Einschätzung zur Situation des Lehramts

  • Hallo zusammen,


    derzeit studiere ich Wirtschaftsmathematik im 2. Semester, über viele Erfahrungsberichte (sowie Reallife-Berichte) habe ich gemerkt, dass die gängigen Jobbereiche (Banken, Versicherungen, Unternehmensberatung) absolut nicht mein Ding wären.
    Ein Teilgrund ist der, dass ich recht antikapitalistisch eingestellt bin (und mich z.b. als Banker absolut 0 identifizieren könnte), zum anderen viele Banker/Versicherungsjobs durch die Digitalisierung vermutlich wegfallen werden. (Unternehmensberatung ist auch eher so ein klassischer 60h/Woche Karrierejob, was mich wohl langfristig eher depressiv machen würde).


    Nun habe ich mir überlegt Gymnasiallehramt auf Mathe/Physik oder Mathe/Wirtschaft zu studieren. (Bestenfalls für fos/bos, da hier die Schüler aus der Pubertät raus sind, aber Gymnasium fände ich auch in Ordnung)


    Ansich bin ich ein recht selbstbewusster und wortgewandter Mensch, wodurch mir das Sprechen vor Klassen (nach gewisser Gewohnheit) keine Probleme bereiten sollte. (Auch wenn ich hier noch gezielt an meiner Schrift und meinen Präsentationsfähigkeiten arbeiten muss).


    Was Didaktik anbelangt, ist das bei mir wohl ein wenig schwankend. Als ich vor 1-2 Jahren einem meiner Bruder oder Klassenkameraden Mathe erklären wollte, wurde mir auch häufiger gesagt, dass ich zu schnell und kompliziert erkläre. (Wobei ich hier anmerken muss, dass ich hier schon immer sehr geduldig/freudlich erklärt habe, unabhängig davon wie häufig ein Thema erklärt werden sollte)
    Neben der Tatsache, dass die Erklärungen häufig spontan waren, lag das aber auch mitunter daran, dass ich damals wohl zu erhöhten Stresshormonlevels (=Cortisol) neigte und deswegen etwas hektischer erklärte.
    Als ich nun meinem anderen Bruder vor ein paar Wochen Mathe erklärt habe (auch ein wenig mit gezieler vorbereitung), erhielt ich sehr positive Resonanz bzgl. Pädagogik/Didaktik, auch da ich sehr geduldig/ruhig und wohl auch ziemlich gut erklärt habe.
    Von der Tatsache abgesehen, dass ich mir über die Zeit bewusst einen langsamen und deutlichen Sprachstil angeeignet habe, war meine Erklärung aber anscheinend vorallem deswegen so viel besser, weil ich mir wohl über das letzte halbe Jahr regelmäßigen Ausdauersport (alle 2-3 Tage Jogen/Schwimmen) und tägliche Meditation angeeignet habe, was wohl meinen Cortisollevel(welcher für hektisches Reden verantwortlich war) extrem gesenkt hat (Ich habe mich aber auch beim erklären deutlich mehr angestrengt)
    Dass meine didaktischen Fähigkeiten anscheinend mitunter davon abhängen, ist aber natürlich auch ein gewisser Kritikpunkt.
    Im allgemeinen ist vielleicht noch hinzuzufügen, dass ich es generell mag, Sachverhalte zu erklären/vermittlen. (Vllt auch teilweise deswegen, weil ich mich intensiv mit Psychologie befasse und mich hierfür auch sehr interessiere)



    Eine andere relevante Frage ist wohl auch, ob ich ein wenig zu kühl/nicht sozial genug bin.
    Ich rede zwar unter Freunden/Familie schon ziemlich viel, bin aber nicht unbedingt der Typ Mensch, der leicht soziale Kontakte findet (häufig fehlt auch ein wenig das Bedürfnis)
    Im Wirtschaftsmathe-Studium habe ich mich im ersten Semester beispielsweise nur mit 1 Person angefreundet (und mit 1 oberflächlich), da inzwischen beide abgebrochen habe, bin ich momentan alleine in der Uni (was mich jedoch nicht besonders stört, ich kann anscheinend ziemlich lange problemlos alleine sein)
    Ich wäre dementsprechend also vermutlich auch nicht wirklich der Typ Mensch, der jetzt unbedingt auf Klassenfahrten fahren wollen würde.



