Chemie studiert, promoviert, Physik als Zweitfach anrechnen

  • Hallo,


    ich denke über einen Quereinstieg als Gymnasiallehrer in Berlin nach.


    Mein Werdegang nach Abitur:
    B.Sc. Chemie, Bachelorarbeit physikalische Chemie
    M. Sc. Chemie, Masterarbeit theoretische Chemie/ Quantenchemie
    abgeschlossene Promotion in theoretischer Chemie/ Quantenchemie


    Die 90 Leistungspunkte für das Erstfach Chemie bekomme ich problemlos zusammen.


    Für das Zweitfach benötigt man in Berlin 60 LP. Reine Physikvorlesungen hatte ich nur zu 10 LP. Reicht also nicht, anzubieten hätte ich aber noch:


    Physikalische Chemie Module ca. 35 LP
    Bachelorarbeit in physikalischer Chemie 12 LP


    Masterarbeit und Promotion in Theoretischer Chemie/ Quantenchemie ist ehrlich gesagt mehr Physik als alles andere gewesen. Meine Doktorarbeit enthält 200 Formeln und keine einzige Reaktionsgleichung ;)
    Frage mich nur, wie genau und individuell sowas angeschaut wird oder ob nur das anerkannt wird wo auch Physik draufsteht. Sitzt am anderen Ende jemand der Physik/ Chemie studiert hat und sich im Detail auskennt. Oder eher ein einfacher Sachbearbeiter, der höchstens mal gelangweilt durch nen Modulhandbuch blättert?



    Keine hat eine Kristallkugel, ich weiß, dennoch noch eine andere Frage: Wie stehen die Prognosen zum Quereinstieg? Momentan macht mir meine Postdocstelle noch Spaß, aber ich weiß, dass Wissenschaftliche Karriere mir zu hart und ungewiss ist. Sollte ich mich beeilen bevor die Tür Quereinstieg zugemacht wird? :autsch:


    Beste Grüße
    Felix

  • Ich könnte mir vorstellen, dass vor allem Leistungen in den Bereichen Thermodynamik, Atom- und Molekülphysik und Quantenphysik anerkannt werden können, im Bereich der klassischen Mechanik, der theoretischen Elektrodynamik, der Kernphysik und spezieller Experimentalpraktika dürften Leistungen fehlen. Genaue Auskunft wird dir letztlich aber nur das entsprechende Prüfungsamt bieten können. Selbst bei voller Anrechnung der Bachelorarbeit und der Module zur physikalischen Chemie würdest du doch dennoch nicht auf 60 LP kommen. Eventuell kannst du aber die Qualifizierung für das Zweitfach auch berufsbegleitend machen, während der Einstieg mit Erstfach Chemie gut möglich sein dürfte. Prognosen zu späteren Einstiegszeitpunkten sind grundsätzlich sehr mit Vorsicht zu genießen, stimmen ja rückblickend oft nicht einmal die Bedarfsprognosen der Bundesländer selbst. Die Fächer Chemie und Physik dürften aber auch weiterhin eher gesucht sein.

  • Frage mich nur, wie genau und individuell sowas angeschaut wird oder ob nur das anerkannt wird wo auch Physik draufsteht. Sitzt am anderen Ende jemand der Physik/ Chemie studiert hat und sich im Detail auskennt. Oder eher ein einfacher Sachbearbeiter, der höchstens mal gelangweilt durch nen Modulhandbuch blättert?

    Kenne mich in Berlin nicht aus, aber nach meinen Erfahrungen in BW würde ich von einer Expertin/einem Experten eher nicht ausgehen … wäre schlicht zu teuer! Aber je nachdem, wie dringend man jemanden braucht, wird eventuell das Modulhandbuch noch nicht mal aufgeschlagen ;)


    Noch mein Standardrat: Wirf vielleicht auch noch einen Blick auf das berufliche Schulwesen.

  • nach meinen Erfahrungen in BW würde ich von einer Expertin/einem Experten eher nicht ausgehen … wäre schlicht zu teuer! Aber je nachdem, wie dringend man jemanden braucht, wird eventuell das Modulhandbuch noch nicht mal aufgeschlagen ;)
    Noch mein Standardrat: Wirf vielleicht auch noch einen Blick auf das berufliche Schulwesen.

