Ich muss sagen, ich bin wirklich schockiert. Wie sollen Kinder sensibilisiert für Vorurteile werden, wenn diese von der Lehrkraft reproduziert werden?
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich entschuldige mich also im Vorhinein schon einmal für den vielleicht weniger gut strukturierten Beitrag.
Fangen wir doch mal beim ganz aktuellen Thema an: Antisemitismus. Antisemitismus kann sich unterschiedlich äußern (es gibt verschiedene Möglichkeiten der Unterteilung): Neben einem aktuell thematisierten islamisch-weltanschaulichem Antisemitismus (in dem Fall ganz eng mit dem Nahost-Konflikt verbunden), gibt es strukturellen, israelbezogenen und sekundären Antisemitismus. Grob gesagt kennzeichnet den sekundären Antisemitismus, dass man die Zeit des Nationalsozialismus (erinnerungskulturtechnisch) umdeuten will ("Das Thema müssen wir auch mal abschließen." "Juden profitieren doch eigentlich davon." "Das ist eine einzige große Lüge, es gab den Holocaust nie."). Struktureller Antisemitismus ist ganz gut an dem aktuell diskutierten Video Apokalypse von Kollegah zu beschreiben: Verschwörungstheoretisch wird eine vermeintliche Herrschaft der Juden konstruiert. Insebsondere heißt es dann oft, dass sie die Finanzwelt beherrschen würden ("Ich leih dir Geld, doch nie ohne 'nen jüdischen Zinssatz mit Zündsatz"). Davon gehe dann das Böse dieser Welt aus. Auch israelbezogener Antisemitismus ist nicht zu vergessen. Dieser äußert sich in der Aberkennung des Rechts der Juden auf einen Staat Israel. Man erkennt: Momentan wird nicht nur von Personen hier im Forum der Antisemitismus quasi einer anderen Religion zugeschoben. Dabei ist der Antisemitismus Teil unserer gesamten Gesellschaft. Ich glaube ca. 20% der Deutschen stimmten einer Studie nach der Aussage "Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss" zu. Klare Form des strukturellen Antisemitismus. Ca. 20% teilen also nach mancher Studie latent antisemitische Ansichten. Othering und Framing spielen also eine wichtige Rolle bei der Debatte (ebenso bei Zwangsehen bspw., das ebenso wenig ein rein muslimisches Problem ist, wenn man sich Studien dazu durchliest): Der Zentralrat der Juden hat beispielsweise dies unterstützend betont, dass Antisemitismus kein zugewandertes Problem in Deutschland ist, sondern hier nicht nur Tradition hat, sondern immer noch verbreitet ist. Sprich: Nicht die eigenen Probleme vergessen, wenn man mit dem Finger auf Andere zeigt.
Dann der eine verlinkte Artikel, bei dem schon die Überschrift problematisch ist: "Das Kopftuch ist ein Symbol, wie wenn Rechtsradikale Springerstiefel tragen." Wofür Springerstiefel stehen ist keineswegs so eindeutig, wie da suggeriert wird. Punks oder Gothiks tragen diese ebenso. Ihren Ursprung haben sie wohl im Militär. Wie das Kopftuch werden Springerstiefel also gar nicht nur von Radikalen und Extremisten getragen. Genau das suggeriert der Vergleich aber: Wer ein Kopftuch trage, symbolisiere auch 'Islam-radikalismus' / Islamismus. Also eine ziemliche Pauschalisierung.
Lehrkräfte sollen natürlich nur solche Menschen werden, die keine Extremisten sind. Liberale kopftuchtragende Lehrerinnen würden also sogar dazu beitragen, dass das Kopftuch nicht mehr nur mit einem radikalen Islam verbunden würde. Man braucht eben positive Rollenvorbilder, sprich liberale Musliminnen mit Kopftuch, wie ich sie ja schon in einem Video hier verlinkt habe (Stichwort: (ausgezeichneter) YouTube-Kanal Datteltäter).
Dann haben wir ja schon das nächste Stichwort: Pauschalisierung. Da findet man hier so einige. Islamfeindlichkeit ist übrigens genau so eine Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Antisemitismus. Sollte man sich also drüber Gedanken machen:
ZitatAlles anzeigenIch weiß, was in muslimischen Familien für ein Druck herrscht. [Hervorhebungen durch mich] Mit freiem Willen hat das in vielen Fällen wenig zu tun. Schonmal von Ehrenmorden gehört? Die wenigsten türkischen Mädchen trauen sich, sich wirklich frei zu machen, einen z.B. deutschen Freund nach Hause zu bringen. Akademiker hin oder her.
