Fortsetzung:
- Wenn ich im Unterricht auf Fachbegriffe zurückgreifen muss, die zu einem früheren Zeitpunkt schon gelernt, aber leider wieder vergessen wurden: "Bemühen Sie doch bitte die Suchefunktion im OneNote, irgendwo da steht es schon." Ich muss den Satz zunehmend seltener aussprechen, die SuS erkennen selbst, wie praktisch das ist. Nein, sie verblöden wirklich nicht dadurch, denn in der Prüfung können sie halt nicht OneNote bemühen, so schlau sind sie selber schon auch.
- Ich muss viel weniger weit vorausplanen. Ich schreibe mein eigenes Skript, da es praktisch kein Lehrbuch gibt, dass zu 100 % auf unseren Lehrplan und schon gar nicht zu meinen Vorstellungen von gutem Chemieunterricht passt. Normalerweise sehe ich zu, dass ich zu Beginn einer Unterrichtsreihe schon das ganze Kapitel abgebe und ärgere mich dann jedes mal, wenn zwischendrin irgendwo Verständisprobleme auftauchen und wir dann halt doch wieder auf irgendeinen losen Fresszettel das x-te Zusatzbeispiel schreiben oder einer eine besonders schlaue Frage hat, aus der sich irgendwelche Erweiterungen ergeben, die so auch nicht im Skript stehen. Jetzt füttere ich OneNote mit den ersten 5 Seiten vom Kapitel und schaue dann, was passiert. Meinem Französisch-Kollegen geht es ähnlich, der ist heilfroh, dass er wenigstens für diese Klasse nicht mehr am Kopierer stehen muss sondern jederzeit neues Arbeitsmaterial bereitstellen kann, wie es halt gerade gebraucht wird.
- Ich habe viel weniger Stress mit der Binnendifferenzierung. Meine BYOD-Klasse ist ziemlich heterogen zusammengesetzt, konkret habe ich eine Schülerin, die in der Mittelstufe schon eine Klasse übersprungen hat und definitiv hochbegabt ist. Auf der anderen Seite habe ich SuS, die extrem Mühe mit dem schriftlichen Ausdruck haben und dementsprechend viel Feedback brauchen um sich verbessern zu können. Das kann ich über das Kursnotizbuch jetzt alles individuell gestalten, ohne dass wir ständig sinnlos Zeit im Plenum dafür verschwenden müssen. Selbst wenn der Erfolg meiner Bemühungen eben nicht in Noten messbar ist, steigt aber eindeutig der Wohlfühlfaktor auf beiden Seiten. Ich merke auch, dass die SuS weniger Hemmungen haben, Fehler zu machen, weil ich die im Kursnotizbuch ja im Stillen korrigieren kann und sie sich im Zweifelsfall nicht vor der ganzen Klasse nackig machen müssen. Natürlich besprechen wir wichtige Dinge immer noch im Plenum, aber eben längst nicht mehr jeden Kleinscheiss, der sich viel effektiver individuell lösen lässt.
- Das Kursnotizbuch gibt mir selbst noch mehr Struktur, als ich vorher für mich allein schon hatte. Dort sind jetzt z. B. alle links abgelegt zu Videos etc. die wir für den Unterricht mal gebraucht haben und wir dokumentieren auch selbst Experimente mit Fotos und Videos. Ich schicke auch Musterlösungen zu Übungsaufgaben ins Kursnotizbuch, die die SuS zur Selbstkontrolle nutzen können. Weil ich das so praktisch finde, habe ich jetzt auch meinen analogen Klassen ein Kursnotizbuch eingerichtet, das sie für diese Zwecke nutzen.
- Aus den letzten beiden Punkten ergibt sich unmittelbar, dass die SuS insgesamt selbständiger arbeiten (worauf ich immer schon viel Wert gelegt habe) und ich mich so im Unterricht deutlich zurücknehmen kann. Das ist für mich vor allem psychisch eine spürbare Erleichterung.
Auf Seiten der SuS merke ich durchaus, dass sie in der kurzen Zeit schon erheblich souveräner im Umgang mit der Technik geworden sind und dass sich insgesamt ihre Frusttoleranz verbessert hat. Das funktioniert aber sicher nur, wenn man als Lehrperson geduldig bleibt und den SuS immer das Gefühl vermittelt, dass es nicht schlimm ist, wenn's mal irgendwo hakt und dass das Problem auf der anderen Seite aber wirklich gelöst werden muss, damit es überhaupt weitergeht. Ich finde auch, dass die SuS mit den Laptops konzentrierter arbeiten. Sicher ist es sowieso ein recht angenehmer Kurs mit freundlichen und überwiegend motivierten SuS, aber häufig wirkt es so, als hätte der Laptopbildschirm eine wahrhaft hypnotisierende Wirkung, so dass sie gerne auch mal das Ende der Stunde überhören.
Insgesamt also ein langes und sehr ausdrückliches Statement pro digitalem Unterricht.