    Wäre schön, ein paar Gedanken zu meiner Situation zu hören :)

  • Mathematik/Physik oder Mathematik/Wirtschaft auf Lehramt an Gymnasien hört sich gut an :)


    Ich würde dir raten, ein Praktikum an einem Gymnasium und an einer FOS/BOS zu machen. Lehrer sind auch ganz normale Menschen und dürfen auch im Privatleben eher introvertiert sein.

  • Ich würde dir auch empfehlen ein Praktikum zu machen. Denn du hast in der Berufschule zwar ältere SuS, diese sind aber je nach Klasse auch erst 14/15. Zudem sind Schüler häufig anders in der Schule, als wenn sie Nachhilfe bekommen. Da spielt die Pädagogik plötzlich eine deutlich größere Rolle als die Didaktik/Methodik

  • Warum hast du denn mit Wirtschaftsmathematik begonnen? Also was war deine Intention, bzw dein Berufswunsch? Oder reines Interesse an dem Fach?


    Die Kombination ist sicherlich sinnvoll.
    Praktikum ist noch viel sinnvoller.
    Nachhilfe und gut erklären können hat nur bedingt was mit dem System Schule am Ende zu tun.

  • Warum hast du denn mit Wirtschaftsmathematik begonnen? Also was war deine Intention, bzw dein Berufswunsch? Oder reines Interesse an dem Fach?


    Die Kombination ist sicherlich sinnvoll.
    Praktikum ist noch viel sinnvoller.
    Nachhilfe und gut erklären können hat nur bedingt was mit dem System Schule am Ende zu tun.

    Es war das reine Interesse am Fach, ich mochte Rechnungswesen sowie Mathe (insb. Analysis/Stochastik) sehr gerne in der Schulzeit, da dem außerdem gute Jobaussichten zugesprochen wurden und von Lehrern empfohlen wurde, hielt ich es für naheliegend. Ich bin hier auch zugegebenermaßen ein wenig blauäugig herangegangen, habe also inzwischen ein konkreteres Bild in Bezug auf die konkreten Persönlichkeitsmerkmale für diesen Jobbereich.
    Ich habe mich über das letze Jahr diesbezüglich auch ziemlich massiv verändert. Die Informatik-Kurse sagten mir auch eher weniger zu.




    Das mit dem Cortisolspiegel wird an der Schule in vielen Situationen nicht besser werden. Adrenalin eher auch nicht.

    Sofern ich regelmäßig Ausdauersport und Meditation betreibe, ist es kaum möglich mich zu stressen, wenn ich aber beispielsweise übermüdet bin und/oder eine Sportpause machen musste, merke ich schon, dass ich mich mehr anstrengen muss, um langsam zu reden. Das ist zugegebenermaßen nicht ganz unkritisch. Nach einer gewissen Zeit, setzt aber hier hoffentlich ein Gewohnheitseffekt ein

  • Eine kleine Meditation zum Thema Lehrerpersönlichkeit, vielleicht hilfreich für dich.
    Im Privatleben bin ich sehr introvertiert, in der Schule noch ein bisschen - aber vor meinen Klassen auch mal den Clown zu spielen kostet mich keine Überwindung. Interessanterweise fühle ich mich in und vor der Klasse sehr wohl und Kommunikation mit meinen Lernenden macht mir grosse Freude. Liegt vielleicht an der Rolle...der Vergleich zum Theater wurde ja schon oft bemüht, es gibt von Mathematikdidaktiker Martin Kramer auch ein schönes Buch dazu.
    Zwei Persönlichkeitsmerkmale machen aber meines Erachtens den Lehrerjob schwierig bzw. sind ein First-Class-Ticket zum Burnout: Angst vor Menschen und Perfektionismus. Wer mit dem Gedanken daran, vor einer Klasse stehen zu müssen, kaum schlafen kann und/oder sich von seinen Schülern ständig beobachtet fühlt und hinterfragt, was sie von einem denken, hält den Job nicht lange durch. Wer seine ganze Freizeit opfert, um auch das sprichwörtliche letzte Komma in seinen Arbeitsblättern richtig zu bekommen, auch nicht.

