Oh Mann, Leute ... ich bin das Geheule echt sowas von leid. Ihr und ich, wir haben *studiert* und zwar die meisten derer, die hier gerade heulen eine *Naturwissenschaft* bzw. irgendwas aus dem technischen Bereich. Geht mal bitte ganz kurz in euch und überlegt euch, wie viele Jahre eures Lebens ihr euch schon tagtäglich mit Zahlen, mathematischen Symbolen und Operationen beschäftigt.
Ich unterrichte an einem Gymnasium in einem Kanton mit einer Maturitätsquote von gerade mal 22 %. Guess what ... auch meine SuS haben Mühe mit Dreisatz und Potenzen. Warum ist das nun so, meine Güte, dafür gibt es viele Ursachen. Wie bereits erwähnt sind Lehrmittel und Methoden andere als zu unserer (glorreichen) Zeit. Sind sie besser oder sind sie schlechter? Keine Ahnung, auf jeden Fall anders. Irgendjemand hatte bei uns mal die drollige Idee das Mathe-Buch der Sek I bunt zu bebildern und mit möglichst vielen abstrusen "Anwendungsaufgaben" zu füllen in der Hoffnung, die Jugend würde sich dann weniger fürchten und hätte mehr Bock aufs Rechnen. Wir haben früher halt relativ stupide immer den gleichen Aufgabentypus geübt solange bis die einen es eben konnten und die anderen gekotzt haben. In meiner Erinnerung waren wir nämlich auch nicht recht viel besser im Dreisatzen als die Dyskalkulie-Jugend von heute. In meinem Abi-Jahrgang mit ca. 50 Leuten hatten um die 15 Wahnsinnige den Mathe LK gewählt, darunter auch ich. Wir konnten es irgendwie, währen die restlichen 35 oder so im Grundkurs völlig untergingen. Und ich meine wirklich völlig, im Sinne von absolut gnadenlos. Keine Dreisatz-Genies weit und breit zu sehen in diesem arme-Würstchen-Haufen. Meine steile Hypothese lautet daher: Die meisten Jugendlichen scheissen einfach auf Mathe und zwar heute ebenso wie früher.
Da sind wir bei einem weiteren Punkt angelangt, an dem es liegen könnte, dass die Dreisatz-Welt im Jahre 2018 gefühlt kurz vor dem Untergang steht. Unseren Jugendlichen scheint es signifikant schwerer fallen, die Arschbacken zu kneifen, als das vor 20 oder 30 Jahren zu unseren (wie bereits erwähnt glorreichen!) Zeiten gewesen sein mag. Vielleicht waren wir aber auch schon Memmen, wer weiss. In jedem Fall beobachte ich häufig, dass meine Jugendlichen wenn's ums Dreisatzen geht, relativ schnell die Flügel strecken weil sie sich selbst zu wenig zutrauen. Da hilft virtuellen Baldrian streuen. Je mehr, desto besser. Bei manchen hilft es aber auch nicht und dann gilt ab irgendeinem Punkt halt mal: gut, dann heul doch, biste selber schuld.
Weiter im Programm. Unser Schulsystem ist nicht - und war es auch noch nie! - darauf ausgelegt unseren Jugendlichen vernetztes Denken anzutrainieren. Das gibt der 45-min-Bulimie-Takt aus Kaisers Zeiten einfach nicht her. Dreisatz und Potenzen, das gehört in die Schublade "Mathe" und die geht nach 45 min, spätestens nach 90 min zu und dann geht die Schublade "Französisch" oder "Geschichte" oder "Sport" auf. In der finden wir dann Subjonctif, Weltkrieg und Speerwurf aber halt keinen Dreisatz und keine Potenzen mehr. Meine armen Schafe gucken mich regelmässig an, als käme ich vom Mond, wenn ich sie frage, was denn wohl der Logarithmus von 10^0 sei. Was hat denn dieser blöde Logarithmus jetzt nur in der Chemie-Schublade zu suchen, da lag der doch bis eben nicht rum?! Nochmal ... ich schreibe über Gymnasiasten und zwar über die rund 20 % intelligentesten und leistungsfähigsten Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs. Sicher krankt das deutsche Schulsystem daran, dass zunehmend mehr SuS an der falschen und für sie zu anspruchsvollen Schulform landen. Meine wirklich herzallerliebsten und wirklich schlauen Schäfchen machen sich beim Dreisatzen und Logarithmieren aber auch in schöner Regelmässigkeit komplett zum Ei.
