Nachdem ich jetzt einen guten Monat hier beschäftigt bin, dachte ich, ich erzähle mal ein wenig von meinen Eindrücken. Zunächst mal das Positive: Ich bin sehr gut aufgenommen worden, habe ein tolles Kollegium und die dritte Klasse, die ich bekommen habe ist auch sehr nett, obwohl gewöhnungsbedürftig. Erfahrene Lehrer helfen mir wo sie können mich in diesem bürokratischen Dschungel zurechtzufinden, auch außerhalb der offiziellen Arbeitszeit (wofür ich mich gar nicht genug bedanken kann) und man ist sehr geduldig mit mir. Die Schule ist auch alles andere als eine Problemschule, es geht sehr familiär zu und selbst die Eltern sind relativ normal. Relativ, weil ich die Namensgebung der Kinder nicht mehr nachvollziehen kann, was ist mit den Zeiten passiert, als die Kinder noch Michael, Stefan, Melanie und Daniela hießen... Die ausländischen Kinder haben noch die "normalsten" Namen. Aber ansonsten hatte ich wirklich nette Gespräche und sogar ein wenig Spaß an meinem ersten Elternabend. Man läßt mich auch mehr oder weniger meinen Unterrichtsstil beibehalten, obwohl manche bei meinen Methoden verwundert die Augenbrauen hochziehen (nicht jedoch die älteren Kollegen, die finden meine Einstellung richtig), aber man läßt mich gewähren und auch bei den Eltern findet meine Unterrichtsweise Zuspruch.
Nun zum weniger Angenehmen: Grundsätzlich muß ich sagen, daß ich ein paarmal kurz davor war, meine Sachen zu packen und nach Hause nach Rußland zu fahren. Der Kulturschock war heftig.
Ich bin ja hierher gekommen, weil ich meiner Familie und mir ein besseres Leben ermöglichen wollte und auch, weil ich mich beruflich weiterentwickeln möchte. Ich hatte meine eigene Schulbildung im Westdeutschland der 80er Jahre im Hinterkopf, als ich in Rußland immer sagte, daß die deutsche Schulbildung besser als die russische sei. Nun, da war ich auf dem Holzweg, denn die Bildung die ich dereinst genießen durfte existiert nicht mehr. Ich bin Klassenlehrer einer dritten Klasse, unterrichte dort Deutsch und DaZ und habe in den ersten Wochen auch Mathematik gegeben, und der Wissensstand der Drittklässler in Deutschland bewegt sich auf dem der Erstklässler in Rußland, und das ist keine Übertreibung. Im Kindergarten wird scheinbar nur noch auf die Kinder aufgepaßt und es wird dort nichts gelernt, weder Lesen und Schreiben noch soziale Verhaltensweisen oder Disziplin. Ich kann Kollegen nicht verstehen, bei denen der Lautstärkepegel während des Unterrichts dem eines Flughafens gleicht, weil "offener" Unterricht bevorzugt wird. Für mich ist dieser offene Unterricht nichts anderes als komplette Anarchie.
Auch werden an Seiteneinsteiger für meine Begriffe sehr hohe Anforderungen gestellt. Ich bin ja nun schon Lehrer, habe das studiert, wenn auch nicht in Deutschland, aber ich bin nicht stofflich überfordert, sondern mit der Bürokratie. Dieses klein-klein Verhalten in nahezu allen Berufssituationen ist für mich persönlich sehr anstrengend, und ich möchte mir nicht vorstellen, wie jemand das findet, der jetzt aus einem völlig fremden Fach eingestiegen ist. Ich würde mir auch wünschen, daß das Verhältnis zwischen der Administration inklusive Schulamt und dem Lehrpersonal nicht so kalt wäre wie es ist, aber das ist vermutlich einfach "deutsch"? Ich finde es jedenfalls seltsam, wenn ich jemanden per "Sie" anreden soll mit dem ich arbeite.
Alles in allem habe ich jedoch mittlerweile den Eindruck, daß ich es trotz aller Widrigkeiten hinbekomme, denn das Positive überwiegt. Ich habe meine Klasse wirklich liebgewonnen und freue mich immer noch auf meine Arbeit, naja, wenn nicht zufällig eine Hospitation ansteht, das finde ich extrem nervig.
Ich würde mich freuen, wenn noch andere ihre ersten Erfahrungen in diesem Thread teilen.