  • Zwei Persönlichkeitsmerkmale machen aber meines Erachtens den Lehrerjob schwierig bzw. sind ein First-Class-Ticket zum Burnout: Angst vor Menschen und Perfektionismus. Wer mit dem Gedanken daran, vor einer Klasse stehen zu müssen, kaum schlafen kann und/oder sich von seinen Schülern ständig beobachtet fühlt und hinterfragt, was sie von einem denken, hält den Job nicht lange durch.

    Ich habe beide und komme damit klar. Perfektionismus ist ein lediglich qualitativ absoluter Begriff und wird nur in Situationen problematisch, in denen andere für dich definieren, was die Zielvorstellung zu sein hat. Infolgedessen war mein Ref problematisch. Was danach kam ist ne andere Geschichte, denn dann bist du dein eigener Herr und den Burnout perfektionistisch zu verfolgen muss ja nicht mehr dein Ziel sein. 8o
    Angst vor Menschen kann problematisch sein, wenn es die Schüler sind, die dir Angst einjagen, weil der Job halt von der Zeit her mehrheitlich mit denen zusammenhängt. Wenn du aber Rückhalt hast an der Kollegen-/SL-front ist dein Unterricht wie eine schnell wirkende Konfrontationstherapie. Rückfall nur bei Vertretungsunterricht in neuen Klassen nicht ausgeschlossen. Gibt sich aber mit den Jahren.

    "A lack of planing on your side does not constitute an emergency on my side."

  • Schöner und sehr persönlicher Beitrag @Thamiel , der gerade sehr viel in mir anstößt. Danke.



    Zitat von SuperKomparativ

    Sofern ich regelmäßig Ausdauersport und Meditation betreibe, ist es kaum möglich mich zu stressen, wenn ich aber beispielsweise übermüdet bin und/oder eine Sportpause machen musste, merke ich schon, dass ich mich mehr anstrengen muss, um langsam zu reden. Das ist zugegebenermaßen nicht ganz unkritisch. Nach einer gewissen Zeit, setzt aber hier hoffentlich ein Gewohnheitseffekt ein

    Übermüdet und zu wenig Zeit für Sport- liest sich nach dem Dauerzustand eines Refs und Junglehrers. ;) Da ich auch sehr expresszugartig sprechen kann (essentiell, wenn man in manchen Teilen Frankreichs kommunikativ überleben will- aber das ist ein anderes Thema), weiß ich, dass man das neben der Arbeit an der inneren Gelassenheit vor allem dadurch ganz gut regeln und normalisieren kann, dass man bewusst für sein und mit seinem Gegenüber spricht: Wenn du etwas erklärst, mach dir klar, dass du verstanden werden willst und gib deinem Gegenüber den Raum mitdenken zu können. Bewusst innerlich einen Punkt setzen und dabei eine Atempause einbauen. Bewusst einen kurzen Denkstopp einbauen, damit z.B. Raum für Fragen entstehen kann. Das hat einerseits etwas mit einer gewissen Empathie und "Kundenorientierung" zu tun und andererseits etwas mit Didaktik. Viele Refs haben ihre Schwierigkeiten damit und wissen- anders als du- nicht, wie sie sich selbst helfen können innere Gelassenheit aufzubauen. Dieser Baustein ist dir bereits bekannt, den Rest kannst du vermutlich lernen, wenn du es willst und bereits bist dich entsprechend auf dein Gegenüber einzulassen und einzustellen.


    Der Vorschlag mit dem Praktikum klingt für mich sehr vernünftig, damit du für dich selbst klären kannst, ob der Beruf in realiter etwas für dich sein könnte. Man muss als Lehrer keine Rampensau sein, lediglich in der beruflichen Rolle ein ausreichendes Maß an Extraversion entwickeln und leben, damit man in seiner beruflichen Rolle bestehen, die (er)füllen und - im Idealfall- glücklich sein kann. Wie du dann in deinen diversen privaten Rollen bist als Mensch ist davon erstmal recht unabhängig.

    "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule." Domenico Squillace

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