Vertieftes Fachwissen bei Gym.Lehrern

  • Ich habe ja nun keine Ahnung von Naturwissenschaften und den entsprechenden Studiengängen, bin aber immer wieder erstaunt, wenn MINT-Kollegen sagen, dass die Studieninhalte für den Unterricht so wenig relevant sind,


    Elektrotechnik: Fast rein mathematische Betrachtung und fachlich schon ab der 3. VL in jeder Veranstaltung viel zu tief.
    Chemie war bei mir sehr viel speziell für Lehramt. Aber auch da 2 Vorlesungen die Stoff haben, welcher für die Schule nicht relevant ist. Dafür hat man andere Modelle, die eher nötig sind nicht behandelt.
    Liegt also meiner Meinung nach eher an der Breite und Tiefe der Fachgebiete und wie stark sie für die Schule runter gebrochen werden, bzw wie speziell das Wissen je nach Bildungsgang ist.

  • ratet mal, was ich gerade eigentlich mache, unterbrochen von ausbruchsversuchen wegen extremer (!) langeweile in richtung forum... möchte jemand spannende klausuren über straftheorien korrigieren? derselbe schmarrn 27x hintereinander, mal mehr, mal weniger falsch? alternativ auch faszinierende und teils sehr opake unfallberichte meiner 5er.

  • @WillG Irgendjemand hat in Deutschland mal beschlossen, dass für die Fächer Chemie, Physik und Biologie (möglicherweise auch Mathe, da bin ich jetzt zu faul die Studienpläne anzuschauen) der fachwissenschaftliche Bachelor fürs Lehramt reicht. Schau Dir die Lehrpläne in den Fächern an und schau Dir die Studienpläne an. Weitestgehend deckungsgleich würde ich sagen. Was ich im Hauptstudium gelernt habe, würde ich an einem deutschen Gymnasium niemals unterrichten, nicht mal ansatzweise, kommt in den Lehrplänen so nicht vor. Hier mache ich mir manchmal den Spass, weil's das System halt zulässt. Das Verständnis der Thermodynamik z. B. ist mit dem Grundstudium ausreichend vertieft um das Teilgebiet problemlos auch in der Obersrufe unterrichten zu können. Im Hauptstudium kommt da noch statistische Thermodynamik und Spektroskopie dazu, das ist dermassen speziell, dass es ein Lehrer wirklich nicht wissen muss. Ich stelle mir einzig die Frage, wie gut es ist, dass so viel Wissenschaftspropädeutik fehlt, denn wie bereits geschrieben belegen die Forschungspraktika einen sehr grossen Teil des Masterstudiums und die fehlen den Lehrämtlern halt. Ob das an irgendeiner Stelle kompensiert wird musst Du Deine Kollegen fragen, die diese Fächer unterrichten.

  • Chemie war bei mir sehr viel speziell für Lehramt. Aber auch da 2 Vorlesungen die Stoff haben, welcher für die Schule nicht relevant ist. Dafür hat man andere Modelle, die eher nötig sind nicht behandelt.

    Eigentlich wollte ich mich inhaltlich zu der Diskussion gar nicht mehr äußern, weil ich das schon so oft getan habe. Aber diese Aussage betrifft genau mein Kernargument in dieser Sache:
    Ich habe in meinem Studium (Germanistik/Anglistik) kaum Dinge gemacht, die ich inhaltlich in den Lehrplänen wiederfinde. Da geht es in Englisch um Grammatikregeln, um Multiculturalism, um Apartheid etc. In Deutsch geht es um Aufsatzarten wie Inhaltsangaben, Erlebniserzählungen, Gedichtanalysen oder um Schulgrammatik oder um klassische Schullektüren, angefangen bei Krabat bis hin zu Faust oder Homo Faber. Nicht eines dieser Themen habe ich im (Haupt-)Studium in irgendeinem Seminar behandelt. Da hatte ich Seminare zu Thomas Mann, zur sog. Kasusgrammatik (die mit Subjekt/Prädikat/Objekt) nichts zu tun hat oder zu frühneuhochdeutschen Bibelübersetzungen. In Englisch hatte ich Seminare zu Morphologie ("Bausteine" von Wörtern), zur Kultur von Irland und zu "English as a World Language!


