neue Prüfuingsordnungen HS, WRS, RS in Baden-Württemberg

  • @Morse : Ich hatte z.B. im Studium während der Abschlussprüfung auch einen Nachteilsausgleich. Das hatte gar nichts mit einem "falschen Selbstbild", "zerplatzenden Träumen" oder "Edelmut" zu tun, nur ganz simpel mit einem (medizinisch bedingten) motorischen Problem in der Schreibhand, in dessen Folge ich zum Prüfungszeitpunkt nur sehr langsam handschriftlich schreiben konnte, so dass ich eine simple Schreibzeitverlängerung erhalten habe, da es nicht möglich war, mir das Tippen am PC - was schnell genug auch in der Regelzeit gewesen wäre- zu gestatten. Pauschal Nachteilsausgleiche als Etikettenenschwindel abzutun halte ich nicht nur, aber eben auch aus dieser persönlichen Betroffenheit heraus für unangemessen. Es geht schließlich nicht darum Leute auf Abschlüsse zu "lupfen", die diese nicht erarbeiten und leisten könnten, sondern faktische Behinderungen insoweit auszugleichen, dass vergleichbare Startbedingungen herrschen, um dann eben sein Potential zeigen zu können.

    Könnte man ja einfach auf dem Zeugnis vermerken und gut is'.
    Fälle wie Deiner sind mir in der Schule noch nie untergekommen.
    So kenne ich das (etwas zugespitzt): Die betreffenden SuS sind dem Niveau der Schulart grundsätzlich nicht gewachsen, aber es wird ein sehr großer Aufwand betrieben v. Eltern, Lehrern, Betreuern, anderen Institutionen, der dann als Alibi fungiert, um den Schülern noch Vierer zu geben oder bei der Frage, ob sie überhaupt eine Chance haben, den Abschluss zu machen "Mjooaaah, also wenn er sich im letzten Jahr anstrengt köönntee..." zu antworten.
    Der Witz ist, dass der NTA den SuS den nichts nutzt. Egal ob mehr Zeit oder nicht, ob "sprachoptimiert" oder nicht. Das sind Alibis, die dann die Vierer rechtfertigen sollen, obwohl diese einfach geschenkt sind, nach dem Motto "er hat's ja immerhin wirklich versucht". Wenn die SuS dann nur Absagen bekommen, weil die Arbeitgeber sofort merken, dass der Bewerber mit Deutsch Vierer nicht lesen und schreiben kann oder die Prüfung erst gar nicht bestanden wird, verstehen sie die Welt nicht mehr. Jahrelang sah doch alles ganz rosig aus und jetzt das!


    Auf der anderen Seite gibt es SuS die NTA bekommen weil ihre Eltern sie zum Arzt geschickt haben - der NTA soll ja die Note verbessern! Da gibt's dann Fälle wie SuS mit ärztlich attestierter Dyskalkulie, die in Mathe zu den Klassenbesten zählen. Und das nicht aufgrund des NTA! Sie bekommen mehr Zeit, geben trotzdem noch vor allen anderen ab.


    Soweit zu meinen (natürlich subjektiv bzw. limitierten) persönlichen Erfahrungen damit, vielleicht macht das meine Meinung dazu etwas verständlicher.

  • Auch ich bin nicht bereit meine Schüler zum Abschluss zu tragen, auch wenn meine Schulleitung das oft gerne hätte. Diese Problematik sieht man bei uns in der Regel auch in den Anmeldenoten. Es gibt Kollegen, die viel zu gute Anmeldenoten geben, damit ihre Schüler nicht durchfallen werden.
    Es wurde sich bei dieser Fortbildung auch seitens des Schulamts darüber beschwert, dass die Differenz zwischen den Anmeldenoten und den Prüfungsnoten zu groß ist und dieser Meinung bin ich ebenfalls!


    Mein Problem ist einfach, dass einige "körperbehinderte" (gehörlos, blind, Spastiken, etc.) Kinder gewisse Prüfungsleistungen nie werden erbringen können, da es ihre körperlichen Voraussetzungen nie zulassen werden. Bei uns gibt es gehörlose Kinder, die ohne Probleme die Realschule besuchen, aber sie werden niemals an einer Hörverstehensprüfung teilnehmen können! Wofür werden diese Kinder nun bestraft?