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  • Danke für eure Antworten! Mir war nicht bewusst, dass auf die einzelnen Fachbereiche geschaut wird. Mechanik, Elektrodynamik und Kernphysik kann ich nur durch die extrem rudimentären "Experimentalphysik für Nebenfächler"-Vorlesungen vorweisen.
    Wo kann ich denn verbindliche Angaben finden oder Auskünfte erfragen? Auf den offiziellen Seiten wird es nie so konkret, da steht immer nur "60 LP in dem Fach nachweisen"


    Ich könnte auch gut während meiner Postdoc-Zeit Physikkurse besuchen, das Gebäude ist ja gegenüber und zeitliche Kapazitäten sind bei mir noch da.
    Nur würde ich dann auch gerne was nachholen, was mir später auch tatsächlich was bringt...

  • Wo kann ich denn verbindliche Angaben finden oder Auskünfte erfragen? Auf den offiziellen Seiten wird es nie so konkret, da steht immer nur "60 LP in dem Fach nachweisen"

    Ich vermute, die Studien- und Prüfungsordnung der FU sollten die Anforderungen wiedergeben:


    http://www.fu-berlin.de/studiu…hysik_kombi_lo/index.html


    Mit Behörden/Ansprechpartnern kann ich dir nicht weiterhelfen, kenne mich wie gesagt in Berlin nicht aus.

  • Man verzeihe mir meine Unwissenheit, aber da ich entsprechende Anfragen von Chemikern schon häufiger las, muss ich (als Fachfremder) doch mal aus Neugier fragen: Physikalische Chemie ist doch ein Teilgebiet der Chemie und nicht der Physik, oder? Warum sollte es also sowohl für die Chemie als auch die Physik anrechenbar sein?

  • Man verzeihe mir meine Unwissenheit, aber da ich entsprechende Anfragen von Chemikern schon häufiger las, muss ich (als Fachfremder) doch mal aus Neugier fragen: Physikalische Chemie ist doch ein Teilgebiet der Chemie und nicht der Physik, oder? Warum sollte es also sowohl für die Chemie als auch die Physik anrechenbar sein?

    Physikalische Chemie behandelt den Grenzbereich zwischen Chemie und Physik – traditionell ist sie zwar der Chemie zugeordnet, rein inhaltlich macht macht man vieles davon sowohl im Chemie- als auch im Physikstudium (Molekülphysik, Thermodynamik, Quantenmechanik, Statistische Mechanik) allerdings teilweise mit verschiedener Schwerpunktsetzung. In der Forschung ist die Zuordnung dann fast willkürlich, viele Themen der PC werden sowohl von Chemie- als auch von Physikarbeitsgruppen bearbeitet, z.B. Ab-initio Simulation von Molekülen (an meiner Uni arbeiteten tatsächlich Chemie- und Physikarbeitsgruppen in diesem Bereich).

  • @Lehramtsstudent Das wundert viele, die die Fächer Chemie und Physik nur im Kontext "Schule" kenne. Ich wundere mich dagegen, woher eigentlich im Kontext "Schule" die Zwangs-Vergeschwisterung der Fächer Chemie und Biologie kommt. Aus fachlicher und auch wissenschaftshistorischer Sicht sind nämlich Physik und Chemie die zwei quasi Unzertrennlichen. Ich zitiere an dieser Stelle mal Robert Wilhelm Bunsen: "Ein Chemiker, der kein Physiker ist, ist überhaupt gar nichts." War Robert Boyle nun ein ein Chemiker oder ein Physiker? War Michael Faraday eher ein Physiker oder doch auch ein bisschen Chemiker? Es gab Zeiten, da wurde das gar nicht unterschieden und es machte auch gar keinen Sinn. Die Chemie hat sich als eigenständige Wissenschaft so richtig erst mit der Entwicklung der chemischen Industrie etabliert. Scroll mal die Liste der Chemie-Nobelpreisträger durch und zähle, wie viele der Namen Du ebenso gut in die Physik stecken könntest oder die mindestens der Physikalische Chemie zuzuordnen sind.


    Ich habe in einer Zeit Chemie studiert, da spielte auch an der altehrwürden Uni Heidelberg die Biologie für den gemeinen Diplom-Chemiker noch kaum eine Rolle. Den Studiengang Biochemie gab es schon, aber nur an wenigen Unis. Wir waren in Heidelberg der erste Jahrgang Chemiker, die eine Vorlesung und ein Praktikum in der Biochemie freiwillig machen konnten (hab ich auch gemacht). Die Physik dagegen ist und war seit jeher immer natürlich die Basis der Chemie. Ohne Elektrostatik und Quantenphysik kein Atombau. Auch wenn man sich heute anschaut, was an den chemischen Fakultäten der Unis dieser Welt so geforscht wird, wird man feststellen, dass die Physik eine erheblich grössere Rolle spielt, als die Biologie. Forschung an leitfähigen Polymeren und Nanomaterialien bedingt eben ein gewisses Verständnis quantenchemischer (bzw. -physikalischer) Vorgänge. Ganz zu schweigen davon, dass es auch enorm nützlich ist, die Physik hinter all den spektroskopischen Methoden, mit denen man so zu tun hat, zu verstehen.


