung so toll.

  • reichlich dreist und beleidigend dazu.
    sich anzumaßen, ungefragt eine ganze Bevölkerungsgruppe mit Befürwortern der Protektion von nachweislichen Kinderschändern zu vergleichen...
    Ach ja, natürlich ist das provokant.
    Aber es ist ein Fakt, dass die Institution "Kirche" solche Verbrecher der Justiz entzieht, Beweise zurückhält und diese Leute nur "versetzt".
    Wo kann frau diese Pfarrerin anzeigen?
    Nachher kommen besonders simpel gestrickte noch auf den Trichter, Homosexuelle seien ja eh alles Pädos - ach nee, darauf sind sie ja schon gekommen...

    Der Zyniker ist ein Schuft, dessen mangelhafte Wahrnehmung ihn Dinge sehen lässt wie sie sind, nicht wie sie sein sollten. (Ambrose Bierce)
    Die Grundlage des Glücks ist die Freiheit, die Grundlage der Freiheit aber ist der Mut. (Perikles)
    Wer mit beiden Füßen immer felsenfest auf dem Boden der Tatsachen steht, kommt keinen Schritt weiter. (Miss Jones)
    Wenn der Klügere immer nachgibt, haben die Dummen das Sagen - das Schlamassel nennt sich dann Politik (auch Miss Jones)

  • Als sei Homosexualität was cooles. Nein man kann sich nicht aussuchen ob man homo ist oder nicht. Den Gang zur Kirche kann nur die Kirche interessanter machen. Die sollten sich selbst ganz genau fragen wieso so viele austreten und wieso so viele ein Problem anscheinend haben. So von wegen entferne erst dein Brett vorm Auge bevor du den anderen auf ein Holzsplitter in seinem hinweist.

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