    Für mich ist ein Schulabschluss mit ausschließlich schriftsprachlichen Prüfungsteilen oder ggf. in DGS kein Etikettenschwindel. Die Schüler sind der Fremdsprache mächtig. Dass auf dem Zeugnis vermerkt wird, dass der Schüler kein Hörverstehen hat, ist für unsere Schüler kein Drama. Das merkt sowieso jeder sofort. Und einen Job in dem man mündlich auf Englisch kommunizieren muss, bekommen sie auch nirgendwo. Aber ich kann ihnen doch keine höhere Bildung verwehren, weil ja alle Menschen gleich sein müssen. Die Schüler um die es mir geht, sind klug und der deutschen und englischen Schriftsprache mächtig. Sie können nur nicht hören, sehen oder ihren Körper gut genug bewegen und kontrollieren.


    Natürlich könnte ich auch ASL lernen. Um einen zweisprachigen Unterricht zu halten (Gebärden- und Lautsprache) brauche ich aber immer einen zweiten Kollegen, da die Gebärdensprache eine andere Grammatik hat und man nicht zeitgleich sprechen und gebärden kann. Für eine Doppelbesetzung gibt es aber in BW kein Geld. Das müssen wir an der Förderschule lustigerweise in einer Person können, denkt zumindest das Ministerium... Lustig wird es dann, wenn wir Zweitprüfer brauchen. Da find mal einen der auch ASL und DGS und Englisch usw. gut genug für eine Prüfungsbewertung kann.

  • Mein Problem ist einfach, dass einige "körperbehinderte" (gehörlos, blind, Spastiken, etc.) Kinder gewisse Prüfungsleistungen nie werden erbringen können, da es ihre körperlichen Voraussetzungen nie zulassen werden. Bei uns gibt es gehörlose Kinder, die ohne Probleme die Realschule besuchen, aber sie werden niemals an einer Hörverstehensprüfung teilnehmen können! Wofür werden diese Kinder nun bestraft?

    Wahrscheinlich hat in der Kommission niemand an diese SuS gedacht und jetzt will man sich nicht zuständig fühlen...



    Man könne ja ein Schreiben dem Zeugnis beilegen und die Englischnote erklären.

    Wär' doch eine Möglichkeit, bis das KM in seiner Weisheit Abhilfe schafft. Darin könnte dann die Prüfungsleistung bzw. Endnote ohne HV-Teil dokumentiert werden.
    Evt. kann man ja sogar im Zeugnis unter Bemerkungen etwas passenden finden, dass auch gleich auf den Schrieb verweist. ("Nach Prüfungsordnung müssen auch Gehörlose am Hörverstehen teilnehmen ... siehe Anhang")

  • Wär' doch eine Möglichkeit, bis das KM in seiner Weisheit Abhilfe schafft. Darin könnte dann die Prüfungsleistung bzw. Endnote ohne HV-Teil dokumentiert werden.
    Evt. kann man ja sogar im Zeugnis unter Bemerkungen etwas passenden finden, dass auch gleich auf den Schrieb verweist. ("Nach Prüfungsordnung müssen auch Gehörlose am Hörverstehen teilnehmen ... siehe Anhang")


    Natürlich wäre das eine Möglichkeit. Problematisch wird diese Lösung dann, wenn es gewisse Noten braucht, um den Bildungsgang zu wechseln.


    Realschüler müssen in der Abschlussprüfung bzw. Abschlussgesamtnote mindestens eine 3 in allen Hauptfächern haben, damit sie zur gymnasialen Oberstufe zugelassen werden. Wenn sie diese Note jetzt allerdings aufgrund körperlicher Einschränkungen nicht erreichen, wird ihnen die Möglichkeit des Abiturs trotz vorhandener schulischer Kompetenzen verwehrt. Bei der Bewerbung auf eine Ausbildungsstelle wäre so ein Schrieb natürlich ein erster Schritt.


    Oder anders gesagt, körperlich beeinträchtigte Schüler müssen bessere Prüfungsleistungen als nichtbehinderte Kinder erbringen, um die 6 ausgleichen zu können. Das nächste Problem wäre dann die Endnote im Abitur. Nun will der beeinträchtigte Schüler gerne ein Fach mit hohem NC studieren. Ohne die Hörverstehens-6 hätte er den NC geschafft und ohne Wartesemester das Studium beginnen können. Dank der neuen Prüfungsordnung hat der Schüler nun mehrere Wartesemester, da sein Abiturschnitt schlechter ist.