Wir haben hier in Hamburg keine Klasse mehr, in der unter 50% Migrationshintergrund sind. In meinem Stadteil gibt es viele Klassen mit 90%. Eine Nonne, die hier unterrichtet. Das möchte ich mal erleben. Dann würdest du mal erleben, wie tolerant die Moslems so sind. Hier werden z.T. nicht mal weibliche Lehrkräfte akzeptiert.
*lach*
Letztlich ist es mir völlig wurscht. In meiner Klasse darf man kein Kappi tragen, kein Bandana, Kopftücher, Sonnenbrillen etc..
ZitatIch finde das schlimm und eine kopftuchtragende Lehrerin kann doch nicht ersthaft neutrale Werte vermitteln.
Ich meine Letzteres ist ja wohl ein Vorzeigebeispiel für ein Vorurteil (Herzlichen Glückwunsch übrigens, manche Aussagen schaffen es damit in die Uni zum Thema Gruppenbezogene Menschenfeindlickeit und Präventionsarbeit im Sachunterricht).
Es wird nicht umsonst in einem wissenschaftlich-rationalen Diskurs immer häufiger von Familienkulturen gesprochen und weniger von einer religiösen oder ethnischen Kulturen, um für eine Pauschalisierung zu sensibilisieren.*
ZitatWerden im Christentum die Frauen unterdrückt? Also jetzt heutzutage? In Europa?
JA!
Frauen dürfen in der katholischen Kirche nicht in gewisse Ämter vorrücken. Frauen werden in gewissen christlichen fundamentalistischen Ausprägungen (ganz im Sinne der Bibel, würde ich behaupten) dem Mann unterworfen. Frauen werden in unserer ja angeblich christlich geprägten Gesellschaft diskriminiert und benachteiligt. Mädchen dürfen an manchen Schulen in unserem 'christlich geprägten Land' keine bauchfreien Tops mehr tragen, weil das die Jungs ablenke. Dann dürfen sie sich eine Körperverschleierung im Sekretariat abholen. (Ja, zugegeben, polemisch formuliert.)
ZitatWenn wir nun so verständnisvoll für individuelle Meinungen.sind... Dürfen Lehrer dann auch mit Wahlbutton zur Schule kommen?
Politik und Religion sind erstmal zwei verschiedene Sachen - zumindest ist die politische Neutralität durch den Beutelsbacher Konsens geregelt. Den sollte man als (Sachunterrichts-)Lehrkraft wirklich kennen! Indoktrinationsverbot und Kontroversitätsgebot!
*Und die Ergänzung dazu kommt jetzt ans Ende, weil es der wichtigste Part, die wichtigste Aussage ist:
Es geht nicht darum, ein Problem aus vermeintlicher politischer Korrektheit zu verschweigen.
Es geht nicht um eine falsch verstandene Toleranz.
Es geht durchaus um das Motto: Keine Toleranz der Intoleranz.
Es geht aber auch um einen differenzierten Blick ohne Vorurteile und Pauschalisierungen.
Wer die Gleichberechtigung von Mann und Frau abstreitet hat nichts als Lehrkraft an einer Schule verloren.
Das kommt durchaus auch bei einem Teil der Moslems vor.
Ebenso sieht es mit dem Antisemitismus aus:
Es gibt einen Teil an Moslems, welche antisemitische Haltungen teilen.
Das ist durchaus ein gewissermaßen spezifisches Problem bei manchen Moslems, aber zeigt gleichzeitig auch Ähnlichkeiten mit allen anderen Formen des Antisemitismus (Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hat eben in allen Ausprägungen ähnliche Wirkmechanismen).
Antisemitismus ist aber kein alleiniges Problem 'der Moslems' oder einer anderen Gruppe.
Der Antisemitismus ist leider verankert in der Mitte unserer deutschen Gesellschaft.
So wie auch Islamfeindlichkeit dort verankert ist.
Schlussendlich - und ich hoffe so ergibt mein Beitrag einen Sinn:
Wer ein Kopftuch trägt und dabei die Werte unseres Grundgesetzes teilt und sich diesen in besonderer Weise verpflichtet fühlt, hat jedes Recht, an einer Schule zu unterrichten - solange es auch für alle anderen Lehrkräfte mit anderen religiösen Symbolen so geregelt ist, denn nur das entspricht den Werten unseres Grundgesetzes!
(Man beachte also diese Doppelmoral, die hinter manchen Aussagen steht: Anderen vorwerfen, sich nicht an die Werte des GG zu halten und dann gleichzeitig selber die Werte des GG in Frage zu stellen).
https://www.bpb.de/politik/ext…ene-menschenfeindlichkeit
https://www.tagesschau.de/inla…16-a4ff-3843b4a9d391.html
https://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens