Meine persönliche Seiteneinstiegs-Erfahrung ...

  • Jetzt ist es also geschafft. Heute konnte ich meine letzte Prüfung erfolgreich hinter mich bringen. Ich kann mich noch gut an meinen Einstieg in den Schuldienst und mein erstes Posting in diesem Forum erinnern. Damals wollte ich unbedingt Lehrer werden, obwohl ich nicht wusste was da auf mich zu kommen wird.


    Heute bin ich froh, dass ich diesen Schritt gewagt habe. Es war wirklich ein waghalsiger Schritt, denn er hätte auch ins Leere gehen können. Sicher ist es möglich, sich vorher über den Beruf zu informieren. Viele Aspekte des Berufs erlebte ich aber erst als "Insider".


    Im Gegensatz zu (dynamischen) Unternehmen in der Industrie lässt sich im öffentlichen Dienst nahezu alles planen, sofern es das magere Gehalt oder sonstige arbeitsrechtlichen Umgebungsvariablen betrifft.


    Die damals für mich wirklich entscheidenden Fragen konnte ich aber keinen Tabellen entnehmen. Auch zukünftige Kollegen konnten mir dazu keine befriedigende Antwort geben:


    1. Werde ich mit den Schülern zurecht kommen (und sie mit mir)?


    2. Werde ich von den Eltern respektiert werden?


    3. Werde ich als Seiteneinsteiger im Kollegium respektiert werden, oder eine Rolle am Rande einnehmen?


    4. Werden die Fachleiter gerecht und hilfsbereit sein, oder regiert pure Willkür im System? (Schliesslich liesst man in so einigen Foren haarsträubende Geschichten über einige Seminare)


    Leider hatten die Seminarveranstaltungen erst einige Wochen nach Schuljahresbeginn angefangen, so dass ich meine ersten Stunden praktisch ohne irgendwelches pädagogisches Fachwissen führen musste. Wie viele Seiteneinsteiger stand ich halt plötzlich vor einer Klasse, war für sie verantwortlich und sollte Unterricht halten.


    Hier aber nun meine persönlichen Erfahrungen zu den einzelnen Punkten:


    ad 1. Nicht alle Schüler sind genau so, wie man es in den Horrormeldungen der Presse liest. Schüler haben i.d.R. kein Interesse daran, den Lehrer um jeden Preis fertig zu machen. Mit normalem Menschenverstand (Respektierung der Schüler, Ehrlichkeit und Offenheit) habe ich die ersten Wochen unbeschadet auch ohne pädagogisches Wissen "überlebt". Wenn mich heute jemand fragen würde, wie er am Anfang der Klasse gegenübertreten soll, dann würde ich sagen: Offen und ehrlich, einfach "man selbst sein". "Schauspielern" ist nicht notwendig. Ideal ist es natürlich, wenn man ehrliche und tiefste Begeisterung für sein Fach ausstrahlt. Das springt auf die Schüler über und wird auch im späteren Lehrerleben das A und O sein. (In den Lehrproben war ich positiv überrascht, wie meine Klassen bemüht waren mir die Prüfung zu erleichtern. In dieser Stunde hätten *alle* eine Mitarbeits- und Verhaltens "1" bekommen.)


    Gut ... ich hatte vielleicht in dieser Hinsicht Glück mit meinen ersten Klassen.


    ad 2. Welche Eltern???
    Im Regelfall kommen an beruflichen Schulen selten Eltern auf die Idee, den Lehrer anzurufen. Meistens darf man selber den Eltern hinterher telefonieren, um dann zu erfahren, dass ihr Sohn mit 16 "alt genug sei" um die Konsequenzen seines was-auch-immer selbst zu tragen. Mit pädagogischem und schulrechtlichem Fachwissen kann man zwar Gegenargumente bringen, aber hilfreich sind die trotzdem meistens nicht. Trotz des schlechten Rufs des Berufs "Lehrer" in der Öffentlichkeit wurde ich immer von den Eltern respektiert. Im Gegenteil, meistens wurden mir mehr Kompetenzen und Verantwortung zugestanden, als ich überhaupt habe. Absolut kurios (aber auch erschreckend) war mal der Rat eines Vaters: "Dann hau'n sie ihm einfach mal an die Löffel, des braucht's halt manchmal."


