Also gut, ich versuch's.
Mit andern Worten ist deine Antwort: Nein, um Naturwissenschaften zu unterrichten brauche ich kein vertieftes Verständnis für die Systematik des Fachs.
Ich weiss nicht, ob man das so sagen kann bzw. wie genau "Systematik" an der Stelle nun definiert ist. Wie erkläre ich das jetzt ... Ich bleibe mal bei der Chemie, denn da kenne ich mich ja aus. Ich meine, ich habe folgendes hier schon mal irgendwo geschrieben: Chemie ist zwar aus ökonomischer Sicht wahrscheinlich die "wichtigste" Naturwissenschaft, es kann ja jeder mal versuchen sich vorzustellen, wie das Leben ohne Pharmazeutika, Kosmetika und Kunststoffe aussehen würde (unter anderem). Gleichzeitig ist das Fachwissen der Chemie für jemanden, der beruflich nichts damit zu tun hat, komplett nutzlos. Physikalisches Fachwissen z. B. wendet jeder von uns jeden Tag unbewusst an. Jeder weiss, dass es einen auf die Schnauze haut, wenn der Bus bremst und man sich stehenderweise nicht festhält. Ob man jetzt weiss, dass die Oberfläche einer Regenjacke hydrophob ist und was auf molekularer Ebene dahinter steckt, das ist vollkommen egal. Hauptsache die Regenjacke hält dicht und sie hält nicht mehr und nicht weniger dicht wenn man jetzt vertieftes Wissen darüber hat, warum sie das tut.
Was wäre denn jetzt eigentlich für einen Schüler wirklich interessant über Chemie zu wissen wenn er hinterher im Studium was ganz anders macht? Er wird in seinem ganzen grossen Leben eben nie wieder damit konfrontiert sein entscheiden zu müssen, ob ein Molekül nun wasserstoffbrückenfähig ist, oder nicht. Genau darum geht es aber im fachwissenschaftlichen Teil eines Chemiestudiums. Es geht darum Reaktionsmechanismen zu verstehen, Synthesen zu planen, diese durchzuführen, das Produkt aufzureinigen und zu untersuchen. Das tangiert zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise das Leben eines Nicht-Chemikers. Ein Lehrer, der das Fach unterrichtet, sollte also zumindest mal grundsätzlich Ahnung von solchen Dingen haben, denn er muss ja seinen Unterricht mit fachlichen Inhalten füllen. Sehr viel wichtiger ist es aber - meiner Ansicht nach - den Jugendlichen die grundsätzliche Denkweise eines Naturwissenschaftlers zu vermitteln. Es geht um Hypothesen, die einer Falsifizierung standhalten müssen, um Experimente, die Hypothesen stützen und reproduzierbar sein müssen, es geht ums Modelldenken und das Verständnis dafür, dass Modelle Grenzen haben und Naturwissenschaftler grundsätzlich niemals auf alles eine Antwort geben können. Es geht darum, sich als amoralische Instanz zu begreifen (ich erwähnte es erst kürzlich schon mal im Thread über die Kirche), die fürs rationale Argumentieren und Diskutieren von Fakten zuständig ist. All das würde ich in einem Lehramtsstudium jetzt mal ganz stark in der fachdidaktischen Ausbildung wähnen, aber dazu müsste sich jetzt eben mal jemand äussern, der in Deutschland ein NaWi-Lehramtsstudium absolviert hat. In jedem Fall ist es dafür absolut nicht notwendig, die reinen Fachinhalte des Hauptstudiums gelernt zu haben. Wichtig wäre es meiner Ansicht nach, mal überhaupt irgendeine Art von wissenschaftlicher Arbeit selbständig geplant und durchgeführt zu haben. Ob es da aus rein fachlicher Perspektive jetzt um eine simple Kondensationsreaktion geht oder um irgendeine depperte Metathese-Reaktion über die man eben erst im Hauptstudium erst was lernt, ist meiner Einschätzung nach wurscht. Ein Chemiestudium beinhaltet eben enorm viel Praxis, die man aber nicht notwendigerweise beherrschen muss um die grundsätzliche Systematik zu verstehen.
Ich mache hier jetzt mal erst einen Punkt, hätte aber noch sehr viel mehr dazu zu schreiben. Vor allem wir Chemiker (auch an der Schule) erleben nämlich gerade jetzt einen ziemlich krassen Generationenwechsel und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr häufig noch mit Chemikern der "alten Garde" diskutiert und daher einiges an Missverständnissen und Vorurteilen kommt. Ich warte jetzt erst mal auf Antworten der GeWi-Seite.