Schüler vergleichen sich untereinander

  • Vielleicht bringt ja die Kompetenzorientierung etwas Entspannung in die Ranglistenpädagogik.

    Ich hoffe es und gebe mir allergrösste Mühe. Mein erklärtes Ziel ist es, meine Schafe dazu zu bringen, sich am Ende bestmöglich selbst einschätzen zu können. Man sollte wirklich viel mehr über Entwicklungskurven anstatt über absolute Ergebnisse diskutieren. Ich glaube in dem Zusammenhang ist es schon sinnvoll, mal mit einer ganzen Klasse darüber zu reden, dass nun mal jeder andere Voraussetzungen hat und an einem anderen Punkt startet und daher die relative Leistungssteigerung auch ganz unterschiedlich zu bewerten ist. Ich fürchte nur, das funktioniert wohl nur so richtig im Bereich der gymnasialen Oberstufe, also dort, wo man im Grunde genommen eh "Luxusprobleme" diskutiert.

  • Das funktioniert auch schon in der Grundschule. Bei uns sitzen einige Kinder in den Klassen, die auf einem ganz anderen Level stehn. Da muss man immer wieder erklären, warum X noch in Zahlenraum 10 Probleme hat oder Y sich einfach nicht merken kann, wie das "G" geschrieben wird.
    So meinte neulich ein Zweitklässler, es wäre doch ungerecht, dass "die" auch versetzt werden.
    Da habe ich ihm mal gesagt, dass er Glück hat von seinen Eltern so gut unterstützt zu werden.


    Das muss man immer und immer wieder thematisieren, bis es angekommen ist.

  • Man sollte wirklich viel mehr über Entwicklungskurven anstatt über absolute Ergebnisse diskutieren.

    Das ist ein schönbes Ziel aber leider vollkommen unrealistisch, so lange Entwicklungskurven weder die Universitäten zur Studienplatz- noch die Arbeitgeber zur Ausbildungsplatzvergabe interessieren sondern die eben genau das sehen wollen: absolute Ergebnisse.


    Im übrigen, ja, ich benutze auch am Anfang des Schuljahres Kompetenzraster um den Schülern meine Benotung zu erklären und ihre Selbsteinschätzung zu erleichtern, ja die SuS können auch bei mir jederzeit ihren Leistungsstand erfragen, nein, ich führe jedes Quartal solche Gespräche (das ist in Hamburg auch so vorgeschrieben, die SuS und ihre Eltern haben einen Rechtsanspruch darauf) und nein, es kommt trotzdem ab und an mal zu solchen Unzufriedenheiten. Glückwunsch an die Kollegen, bei denen es nicht dazu kommt ;)

  • vor allem: entwicklungskurve hin oder her, wenn du später operiert wirst oder in ein flugzeug steigst, dann wäre es doch ganz nett, wenn der pilot oder der chirurg sein handwerk beherrscht. wenn er sich auch in den letzten monaten noch so sehr verbessert hat, dann ist mir das ziemlich gleichgültig, solange er immer noch nicht sicher fliegen oder bäuche aufschneiden und wieder zunähen kann. leistungstandards, und zwar hohe, sind wichtig, und fairer- und vor allem funktionaler weise werden chancen nach endleistung und nicht nach "hansi hat sich sooooo toll gesteigert" vergeben. natürlich sollte man hansi für sein bemühen und seine leistungsverbesserung bestärken, aber ihm irgendwas vorzumachen, was sein eigentliches niveau angeht (neoliberale fassung dieses vormachens: "du kannst alles schaffen, wenn du dich nur anstrengenst" - nein, kann man nicht), halte ich für unehrlich. wichtiger wäre wohl, hansi klar zu machen, dass sein leistungsniveau und sein wert als person in *keiner weise* zusammenhängen. ich weiß, schwierig, sehr schwierig.


    ich denke nicht, dass kompetenzorientierung hier viel verbessern wird. letztlich ist die kompetenz-idee von den neoliberalen bertelsmann-jüngern etabliert worden, und die sind sicher nicht darauf aus, das individuum wertschätzend zu einem glücklichen und vor allem *mündigen* menschen und bürger zu erziehen und zu bilden. die sind einzig und allein daran interessiert, die "human ressources" (--> kompetenten, aber nicht kritisierenden, sondern ackernden arbeitnehmer) zu optimieren. wie es den human ressources dabei geht, ist denen mehr als nur egal, solange sie nur leistung bringen. outcome-orientierung at its worst.


    zusammenfassend: meiner meinung nach ist outcome-orientierung nicht verkehrt, aber man muss dringend im auge behalten, wer hier was mit welcher ideologie im hinterkopf implementiert und was als "outcome" definiert wird. leistung alleine ist da ein bisschen wenig/ impliziert ein sehr, sehr verkürztes, nämlich den einzelnen auf seine ökonomische verwertbarkeit reduzierendes, menschenbild.