    Klar, es gibt auch Schularten und Schulen in denen die Eltern stärker in die Erziehung eingebunden sind, aber das ist wie gesagt meine persönliche Erfahrung.


    ad 3. Klaro. Irgendwie scheint das bei uns keinen zu jucken, woher man kommt. Jeder schien froh zu sein, dass einer dazugekommen war und wenigstens ein bisschen der viel zu schweren Deputatslast mit trägt.


    ad 4. Ich habe die Ausbildung am Seminar stets gerecht und (bis auf ein paar kleine Ausnahmen) auch als hilfreich empfunden. Neueinsteigern würde ich raten, von Anfang an "am Ball" zu bleiben um nicht erst eine Woche vor der Prüfung festzustellen, dass man noch unendlich viele Lücken hat. (Diesen Rat gebe ich aber auch meinen Schülern im Bezug auf Prüfungsvorbereitungen allgemein.) Die Ausbildung am Seminar war nicht nur eine Hilfe zur professionellen Bewältigung des Schulalltags, sondern auch von unschätzbarem Wert für die eigene Persönlichkeitsentwicklung.


    Wie schon mehrfach erwähnt, vielleicht hatte ich einfach Glück mit meiner Schule, meinen Schülern und meinen Kollegen. Von einigen meiner Seiteneinsteiger-Kollegen hörte ich jedoch ähnliche Erfahrungen.


    Womit ich anfangs etwas zu kämpfen hatte, waren (neben dem Gehalt) die Unterschiede zwischen öffentlicher Einrichtung und einem Industrieunternehmen. Beispiele:


    - Einen Arbeitsplatz (entsprechend DIN und gesundheitl. Richtlinien) hat man als Lehrer nicht. Dadurch arbeitet man meist zu Hause. Nicht nur die Wohnung sondern das gesamte Leben "verschmilzt" dadurch mit dem Beruf. Lehrer ist man nicht so-und-soviel Stunden am Tag, sondern 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr. Will man mal so richtig abschalten, dann sollte man von zu Hause weg fahren. Weit weg. Einen Urlaub daheim rate ich keinem.


    - Schulbücher, Bücher zur Fortbildung und oft sogar Unterrichtsmaterial bezahlt man meist komplett aus eigener Tasche. Natürlich zwingt einen keiner dazu, aber wer in einer Zeit in der die Kassen leer sind einen möglichst optimalen Unterricht (fachlich und methodisch) gestalten will wird darum nicht herum kommen. Klar ... man kann auch Formulare ausfüllen und 1-2 Schuljahre warten, bis man die Materialien bekommt ... falls man bis dahin das Fach noch unterrichtet.


    - Da ich vorher in einem relativ grossen Betrieb mit relativ gleichmäßigem Arbeitsaufkommen tätig war, erstaunten mich die Schwankungen im Lehrerberuf sehr. Ein Lehrer hat (meistens) nahezu unbegrenzte Gleitzeit, damit meine ich "wenige kurze Kernzeiten".
    Das führt dazu, dass es manchmal "Flauten" gibt, aber auf der anderen Seite Stosszeiten (z.B. in Prüfungszeiträumen), in denen man ein paar Wochen lang mal 12-15 Stunden am Tag einschliesslich Sonn- und Feiertags arbeitet. Da gibt's keinen Betriebsarzt, der irgendwann daheim klingelt und einem den Stecker aus dem PC zieht. In einer Beziehung kann dieser Umstand viel Toleranz vom Partner abverlangen.


    - Im Seminar habe ich gelernt, wie ich (theoretisch) optimalen Unterricht gestalten könnte. Ich wurde ermutigt und motiviert, didaktisch zu experimentieren. Es wurde versucht, mir vermitteln an welchen "Schräubchen" ich drehen kann um das Lernverhalten von Schülern zu verbessern ...


    ABER ...


    Die Wirklichkeit ist geprägt von


    - Schülern, die zwar "lieb und brav" sind, aber nicht ansatzweise die Voraussetzungen dafür mitbringen


    - einem Bildungssystem, in aus Verzweiflung über die verfahrene Situation völlig unreflektiert politische Schnellschüsse gefeuert werden (und nachweislich immer wieder ins Auge gehen)


    - Knappheit der Mittel, völlig veralteter und unzureichender Laborausstattung


    - ...


    Ich könnte jetzt noch mehr Schwierigkeiten aufzählen, aber das möchte ich gar nicht. Im Übrigen sind sie ja auch hinreichend bekannt.


