Offener Unterricht in einer jahrgangsgemischten Gruppe

  • Ich finde sogar, dass der Film ein abschreckendes Beispiel für diese Art von offenen Unterricht darstellt.


    Nicht vom Material, der Raumaufteilung und der Differenzierung her, sondern von der Durchführung wie Krabappel schon ausgeführt hat. Die Pädagogik fällt da irgendwie unter den Tisch.

  • Krabappel, du stellst treffende Fragen und zeigst gut auf, wo es hakt.


    Der Mumien-Gesprächskreis war nach meiner Auffassung ein freies Gespräch unter SuS, wobei im Grunde nichts sachlich Falsches gesagt wird von den Kindern, bzw. wenn, wird das Unrichtige umgehend durch die anderen richtiggestellt. So gesehen brauchte die Lehrkraft auch nicht zu kanalisieren oder einzuordnen, weil dies unmittelbar durch die MitschülerInnen geleistet wurde.
    An anderer Stelle wird ein Vorstellkreis gezeigt, in welchem freie Eigenproduktionen der SuS vorgestellt werden (Beispiel Rechenaufgaben). Hier kann auch ggf. eine Überarbeitung passieren, wenn es nötig ist.


    Du sprachst in einem zurückliegenden Beitrag von gut umgesetzter Freiarbeit.
    Kannst du das ein bisschen konkreter umreißen oder ein Stichwort dazu geben?

  • eine Montessorischule:


    1. Jedes Kind arbeitet leise mit seinem Material. Kind betätigt eine Glocke, Lehrerin bittet in den Gesprächskreis. L: warum hast du die "Leise-Glocke" (o.ä.) geläutet? K: es entsteht gerade Unruhe L: woran könnte das liegen, was hat dich gestört? K: es schlurfen hier alle so raschelnd rum L: gut, bitte hebt die Füße beim Gehen, damit nicht ständig der Geräuschpegel steigt. Heute Nachmittag schauen wir, ob sich etwas geändert hat und es leiser wurde.
    2. Erstklässler a) arbeitet mit Dinosauriermaterialien, liest Wörter, wie "Ankylosaurus", ordnet Wortkarte, Figur, Bild einander zu. Erstklässler b) sitzt in der Ecke und macht nichts. Auf die Frage, ob Kind b) seit Wochen nichts mache, antwortet die Lehrerinn: ja, so lange er still ist, lasse ich ihn. Nach meiner Erfahrung fängt jedes Kind früher oder später an, aus sich rauszukommen. Wenn dies nicht passieren sollte, teile ich ihm etwas zu.
    3. Praktikantin soll eine Station vorbereiten, annehmend, dass die Kinder schon alles irgendwie selber entscheiden kommt sie schlecht vorbereitet. Mentorin: du musst etwas anbieten, woraus sie wählen können. Das, was sie gelernt haben, dafür sind sie Experten. Ihnen nichts anzubieten, ist kein Unterricht.
    4. Beenden und Wiederholeen der angefangenen Tätigkeit ist Pflicht, Wegräumen genauso.
    5. Jahresplanarbeit, Struktur im Raum, im Material, in den Plänen der Kinder, in den Kindern selbst


    andere freie Schulen, an denen ich hospitieren durfte:
    individuelles Arbeiten, Lerntagebücher, geschwisterliches Arbeiten durch Altersmischung, Zeit zum individuellen Lesen, Erstklässler orientieren sich an Erfahrenen, leckeres und gesundes Mittagessen, liebevoll gestalteter Schulhof...


    eine Erziehungshilfeschule:
    Die angenehmste Klasse ist die, die nach Wochenplänen arbeitet. Traumatisierte, hochaggressive Kinder finden Ruhe. Die SchülerInnen kennen die Abläufe und arbeiten selbständig, erinnern sich gegenseitig an die Regeln. Sie sind nicht fixiert auf den Lehrer und die Konflikte mit ihm. Es war ein Traum!


  • Hallo riegro,


    mich überzeugt Peschel in der oben genannten WDR-Dokumentation als Pädagoge überhaupt nicht. Krabappel hat das ja schon sehr umfassend erläutert. Ich füge noch hinzu, dass ich wenig bis nichts davon halte, Kindern im Grundschulalter die Verantwortung für komplexe soziale Rollen ("Amt des Kreisleiters" etc.) zu übertragen und sie dann alleine zu lassen, wenn es zu Konflikten kommt.