    Mein Dauerargument ist jetzt aber, dass ich durch diese sehr speziellen Seminare gelernt habe, wie meine Fächer "funktionieren": Ich weiß, wie Sprache aufgebaut ist und habe linguistische Denk- und Herangehensweisen entwickelt. Ich kenne die Strukturelemente von Literatur und literaturwissenschaftliche Methoden zur Analyse und Interpretation. Ich habe verstanden, was der Begriff "Kultur" bedeutet und kann mich jeder Kultur mit interkulturellen und zum Teil sogar anthrologischen Fragestellungen nähern.
    Und das brauche ich jeden Tag für meine Unterrichtsvorbereitung. Denn dieses Wissen hilft mir, mich eben damit zu beschäftigen, wie so eine banale Erlebniserzählung oder auch eine Gedichtanalyse aussehen müssen, um wesentliche Dinge abzuprüfen. Ich kann mir nahezu jeden Text selbständig und schnell erschließen, egal ob es Krabat ist oder die "Iphigenie auf Tauris". Ich weiß, worauf ich achten muss, wenn im Lehrplan plötzlich Kanada auftaucht, obwohl ich mich mit diesem Land noch nie Beschäftigt habe.
    Und weil ich eben immer fachwissenschaftlich das große Ganze im Blick haben kann, weiß ich, wie ich meine Sequenzen aufbauben muss, wo mögliche Fallstricke für Schüler entstehen, wo ich "Abkürzungen" (aka didaktische Reduktion) nehmen kann und wo ich es den Schülern nicht ersparen kann, sich durch schwierige, abstrakte Inhalte durchzubeißen. Dafür brauche ich das Wissen aud dem Thomas Mann Hauptseminar und sogar die ätzend langweiligen Bibelübersetzungen sind Teil dieses Fachwissens.
    Und letztlich hilft mir dieses umfangreiche Fachwissen dabei, Schülerantworten richtig einzuordnen und darauf zu reagieren. Auch bei Korrektur und Bewertung. Sonst könnte ich nur "Kochrezpte" unterrichten und bewerten: "Als ersten Schritt müsst ihr das Metrum bestimmen. Alles andere ist falsch...". Das wäre furchtbar und würde meinen Fächern nicht im Geringsten gerecht werden.


    Das hat übrigens mit ausgefallenen Schülerfragen oder (insg. auch eher trivialen) LK-Ansprüchen überhaupt nichts zu tun. Das ist meine berufliche Realität, egal ob ich in der fünften Klasse unterrichte oder Abitur korrigiere.


    Und jetzt frage ich mich, ob das in den MINT-Fächern wirklich so viel anders ist. Brauche ich da denn kein vertieftes Verständnis für die Systematik des Fachs - auf einer abstrakten Ebene, die ich niemals im Unterricht verbalisieren werde - um meinen Unterricht angemessen planen und durchführen zu können? Irgendwie will ich das nicht glauben.


    So, jetzt habe ich mich doch wieder hinreißen lassen. Liegt aber auch daran, dass ich eigentlich korrigieren wollte.

  • ich glaube, naturwissenschaftler brauchen das tiefere verständnis für ihre fachsemantiken auch, sie wissen nur nicht, dass sie die überhaupt selbst in der simpelsten anfängerstunde nutzen, weil ihre fächer ihnen nie vermittelt haben, auf rahmungen ("framing"), semantiken, leitunterscheidungen, wissensordnungen, horizonte oder wie man es immer nennen mag, zu schauen. sie lernen, diese rahmungen zu benutzen ("praktiken"), sie lernen nicht, sie explizit als solche in den blick zu nehmen. blinder fleck halt, führt dann zu den obigen äußerungen. ist aber irgendwie logisch, man sieht sowas ja eigentlich nur, wenn man sich länger und intensiver mit sozial- oder geisteswissenschaften befasst. schulunterricht ist im sinne der wissenschaftspropädeutik vor allem die vermitlungen solcher praktiken/rahmungen, und wenn der lehrer diese praktiken selbst nicht wirklich reflektiert hat, ist/er sie - zumindest in den geisteswissenschaften - zum kochrezept verurteilt. kennen die sprachenkollegen doch alle, den einen kollegen, der immer oberstufe macht, und immer eigentlich gute oder sehr gute sus notentechnisch abtraft, weil sie es wagen, das kochrezept sinnvoll weiterzudenken.