Dass sie es aber verdammt noch mal doch drauf haben, das merke ich im Projektunterricht oder wenn wir im Labor stehen. Ich habe mit meinen Chemikanten an der Berufsschule Scheissdrecksaufgaben im Stil von "Wie viel Gramm eines zu 30 % verwitterten Natriumcarbonat-Decahydrat müssen Sie einwiegen um 250 mL einer 80 %igen Schwefelsäure vollständig zu neutralisieren?" gerechnet. Alta ey ... ich wiege überhaupt kein verwittertes Natriumcarbonat-Decahydrat ein, das kloppe ich in die Tonne und kauf mir eine neue Packung, die nicht verwittert und verschimmelt ist. So eine Kacke hat einfach *nichts* mit der Realität zu tun. Das soll rechnen wer auch immer Rechnen um des Rechnens willen geil findet, meine Gymnasiasten könnte ich in 100 Jahren nicht dazu bewegen, dafür auch nur den kleinen Finger krumm zu machen. Aber WEHE man gibt ihnen eine KONKRETE Aufgabe, z. B. die komplexometrische Bestimmung des Eisengehalts in Rinderhack versus Spinat, was glaubt ihr, wie die da plötzlich alle rechnen können. Weil sie nämlich immer schon gewusst haben, dass Hack eben doch viel cooler ist, als das blöde Grünzeug. Ich gebe zu, an der Stelle wird es an anderen Schulformen sicher schwierig, aber hey ... es hat ja eben schon seine Berechtigung, dass meine Schäfchen am Ende das Maturzeugnis in der Hand halten und an die altehrwürdige ETH zu Zürich studieren gehen dürfen. Es zeigt nur einfach die Problematik der Schubladisierung des Dreisatzens auf. Gib dem Dreisatz eine für einen halbwegs intelligenten Jugendlichen offensichtliche Daseinsberechtigung und schon zeigt dieser sich auch willens sich mit ihm (dem Dreisatz) zu beschäftigen.
Ein weiteres Anekdötchen möchte ich in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen: Erst gestern kam ein Physik-Kollege ganz aufgeregt zu mir um mir mitzuteilen, dass einer meiner Schwerpunktfachkurse gerade eine sensationell gute Prüfung bei ihm geschrieben hätte. Was das Thema denn gewesen sei, fragte ich ihn. Thermodynamik, Wärmekapazität und so. Ach was ... Na das machen wir in Chemie ja auch gerade. Guck einer an, was es nicht nützen kann EXAKT das gleiche Thema in zwei Schubladen zu finden. Jetzt mag man sich natürlich fragen, warum das mit dem Logarithmus nicht funktionieren will. Nun ... wenn ich meine Schäfchen frage, was sie denn aus dem Mathe-Unterricht bisher über den Logarithmus wüssten, dann kommt meist ein zögerliches "naja ... da war so ein x und ein y und irgendwo ein log und dann haben wir immer die Buchstaben hin- und hergetauscht". Der olle Logarithmus scheint ihnen in der Mathe einfach vollkommen losgelöst von jeglicher Realität so vor sich hinzuvegetieren. Seid doch an der Stelle mal bitte ganz ganz, also wirklich ehrlich zu euch selbst: Wann habt ihr richtig geschnallt, was das eigentlich soll mit dem Logarithmus? Man lernt den erst dann wirklich schätzen, wenn man tagein tagaus höchst selbst mit wirklich grossen Zahlenskalen umgehen muss und sich die Notwendigkeit ergibt, diese möglichst übersichtlich darzustellen. So z. B. wenn man als Chemiker halt mal eben was titriert oder ne Pufferlösung ansetzt oder sonst mal eben zum Spass mit dem Logarithmus kuschelt.
Ein weiteres Problem ist, dass wir unseren Kindern und Jugendlichen heutzutage tatsächlich zu viel und nicht zu wenig zumuten. Aus aktuellem Anlass (über den ich mich nicht weiter äussern will, wie euch sicher nicht entgangen ist rege ich mich eh schon auf) habe ich heute mal unseren Lehrplan Sek I für Chemie gesichtet. Meine Güte, was da alles drinsteht, was meine Schafe alles schon können sollten! Das ist ein müder Witz, wirklich. Ich bin froh, wenn wenigstens eine knappe Mehrheit die dort festgehaltenen Anforderungen nach 3 Jahren Grundlagenfach am Gymnasium erfüllt. Man sollte 13-/14-jährige Kinder wirklich nicht mit Dingen belästigen, die das Abstraktionsvermögen ihres pubertären Gehirns derart überfordern, dass sie im schlimmsten Fall eben auf Dauer komplett dicht machen und ein Fach schon auf dem neuronalen Friedhof beerdigen bevor es richtig losgegangen ist. Ein Blick auf den Lehrplan Mathe lässt mich vermuten, dass es sich in anderen Fächern ähnlich verhält wie mit meiner schönen Chemie. Die regelmässige Lektüre dieses Forums lässt mich weiterhin vermuten, dass der Trend zum "immer schön oberflächlich von allem ein bisschen was und vor allem möglichst früh rein ins kindliche Gehirn prügeln" in Deutschland ein ähnlicher ist, wie hierzulande.
Zuguter letzt ... Jawohl, der Punkt geht an euch: Es ist fatal, dass der politische Wille in Deutschland immer mehr Jugendliche zu Abschlüssen zwingen will, denen sie intellektuell gar nicht gewachsen sind. Ihr habt dafür mein ehrliches Mitleid, ich wollte nicht mit euch tauschen. Ich wünsche euch allen die Kraft euch wenigstens ein bisschen dagegen aufzulehnen und hin und wieder mal zu zeigen, wo der Hammer wirklich hängt. Ich weiss, wie schwer es ist sich durchzusetzen, wenn nicht absolut *alle* an einem Strang ziehen. Aber BITTE ... lasst dieses ewige "wir haben's früher voll drauf gehabt mit dem Dreisatz!!" doch einfach mal stecken. Verklärte Vergangenheitserinnerungen nennt man sowas und die sind kein besonders guter Fachdidaktiker.