    Vermutlich ist das aber in der Konsequenz Teil des Konzepts vom radikalen Offenen Unterricht nach Peschel: "Offener Unterricht gestattet es dem Schüler, sich unter Freigabe von Raum und Sozialform Wissen und Können innerhalb eines 'offenen Lehrplanes' an selbst gewählten Inhalten auf methodisch individuellem Weg anzueignen. Offener Unterricht zielt im sozialen Bereich auf eine möglichst hohe Mitbestimmung bzw. Mitverantwortung des Schülers bezüglich der Infrastruktur der Klasse, der Regelfindung innerhalb der Klassengemeinschaft sowie der gemeinsamen Gestaltung der Schulzeit ab." (Peschel, Falko (2010): S. 54)


    Die Frage dabei ist doch immer, ob das für die Kinder gut ist, wenn man ihnen dermaßen viel Selbständigkeit abverlangt. Letztlich ist das ja eine erzieherische Maßnahme: Ich überlasse den Kindern das Feld und biete minimale Hilfestellungen an und diese auch nur dann, wenn die maximale Selbständigkeit nicht dadurch gefährdet wird.


    Ich kenne einige SuS, die nach dem Besuch einer Schule mit hohen selbsorganisatorischen Anforderungen um mehrere Schuljahre hinter ihre Altersgenossen zurückgefallen sind und nun wieder von Lehrern in direkter Instruktion Stück um Stück aufgebaut bzw. mit dem verpassten Wissen/Kompetenzen versorgt werden. Die SuS saugen das wie ein Schwamm auf und sind dankbar dafür. Auch im WDR-Beitrag wird ja sehr deutlich, dass solche "Ideen" bzw. "Konzepte" längst nicht für alle Kinder geeignet sind.


    Dabei ist die Theorie des Offenen Unterrichts bzw. selbständigen Lernens durchaus als löchrig zu bezeichnen. Es ist ja nicht mal klar, inwiefern "Selbständigkeit" und "Hilfe zur Selbständigkeit" (also die klassische Aufgabe des Lehrenden) sich in irgend einer Form wechselseitig behindern sollten. Das pädagogische Ideal der Hinführung zur völligen Autonomie ist eben das: ein Ideal. Ob solch eine unbedingte Autonomie überhaupt den menschlichen Grundbedürfnissen und Möglichkeiten entspricht, darf bezweifelt werden.


    Ein Bedürfnis des Menschen ist es aber ganz bestimmt, in Interaktionen mit anderen zu stehen und diese Interaktionen sind immer ein Wechselspiel aus Fremd- und Selbstbestimmung. Vermutlich ist das eine ohne das andere gar nicht denkbar. Ebenso wenig gilt das Ideal der "Individualität" nicht außerhalb des idealen Raumes; kein Individuum kann sich selbst sein, ohne dass ein solcher Status zugleich von anderen gestützt und dadurch ermöglicht, zwangsläufig aber auch immer gefährdet wird.


    Für mich stellt sich also primär nur die Frage, wie wir miteinander umgehen können, um Lernprozesse möglichst sensitiv und adaptiv zu gestalten, so dass situative Bedürfnisse differenziert wahrgenommen werden können und auch adäquat darauf von der Lehrperson reagiert werden kann. Und ich zweifle stark daran, dass Kinder per se das Bedürfnis haben, dass man sie "ihr Ding" machen lässt. Das kann in manchen Lebensphasen der Fall sein, aber ich wage zu behaupten, dass konstruktive Anleitung durch Erwachsene in der Regel sehr erwünscht ist, da dies die Handlungsmöglichkeiten letztlich erweitert und das wissen bzw. spüren auch schon kleine Kinder sehr genau.


    der Buntflieger

    Einmal editiert, zuletzt von Buntflieger ()

  • Der Klassenrat vom Verlag an der Ruhr z.B. kann soziale Mitbestimmung. Richtig anwenden muss man ihn aber, sonst wird ein Rumhacken auf Einzelnen draus. Gesprächseregeln müssen eingehalten werden etc.


    Mann sieht es doch auch unter gebildeten Erwachsenen: wer kann schon Konflikte angemessen klären in einem Raum ohne Gesetze?

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