Deutschland verdummt, Schüler auf dem Niveau von Kleinkindern

  • Danke, icke,
    dein Beitrag trifft genau das, was ich hinsichtlich Winterhoffs Ausführungen zu Schule kritisiere.


    Er sagt zwar, dass er ja nicht über Lernmethoden redet, wirft dann aber doch munter alles Mögliche in einen Topf: autonomes Lernen= Lerntheken, Kopfhörer, Anlauttabelle, Sandwesten (habe ich vorher übrigends noch nie gesehen).....
    Und an seinen Ausführungen dazu merkt man auch, dass er gerade an der Stelle eben nicht weiß, was in der Schule konkret passiert.

    Zudem wird unterstellt, dass Kinder in der Schule machen, was sie wollen und alles beliebig wäre.
    Selbst bei offeneren Unterrichtsformen ist dem aber nicht so.

    Niemand zwingt mich die Kinder autonom lernen zu lassen.

    Ja, aber wenn ich den Unterricht öffne, in welche Richtung auch immer, weil ich als ausgebildete Lehrkraft das für sinnvoll erachte, hindert mich auch niemand daran, sehr genaue Vorstellungen zu haben, diese zu kommunizieren, klare Regeln und Grenzen zu setzen und die Einhaltung einzufordern.

  • Ja, aber wenn ich den Unterricht öffne, in welche Richtung auch immer, weil ich als ausgebildete Lehrkraft das für sinnvoll erachte, hindert mich auch niemand daran, sehr genaue Vorstellungen zu haben, diese zu kommunizieren, klare Regeln und Grenzen zu setzen und die Einhaltung einzufordern.

    Genau das! Und: ich kann gerade in den offeneren Phasen deutlich besser auf einzelne Kinder eingehen als in den frontalen. Ich habe z.B. nirgends sovielen direkten Austausch mit den Kindern, wie in den Wochenplanstunden! Da bin ich quasi ständig im 1:1- Kontakt, gebe sehr direkte und passgemaue Rückmeldung (inklusive Anforderungen!) und arbeite "nebenher" intensiv an der Beziehung. Wenn ich mich an meine eigene Schulzeit erinnere, wüsste ich nicht, wann ich da jemals einen so direkten Kontakt zu meinen Lehrern gehabt hätte. Bei Winterhoff kingt das hingegen so, als würden die Kinder alles alleine machen und der Lehrer nur noch rumsitzen und bestenfalls Aufsicht führen.

    "Die Wahrheit ist ein Zitronenbaiser!" Freitag O'Leary

  • Das heißt, wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, muss ich mich auf Sie konzentrieren. Es kostet mich überhaupt keine Kraft, alle Impulse in mir zur Seite zu drängen, egal ob ich müde bin oder Hunger habe, damit ich mich auf Sie fokussieren kann. Das ist eine von hunderttausend Leistungen, die wir erbringen: umsichtig sein, weitsichtig sein, vorausdenkend. Wir können Verantwortung für uns übernehmen und für andere und, und, und. Diese Dinge entwickeln sich in den ersten 20 Jahren, wir sprechen von der erworbenen Intelligenz. Wir haben eine Grundintelligenz mitgebracht, die ist unterschiedlich, aber nicht entscheidend, entscheidend ist diese erworbene Intelligenz. Und die kann sich nur bilden, wenn das Kind von klein auf ein Gegenüber hat, an dem es sich orientieren kann. Wenn es jemanden hat, der mit dem Kind auch Dinge einübt und sie abverlangt.

    Das, was Winterhoff hier beschreibt ist eine biologisch erworbene Grundfähigkeit, die es schon vor der Entstehung des Menschen gab. Nein, auch Reformpädagogik und -didaktik werden die evolutionär erworbene Sozialfähigkeit, die die Kohäsion der Primatenhorde garantiert, nicht "zerstören". :S


    Das ganze Interview tropft vom ersten bis zum letzten Satz vor Alarmismus.


    In dem Artikel geht es m.E. doch wohl eher darum, dass ein 64-jähriger vor dem Abtritt in den Ruhestand noch einmal seinen Namen so richtig in der Öffentlichkeit sehen will.

  • Das ganze Interview tropft vom ersten bis zum letzten Satz vor Alarmismus.

    Das ist bei allen Interviews, die Lanz führt, so. Deswegen seh ich mir seine Sendung normalerweise nicht an.


    Was ich auch beobachte:
    Unsere Fünftklässler kommen mit immer weniger Kompetenzen zu uns. Ich meine auch diese Kompetenzen, die man deiner Meinung nach gar nicht zerstören kann.