  • @WillG Es spielt eigentlich keine Rolle, ob Du das glaubst oder nicht. Guck dir einfach die Studienpläne der entsprechenden Fächer an und vergleiche sie mit denen der zugehörigen MSc-Studiengänge.

  • Und jetzt frage ich mich, ob das in den MINT-Fächern wirklich so viel anders ist. Brauche ich da denn kein vertieftes Verständnis für die Systematik des Fachs - auf einer abstrakten Ebene, die ich niemals im Unterricht verbalisieren werde - um meinen Unterricht angemessen planen und durchführen zu können? Irgendwie will ich das nicht glauben.

    Es spielt eigentlich keine Rolle, ob Du das glaubst oder nicht. Guck dir einfach die Studienpläne der entsprechenden Fächer an und vergleiche sie mit denen der zugehörigen MSc-Studiengänge.

    Mit andern Worten ist deine Antwort: Nein, um Naturwissenschaften zu unterrichten brauche ich kein vertieftes Verständnis für die Systematik des Fachs. Krass, irgendwie.
    EDIT: Bzw. ja nicht unbedingt deine Antwort, vielmehr die Antwort der Fachverantwortlichen für die Studienpläne. Nicht weniger krass, irgendwie.
    Nochmal EDIT: Es spielt eigentlich keine Rolle, was irgendwer von uns zu irgendeinem Thema glaubt, denkt oder meint. Warum diskutieren wir dann überhaupt?

  • ...,denn ich traue jemandem, der die ersten Semester im Mathestudium heil übersteht, schon ohne Weiteres zu, Oberstufenmathematik fachlich einwandfrei durchdringen zu können.

    Sorry, aber jetzt wird es lächerlich. Und das gilt wohl für alle Unterrichtsfächer am Gymnasium (da will der TE schließlich hin). Erst soll ein nur knapp bestandener Bachelor fachlich reichen, und jezt sogar das "heile überstehen" der ersten paar Semester in einem Fachstudium. Wer mit diesem "soliden" Wissen Schüler auf die Abiturprüfung und die Hochschulreife vorbereiten will, der macht das sicherlich, indem er Stunde um Stunde die Kopiervorlagen der diversen Bildungsverlage einsetzt, weil er selber keinen Plan von der Materie hat... das kann dann auch der Hausmeister, die Lösungen kann man ja dann gleich mitkopieren...


    ... ,bin aber immer wieder erstaunt, wenn MINT-Kollegen sagen, dass die Studieninhalte für den Unterricht so wenig relevant sind, während die Geisteswissenschaftler tendenziell eher auf das gesamte Fachstudium schwören.
    [ironie]Das kann ja nur bedeuten, dass der MINT-Unterricht inhaltlich deutlich weniger komplex ist als der Unterricht in den Geisteswissenschaften![/ironie] :stumm: :top: :pfeifen:

    Oder es könnte auch bedeuten, dass das MINT-Studium deutlich komplexer als das Studium der Geisteswissenschaften ist...


    Ein bisschen Bedenken habe ich auch bei diesem Satz. Gerade Sek I / II kann mit vielen Parallelklassen sehr eintönig werden.

    Da darf er sich dann ja schon einmal auf das stundenlange, oft sogar tagelange Korriegieren von Klassenarbeiten, Klausuren und Abiturarbeiten am Gymnasium freuen, der Schulform mit der höchsten Korrekturbelastung (wo er ja hin will). Je mehr ich hier vom TE lesen, umso eher muss ich ihm ausgerechnet vom Gymnasium abraten...


    Gruß !

    Mikael - Experte für das Lehren und Lernen

  • es ist nice, wie sich hier im prinzip das hermeneutische denken (was denkt wer worüber warum und wie beeinflusst das seine äußerungen in allen formen, auch sein handeln usw.: was denken wir, und warum ist das wichtig) und das naturwissenschaftliche denken (empirie, erklärung durch allgemeines gesetz, fertig, schau: studienpläne!) spiegeln.