    Mein abschliessender Rat aber an alle, die sich mit dem Gedanken tragen, einen Seiteneinstieg zu wagen:


    Trennt Euch möglichst frühzeitig vom Idealbild des Super-Unterrichts. Die Aufgabe eines Lehrers besteht nicht darin, *den* optimalen Unterricht zu gestalten, sondern *einen den Umständen entsprechend* optimalen Unterricht zu gestalten.

    Until he extends his circle of compassion to include all living things, man will not himself find peace.
    Albert Schweitzer 1875-1965

  • Danke für den interessanten Bericht. Er deckt sich in vielen Punkten mit dem, was unsere Direkteinsteiger und ein guter Freund, der diesen Weg auch geganen ist, erzählen.

    Erziehung ist die organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.

  • Drew


    Erst einmal freue ich mich für dich, dass es anscheinend ja die richtige Entscheidung für dich war.
    Hast du einen Seiteneistieg(von Anfang an volle Studenzahl, vollle Bezahlung und pädagogische Schulung nebenbei) oder Quereinstieg (normales Ref mit 2. Staatsexamen) gemacht?


    typ42

  • Hallo Typ42,


    ich habe kein Referendariat gemacht, also den Seiteneinstieg. Volle Bezahlung und nebenbei Fachdidaktik in den Fächern sowie ein päd. Crashkurs. Allerdings musste ich kein volles Deputat unterrichten. Ich glaube es hatte mit 10 Stunden Soll angefangen, wobei ich dann aber 13 oder 14 hatte. Vom zeitlichen Aufwand her war es gut machbar. Ach ja ... da fällt mir noch etwas ein, das ich erst im Laufe der Zeit mitbekommen habe: Die Stundenanzahl sagt eigentlich gar nichts über die Arbeitsbelastung aus: Man kann 30 angenehme Stunden haben (Parallelklassen, Klassen die hin und wieder im Praktikum sind) oder aber 10 übelst stressige Stunden (lauter neue Unterrichtsfächer, worin man u.U. fachliche Defizite aufarbeiten muss). Mittlerweile weiss ich, weshalb bestimmte Fächer und Klassen sehr begehrt sind ... ;)


    -- Drew

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  • Drew


    Sehe ich das richtig, dass du dann aber auf Ba-Wü festgelegt bist? Da doch der Abschluss den du nach zwei Jahren machst in anderen Bundesländern nicht als 2. Staatsexamen annerkannt wird?


    typ42

  • Ich dachte immer, ich wäre sowieso auf BaWü beschränkt, da es den Seiteneinstieg in vielen anderen Bundesländern sowieso nicht gibt? Ausserdem war ja die Ausbildung ohnehin sehr landesspezifisch (zumindest was das Schulrecht und die Schulorganisation anging).


    Ein guter Bekannter von mir hatte in Baden-Württemberg sein Referendariat gemacht, wurde ziemlich schnell auf Lebenszeit verbeamtet weil er so gute Noten hatte, wollte jedoch immer nach Bayern. Das Ende vom Lied war aber, dass über 15 Jahre vergingen bis die Bayern ihn "wollten". Alleine schon aus diesem Grund habe ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht, ob meine Ausbildung (im Vergleich zum Referendariat möchte ich sie mal "Behelfslösung" für's Ländle nennen) auch in anderen Bundesländern anerkannt wird oder nicht.


    Abgesehen davon würde ich vor dem Bundesland den Staat wechseln. ;)


    Ist aber für jemanden, der flexibel bleiben möchte natürlich schon eine wichtige Frage. Vielleicht kennt ja jemand hier im Forum eine Quelle zu den entsprechenden Verordnungen. (Wobei es mich nicht wundern würde, wenn es tatsächlich diese Einschränkung gibt sie aber nirgendwo so steht ...)

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    Albert Schweitzer 1875-1965

  • Es ist auch nicht sinnvoll, nach den bestandenen Prüfungen im zweiten Jahr den b-w Berufsschuldienst zu verlassen. Denn nach dem dritten Jahr und der Bewährung als Angestellter wird man dann ja verbeamtet.
    Ist man erstmal verbeamtet läuft der Bundeslandwechsel über die Tauschliste. Ich glaube nicht, dass es da prinzipiell Probleme wegen einer Anerkennung der Lehrbefähigung gibt. Dass die Wartezeit aber je nach Bundesland lang sein kann, steht auf einem anderen Blatt.

    Erziehung ist die organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.

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