    Tja, was ist dann passiert/woran liegt das dann, wenn das nicht an den Dingen liegt, die Winterhoff aufzählt?


    Meine Wahrnehmung ist da ziemlich genau, die meiner KollegInnen auch.


    Auch ich hatte letztens ein Buch in der Hand, was ich noch vor 15 Jahren nutzen konnte, heute nicht mehr : zu viel Text! Und ich unterrichte nicht mal Deutsch, sondern Mathematik.

  • Was ich auch beobachte:
    Unsere Fünftklässler kommen mit immer weniger Kompetenzen zu uns. Ich meine auch diese Kompetenzen, die man deiner Meinung nach gar nicht zerstören kann.


    Tja, was ist dann passiert/woran liegt das dann, wenn das nicht an den Dingen liegt, die Winterhoff aufzählt?

    Was ich aus historischer Sicht immer wieder verblüffend finde, ist, dass hinter Äußerungen wie denen Winterhoffs und anderer, wie soll man sie nennen, "Konservativpädagogen" eine Vorstellung von Pädagogik und Erziehung steckt, die im Kern eine auf Autorität, Führung und klarer Rollenausrichtung basiert ist. Dies war das vorherrschende und gängige Erziehungsmodell der industrialisierten Welt des 20. Jh.


    Das 20. Jh. war gleichzeitig die Zeit allergrößter Gewaltexzesse, hemmungsloser Ausgrenzung und Unterdrückung unerwünschter Minderheiten, Entäußerung jeglicher ethischer Werte. Verhöhnung jeglicher Bildung. Das vor allem in Deutschland, aber eben nicht nur in Deutschland


    Wie kann man angesichts dieser Realität ernsthaft behaupten, dass nur in einer konservativen, autoritären Erziehung die Garantie gegen diese antizivilisatorischen Ausbrüche läge?


    Vielleicht ist das eigene, anekdotische Empfinden für das Verständnis der Situation doch nicht der letzte Schluss? Dass die "gefühlte Bedrohungslage" einserseits überall in der Gesellschaft zunimmt, während die empirisch erfassten Daten eine andere Sprache sprechen, ist ja auch so.

  • Er sagt:
    "Ich befasse mich nicht mit den 50 Prozent der Heranwachsenden, die super gelungen sind und bestens ins Leben gehen können. Ich bin als Arzt damit befasst, wenn etwas nicht stimmt. Und bei den anderen 50 Prozent haben wir etwas versäumt und darauf mache ich aufmerksam."

    Ich würde bestreiten, dass 50% der Generation der, sagen wir mal, unter 20-jährigen, sich wegen schwerer Verhaltensstörungen in psychiatrischer Behandlung befindet oder auch nur befinden sollte.

  • (Ich traue ja nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe...)

    Es wäre schön, wenn man diesen nicht besonders intelligenten Spruch nicht mehr verwenden würde, der leider in der Gesellschaft wegen grassierenden mathematischen Allgemeinbildungsmangels weit verbreitet ist.


    Meinjanur.


    Zum Winterhoff:

    Winterhoffs Rekonstruktion kindlicher Entwicklung beruft sich hierbei auf die psychoanalytische Tradition. In freier Synopse verbindet er das Freudsche Modell infantiler Sexualentwicklung mit Einsichten des Stufenmodells Erik Eriksons.

    Ich denke, damit wäre zur wissenschaftlichen Grundlage der Überlegungen Winterhoffs und ihrer, ähem, Stichhaltigkeit etwas sehr wichtiges gesagt...


    Besonders interessant an Winterhoffs Menschenbild und der kindlichen Entwicklung ist m.E.:

    Zitat

    Ein Grundirrtum in der Einschätzung des Kindes besteht laut Winterhoff in der Annahme, kindliches Verhalten sei Ausdruck der Persönlichkeit. Hier würden entwicklungsspezifische Verhaltensweisen als individuelle Merkmale verkannt, denn Kinder hätten, so Winterhoff, bis zum Alter von 7 Jahren noch keine Persönlichkeit. Diese Entwicklung setze erst mit dem 8. Lebensjahr ein.[2]

    Also, ich bin ja Laie, aber meine erste Assoziation mit diesem Absatz ist "Vulgärbehaviorismus". :D

    • Offizieller Beitrag


    Also, ich bin ja Laie, aber meine erste Assoziation mit diesem Absatz ist "Vulgärbehaviorismus". :D

    Behaviorismus im Zusammenhang mit Psychoanalyse? Lass das mal nicht Winterhoff hören.
    Die genannten Modelle sind sehr alt. Aber vermutlich ist die Weiterentwicklung psychologischer Thesen ein Faktor, der zur heutigen Verdummung beiträgt in den Augen Winterhoffs und anderer Psychoanalytker.