    Auch lustig ist immer wieder, dass das Schulamt von uns fordert, die Schüler in Gebärdensprache zu unterrichten. Ansonsten könnten sie ja auch an die Regelschule. Beim Ablegen von mündlichen Prüfungen mit Fremdprüfern müssen diese Schüler plötzlich sprechen, da die Fremdprüfer natürlich nie gebärdenkompetent sind und das Schulamt bzw. die Eingliederungshilfe keine Dolmetscher bezahlt, da wir ja schon eine Förderschule sind... Also sprechen die Schüler immer mehr schlecht als recht und werden schlechter bewertet, da sie nicht ausreichend zu verstehen sind.


    Im Berufsleben bekommen diese Schüler dann übrigens einen Dolmetscher, wenn auch meist nach sehr sehr langem Kampf.

  • "Ironie an" Eine andere Variante wäre natürlich, behinderten Menschen trotz vorliegender Intelligenz den Zugang zu gleichberechtiger Bildung abzusprechen, da sie ja nicht die gleichen Leistungen erbringen können. Ging früher ja auch... "Ironie aus".


    Übrigens haben sich die Hörgeschädigtenschulen aus einer ganz bestimmten Notwendigkeit heraus überhaupt erst entwickelt. Durch die Inzucht in Königshäusern gab es früher im Adel sehr viele gehörlose Kinder. Nun war man im 16. Jahrhundert nur geschäftsfähig und erbberechtigt, wenn man sprechen konnte. Ohne Lautsprache galt man als minderbemittelt, geistigbehindert und nicht bildbar. Daher wurde man unter Vormundschaft gestellt oder kam in Heime. Wenn Adel also weiterhin unter sich bleiben und sein Vermögen selbst behalten wollte, brauchte man sprechende und gebildete Gehörlose. Der gehörlose Pöbel wurde erst viel später unterrichtet. Die Meinung, dass Lautsprache und Intelligenz untrennbar miteinander verbunden sind, hielt sich übrigens noch weit ins 20. Jahrhundert hinein. Daher war auch die Gebärdensprache lange verboten.
    Kinder mit anderen Behinderungen wurden damals noch gar nicht beschult und wurden gleich in Heimen versteckt. Daher gibt es diese Schulen erst viel viel später.


    Da ist doch Baden-Württemberg auf einem guten Weg zurück zu den guten alten Wurzeln...

  • "Ironie an" Eine andere Variante wäre natürlich, behinderten Menschen trotz vorliegender Intelligenz den Zugang zu gleichberechtiger Bildung abzusprechen, da sie ja nicht die gleichen Leistungen erbringen können. Ging früher ja auch... "Ironie aus".

    Ist so eine Standardgeschichte im Behindertenbeirat, dass jeder selbst Betroffene, der/die dort mitwirkt im Beirat selbst oder den AGs bereits erleben "durfte" im Leben, wie Menschen einen von außen anschauen und im Zweifelsfall, wenn sie (durch Rolli oder Assistenzhund oder einen Ausweis...) mitbekommen haben, dass man/frau behindert ist, im Zweifelsfall davon ausgehen, es müsse ein kognitives Defizit vorliegen und einen in Babysprache anbrabbeln wo man hinwolle, das Ganze sicherheitshalber gebrüllt mit dem Gesicht quasi Nasenspitze an Nasenspitze gedrückt (man könnte ja auch noch sehbehindert sein- wer trägt schon im Sommer sonst Sonnebrille) und, "im Idealfall" noch ungefragtem, unerwünschtem Körperkontakt (ein eloquenter, mit Fremdwörtern gespickter Diskurs lässt diese erfahrungsgemäß sprachlos sabbernd zurück- in solchen Momenten meine Lieblingswaffe).
    Dass Menschen ungeachtet einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung intellektuelle Hochleistungen vollbringen, gar ein Studium erfolgreich zu absolvieren vermögen erstaunt viele Mitmenschen. "Früher", war die Zeit, wo Menschen wie ich von den Nazis "euthanasiert" wurden. Vom heute und den Menschen, die dieses gestalten erwarte ich mehr Menschlichkeit auch und gerade für diejenigen, die - anders als ich und so viele meiner und unserer KuK die ungeachtet ihrer diversen gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Blindheit, Gehbehinderung, Sehbehinderung,..) täglich ihren Job machen- nicht für ihre Rechte selbstständig zu kämpfen vermögen.


    Zitat von FLIXE

    Da ist doch Baden-Württemberg auf einem guten Weg zurück zu den guten alten Wurzeln...

    Ich hoffe, mein Bundesland erinnert sich sehr zeitnah daran, welchen Anfängen es- abgesehen von Wortgefechten mit der AfD im Parlament- in der Exekutive zu wehren gilt und welche Werte des GGs es wie mit Leben füllen möchte.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

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