    Ich behaupte mal ganz frech, dass ein in der Physikalischen Chemie promovierter Chemiker zumindest aus der fachlichen Perspektive der perfekte Chemielehrer ist. Ich muss systemisch bedingt das Schwerpunktfach Chemie irgendwie symbiotisch mit den Biologen zusammen unterrichten. Weiss der Himmel, warum. Die Mehrheit der SuS, die das Profil B wählt, wählt es wegen Biologie und nicht wegen der Chemie. Wenn ich mir die schriftlichen Maturprüfungen der Biologen so anschaue, behaupte ich auch, dass man zum Verständnis der Schul-Biologie auch wahrlich kein Schwerpunktfach Chemie braucht. Ich konnte bei der letztjährigen Prüfung nur genau eine einzige Frage beantworten, da ging es um Enzymkinetik. Ähnlich verhält es sich bei uns mit der Schwerpunktfachkombination Mathe + Physik. Die meisten SuS, die das Profil A wählen, wählen es wegen Mathe und könnten getrost auf Physik verzichten. Viel schlauer wäre halt Mathe + Informatik sowie Chemie + Physik. Ich kann, sofern ich das denn will, mein komplettes Schwerpunktfach Chemie ohne Biologie unterrichten. Ich komme aber nicht eine einzige Stunde ohne Physik klar.


    Ich habe selbst sogar die Lehrberechtigung für Chemie und Physik, unterrichte aber nur Chemie. Ich muss sagen, ich profitiere enorm von der fachdidaktischen Ausbildung in der Physik. Man darf nämlich auf überhaupt keinen Fall den Fehler begehen - und das passiert leider häufig! - zu glauben, man sei als Chemiker automatisch der bessere Physiklehrer, weil man die Dinge ja irgendwie einfacher erklären könnte oder so. Der Punkt ist nämlich, dass



    Theoretischer Chemie/ Quantenchemie

    überhaupt nicht das ist, was man an der Schule so unterrichtet ;) Die Schul-Physik besteht zu einem grossen Teil aus klassischer Mechanik und Elektrizitätslehre und da musste zumindest ich, die ich nun auch in der physikalischen Chemie promoviert habe, verdammt viel lesen, um wieder reinzukommen. Meine Monofach-Chemie-Kollegen hauen öfter mal ganz unbedarft Begriffe wie "E-Feld" raus und wundern sich dann, wenn ich ihnen sage, sie sollen das mal lieber bleiben lassen, weil der Feld-Begriff im Grundlagenfach Physik üblicherweise gar nicht thematisiert wird. Auch wird gerne mal zwischen Geschwindigkeit und Beschleunigung nicht sauber unterschieden oder werden in der Thermodynamik Zustands- und Prozessgrössen mal ganz salopp in den gleichen Topf geworfen. Der Physik-Kollege bedankt sich ganz herzlich dafür. Ähnliches passiert übrigens auch häufig unseren Biologen wenn sie über Chemie erzählen ... Das jetzt mal so allgemeines blabla ;)


    @Felix91 Zu Deiner konkreten Frage kann ich Dir nur so viel schreiben: Ich fand mich 2011 in einer ähnlichen Situation wie Du wieder und habe beim Regierungspräsidium Karlsruhe nachgefragt, wie das denn so sei mit dem Seiteneinstieg ins Lehramt in BaWü. Die kackdreiste Aussage bzgl. Zweitfach war damals, nun ... was man mir anerkennt hängt schlichtweg vom Bedarf ab. Aktuell sei der Bedarf an Physik- und Chemielehrern so gross, dass man mir ohne irgendwelche Zusatzleistungen Physik als Zweitfach anerkennen würde. In Chemie sollte ich übrigens eine Kenntnisstandprüfung ablegen, weil mein Diplom zum fraglichen Zeitpunkt schon älter als 5 Jahre war :autsch: Es könne aber sein, dass sich der Bedarf schon das Jahr drauf so verändert hat, dass man mich halt wieder an die Uni für ein paar Physik-Vorlesungen schickt. Das fand ich schon sehr skurril. Ich habe dann aber ohnehin rausgefunden, dass es für mich in der Schweiz viel einfacher ist ins Lehramt einzusteigen und bin retrospektiv auch heilfroh, mich für diese Variante entschieden zu haben.

  • WOW, danke für die tolle und ausführliche Antwort! Ich habe als Nicht-Chemiker sogar recht viel verstanden :victory: .

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