  • Ich denke, man sollte zwei Dinge unterscheiden:


    Winterhoffs Zustandsbeschreibung (mehr Kinder/Jugendliche als früher haben Defizite in Empathie, Sozialverhalten, Eigenständigkeit, Bereitschaft zur Anstrengung ... Rechtschreibung, Mathematik ... am Gymnasium jammern wir darüber, was die Kinder alles NICHT aus der Grundschule mitbringen und die Arbeitgeber / Universitäten jammern, dass die Jugendlichen nach dem Abitur nicht arbeits- bzw. studierfähig sind).


    Ich würde ihm da weitgehend zustimmen. Gerade die Aussage bei Lanz, dass man ein 10 Jahre altes Lehrbuch nicht mehr verwenden kann, weil die Schüler es nicht mehr verstehen, ist auch meine Erfahrung.


    Wenn ich mir so anschaue, was in unserem Bildungssystem die letzten 15 Jahre passiert (oder auch nicht passiert) ist, dann halte ich einen gewissen Alarmismus langsam für mehr als angebracht.


    Das führt dann natürlich zu der Frage, warum das so ist. Da kann man unterschiedliche Antworten geben. Winterhoff gibt Antworten, über die man streiten kann (wie wahrscheinlich über alle). Aber die anscheinend weit verbreitete Reaktion "So ein Quatsch, was hat der denn ... ist doch alles in Ordnung, läuft super" halte ich für etwas kurzsichtig.


    Ich halte Führung, Autorität und klare Rollenverteilung zum Beispiel durchaus für wichtig (je nach Alter der SuS mehr oder weniger). Es ist nur noch wichtiger, wer hier führt und Autorität beansprucht - und zu welchem Zweck.

  • Was ich aus historischer Sicht immer wieder verblüffend finde, ist, dass hinter Äußerungen wie denen Winterhoffs und anderer, wie soll man sie nennen, "Konservativpädagogen" eine Vorstellung von Pädagogik und Erziehung steckt, die im Kern eine auf Autorität, Führung und klarer Rollenausrichtung basiert ist. Dies war das vorherrschende und gängige Erziehungsmodell der industrialisierten Welt des 20. Jh....
    Vielleicht ist das eigene, anekdotische Empfinden für das Verständnis der Situation doch nicht der letzte Schluss? Dass die "gefühlte Bedrohungslage" einserseits überall in der Gesellschaft zunimmt, während die empirisch erfassten Daten eine andere Sprache sprechen, ist ja auch so.


    Hallo Meerschwein Nele,


    ich glaube nicht, dass das 20. Jahrhundert in Sachen Erziehung so einseitig ausgerichtet war, wie du es darstellst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam die Reformpädagogik auf und zwischen den Weltkriegen hat sich eine Menge abgespielt an Experimenten: Zu nennen wäre hier etwa die bekannte antiautoritäre Erziehung der 60er-Jahre und die weniger bekannte "Antipädagogik" der 70er-Jahre.


    Wenn ich es nicht selbst gelesen hätte (ich glaube bei Oelkers oder Fend), würde ich es nicht glauben, aber selbst zur Kaiserzeit wurde schon auf selbständiges Lernen und möglichst wenig Vorgabe durch die Lehrperson gesetzt. Sogenannte Unterrichtsinspektoren der damaligen Zeit haben dies von angehenden Lehrkräften eingefordert und kritisiert, wenn diese zu viel Dominanz im Klassenraum an den Tag legten.


    Wahrscheinlich war es schon immer so, dass man die Erziehung für die Generationendifferenz verantwortlich machte. Daher schließe ich denn auch mit Sokrates:


    "Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer!"


    der Buntflieger

    Einmal editiert, zuletzt von Buntflieger ()

  • Ich würde bestreiten, dass 50% der Generation der, sagen wir mal, unter 20-jährigen, sich wegen schwerer Verhaltensstörungen in psychiatrischer Behandlung befindet oder auch nur befinden sollte.

    Wenn ich an unsere Fünftklässler denke, komme ich auf über 50%. Und ich arbeite in keinem ausgewiesenen Problemgebiet.