  • Oder es könnte auch bedeuten, dass das MINT-Studium deutlich komplexer als das Studium der Geisteswissenschaften ist...

    Ich hatte gehofft, dass die Ironie-Tags und die Smileys deutlich machen, dass ich keinen Absolutheitsanspruch auf meine These erhebe. Advocatus diaboli und so...

  • @Moderatoren: Könnten wir das Thema wohl auslagern in einen eigenen Thread? Ich finde es nämlich schade, dass die Diskussion immer wieder aus einer "Streitsituation" heraus aufkommt und es dann immer nur noch ums vermeintliche "Recht haben" geht. Grundsätzlich finde ich die Diskussion nämlich ausgesprochen spannend und finde, dass sie unbedingt mal ohne spitze Seitenhiebe und den ewig unterschwelligen Schwanzvergleich welche Fächer jetzt wohl toller und nützlicher sind geführt werden müsste.



    Nochmal EDIT: Es spielt eigentlich keine Rolle, was irgendwer von uns zu irgendeinem Thema glaubt, denkt oder meint. Warum diskutieren wir dann überhaupt?

    Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt, Du hast mich da glaube falsch verstanden. Es ist einfach müssig, immer wieder in Frage zu stellen, ob ein NaWi-Lehrämtler in Deutschland jetzt wohl WIRKLICH weniger Fachausbildung als ein MSc hat, es ist halt einfach so. Dafür gibt es Studienpläne die man sich anschauen kann und da sind die Unterschiede doch ganz offensichtlich. Ob das jetzt sinnvoll so ist, das ist ja die eigentlich spannende Frage, die man gerne diskutieren kann. Wenn einvernehmliches Interesse an solch einer Diskussion besteht, wäre ich auf jeden Fall bereit, mich dazu mal ausführlicher zu äussern.

  • Dann haben wir wohl das Thema unterschiedlich verstanden. Mir ging es weder darum zu diskutieren, welche Fächer wichtiger, cooler, anspruchsvoller etc. sind, noch darum in Frage zu stellen, was man im NaWi-Studium in Deutschland lernt.
    Es ging mir um die Frage, wie viel Fachwissen ein Lehrer braucht - und um die spannende Beobachtung, dass dies von Geisteswissenschaftlern und Naturwissenschaftlern offenbar unterschiedlich wahrgenommen wird. Der Grund dafür hat mich interessiert.

  • ich glaube, er (?) wollte dich nicht angreifen, er hat nur versucht, den hier offensichtlichen unterschied in der art und weise des denkens und damit auch der diskussion und der "beweisführung" (für die geisteswissenschaftler: "argumentation") von geistes- und naturwissenschaftlern zu veranschaulichen anhand deiner aussagen.

  • das naturwissenschaftliche denken (empirie, erklärung durch allgemeines gesetz, fertig, schau: studienpläne!)

    Ich habe mich bis hierhin lediglich zu einem Faktum geäussert. Wenn Du (oder sonst irgendjemand) eine weiterführende Diskussion zum Thema haben willst, nur zu. Dem Naturwissenschaftler zu unterstellen, dass er daran gar nicht interessiert sei ... nun, da könnte ich jetzt ein "typisch Geisteswissenschaftler" schreiben. ;)

  • es geht überhaupt nicht um unterstellungen. es geht um die beobachtung von semantiken, rahmungen, wissensordnungen, modi des argumentierens... ich bin recht sicher, dass je nach "denkausbildung" (im studium erlernten und eingeübten, irgendwann automatisierten denkpraktiken) sogar unterschiedliche "fakten" gesehen werden. das ist irgendwo trivial, aber auch ganz hübsch und durch "interpretation" dieses threads sehr schön aufzeigbar.

  • So bissig und dünnhäutig kenne ich dich gar nicht, @Wollsocken80
    Ich fand Kecks' Bemerkung sehr interessant, da sie wertfrei verschiedene Denkweisen auf den Punkt gebracht hat - und mir im Nachhinein erklärt hat, warum so viele Diskussionen, die ich in der Vergangenheit mit Naturwissenschaftlern geführt habe, für mich so frustrierend verlaufen sind. Meine Diskussionpartner haben damals bestimmt auch "typisch Geisteswissenschaftler" gedacht...

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