    • Offizieller Beitrag

    Same here :(

    Bolzbold #5

    Gutmensch und Spaß dabei (= das GG und der Diensteid sind schon 'ne gute Sache 😉)

    "Und hast du die Ausrufezeichen bemerkt? Es sind fünf. Ein sicheres Zeichen dafür, dass jemand die Unterhose auf dem Kopf trägt." (T. Pratchett)

  • @Zirkuskind
    Danke für diesen Artikel! Spricht mir aus der Seele! Und das wiederum bedeutet für mich: ich brauch meine weiteren Gedankengänge dazu hier nicht mehr selber aufschreiben und kann jetzt ganz entspannt in den Garten... (offline!!!!!)


    Allen ein schönes sonniges Wochenende noch!

    "Die Wahrheit ist ein Zitronenbaiser!" Freitag O'Leary

  • das angebliche sokrates-zitat ist ein sehr altes fake. sagte kant.


    Hallo keckks,


    als Fake würde ich es nicht bezeichnen, aber richtig ist, dass es wohl eine komprimierte Fassung oder sehr freie Übersetzung dessen ist (sinngemäß also), was in Platons "Politeia" durch Sokrates in Sachen Erziehung/Schule kundgetan wird.


    der Buntflieger

  • In der Zeit eine Rezension zu Winterhoffs Buch. Er kommt nicht sonderlich gut weg und der Autor schreibt gut differenzierte Dinge über Unterricht.


    Meiner Meinung nach lesenswert.


    https://www.zeit.de/amp/gesell…ssystem-paedagogik-kinder


    Hallo Zirkuskind,


    der Spiewak hat schon Kaliber wie Precht oder Hüther sachlich-nüchtern zerlegt, da ist der Winterhoff allenfalls ein kleines Häppchen im Vergleich.


    Solange die empirische Bildungswissenschaft nicht tonangebend ist, darf halt jeder vermeintliche "Experte" mal ran und öffentlich seine ganz persönliche Sicht auf Schule und Bildung prophetisch verkünden.


    Witzig war ein Kommentar unter einem Video (Lanz-Sendung), dort schrieb ein von der ständigen und sich nunmehr selbst widersprechenden Kritik am Bildungssystem sichtlich verwirrter Nutzer, dass dieses Land (gemeint ist wohl Deutschland) kaputt sei.


    Nicht das Land ist kaputt, aber die Neuronen im Oberstübchen sind wohl explodiert beim Versuch, die komplexe Realität in eine einfache Sandelform zu gießen. ;)


    der Buntflieger

  • Ich hab's mal recherchiert gehabt: Das Sokrates-Zitat ist so sehr frei, dass ich es durchaus falsch nennen würde. (Und in vielen Varianten verbreitet.) Es lag mir auch auf der Zunge, das zu monieren, hab's mir aber verkniffen, aber jetzt muss ich keckks unterstützen. Platon schreibt, in einer Übersetzung:


    Zitat

    Der Lehrer fürchtet seine Schüler und schmeichelt ihnen, die Schüler haben keine Achtung vor den Lehrern und so auch vor ihren Erziehern. Und überhaupt spielen die jungen Leute die Rolle der Alten und wetteifern mit ihnen in Wort und Tat, während die Alten sich in die Gesellschaft der jungen Burschen herbeilassen, dabei von Witzeleien und Späßen überfließen, ähnlich den Jungen, damit sie nur ja nicht als griesgrämig, nicht als herrisch erscheinen.

    Allerdings spricht er auch da nicht von seiner gegenwärtigen Gesellschaft, sondern macht ein hypothetisches Gedankenspiel, einen Zustand auf dem Weg von Aristokratie zu Tyrannis beschreibend.

    Seit 2004 unter dem gleichen Namen im Forum, weitgehend ohne ad hominem.

  • abgesehen davon ist es auch bezeichnend, zitate, die platon sokrates in den mund legt, mit "sokrates" zu unterschreiben. und dann auch noch was aus der "politeia" - einem ausgesprochen totalitären staatsentwurf. wohl bekomm's.

  • abgesehen davon ist es auch bezeichnend, zitate, die platon sokrates in den mund legt, mit "sokrates" zu unterschreiben. und dann auch noch was aus der "politeia" - einem ausgesprochen totalitären staatsentwurf. wohl bekomm's.


    Hallo keckks,


    inzwischen hat man wohl herausgefunden, wie das falsche Zitat (es ist tatsächlich grob falsch, danke für den Hinweis Herr Rau) in Umlauf kam.


    Demnach stammt es aus der Dissertation eines gewissen Kenneth John Freeman, im Jahre 1907 benutzte er diese Formulierung, um verbreitete Beschwerden antiker Autoren gegenüber der Jugend zusammenzufassen.


    Quelle: https://quoteinvestigator.com/2010/05/01/misbehave/


    der Buntflieger

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