    (noch anders: ich will nicht in einer welt leben, in der man musik hört oder in eine ausstellung geht oder jemanden umarmt, um auditive, ästhetische, visuelle oder soziale kompetenzen zu verbessern.)

    3 Mal editiert, zuletzt von kecks ()

  • "du kannst alles schaffen, wenn du dich nur anstrengenst"

    Ich habe mit keiner Silbe erwähnt, dass ich das schon jemals einem Schüler so gesagt hätte. Stattdessen schrieb ich das hier:



    Mein erklärtes Ziel ist es, meine Schafe dazu zu bringen, sich am Ende bestmöglich selbst einschätzen zu können.

    Ich finde es erstrebenswert meine Schüler an den Punkt zu bringen, an dem sie selber einsehen, dass das mit dem Medizinstudium einfach nichts wird und man sich wohl was suchen müsste, was besser zu einem passt.



    letztlich ist die kompetenz-idee von den neoliberalen bertelsmann-jüngern etabliert worden,

    Ich glaube nicht, dass die "Bertelsmann-Jünger" in der Schweiz irgendwas zu melden haben und unsere Lehrpläne (sofern sich überhaupt jemand dran hält ...) nennen sich neuerdings auch "kompetenzenorientiert". Tatsächlich ist die "Kompetenz-Idee" ja wohl steinalt und findet sich so oder so ähnlich auch in der Pestalozzi-/Steiner-/Montessori-Pädagogik wieder. Gerade Steiner hat hier in der Schweiz seit jeher einen viel höheren Stellenwert, als in Deutschland. Ich habe viele Kollegen, die selbst Steiner-Schüler waren und/oder ihre Kinder auf die Steiner-Schule schicken.



    Das ist ein schönbes Ziel aber leider vollkommen unrealistisch, so lange Entwicklungskurven weder die Universitäten zur Studienplatz- noch die Arbeitgeber zur Ausbildungsplatzvergabe interessieren sondern die eben genau das sehen wollen: absolute Ergebnisse.

    Absolute Ergebnisse spielen bei uns zum Glück keine Rolle für die Studienplatzvergabe. Es gibt nur für Medizin eine Aufnahmeprüfung, für alles andere reicht die 4.0 auf dem Maturzeugnis.

  • ja, die kompetenz-idee ist alt. sie wird aber momentan vor allem von den bertelsmann-jüngern vorangetrieben, *weil* ein kompetenzorientierter unterricht mehr aus dem einzelnen schüler rausholt (toll!), dessen potential besser nutzbar macht (scheiße, menschen sollten nie für irgendwas benutzt werden und sind ein zweck an und für sich selbst). und nur an letzterem sind die neoliberalen interessiert. sie machen nicht einen auf kompetenz, um die schüler zu fördern oder ihnen mehr erfolgserlebnisse und chancen zu ermöglichen, sondern um besser ausbeutbare human ressources zu produzieren. das wird oft nicht gesehen, sollte man aber im hinterkopf behalten. die bertelsmann-variante der kompetenz-begeisterung ist es nämlich egal, wie es dem individuum (und dessen lehrern) auf dem langen weg zum kompetenten arbeitnehmer so geht. outcome über alles. dagegen ist pestalozzi und co ganz und gar nicht gleichhgültig, wie der kompetente mensch (!) am ende zu diesem ergebnis gelangt ist.


    ja, ich weiß, schon wieder so viele differenzierungen. komplexität und so. muss man aushalten imo.

  • sie wird aber momentan vor allem von den bertelsmann-jüngern vorangetrieben,

    Wer zwingt Dich denn, die "Bertelsmann-Variante" umzusetzen? Schicken Die Dir etwa regelmässig jemanden vorbei, der das kontrolliert, was Du machst oder wie? Ich verstehe gerade überhaupt nicht, worauf Du eigentlich hinaus willst. Ich kann's nur noch mal wiederholen - hier bei mir sind keine Bertelsmann-Jünger, ergo schreibe ich auch nicht über deren Interessen.

  • ? ich habe keinerlei aussage darüber gemacht, über wessen interessen du schreibst oder auch nicht. ich versuche nur, den kontext für die aktuelle kompetenz-begeisterung aufzuzeigen. dieser kontext gilt auch für dich, weil er für die gesellschaft gilt, in der du lebst, ob du dir diese bertelsmann-schiene (der name ist nur ein symbol, man kann das auch neoliberales menschenbild, ökonomisierung des bildungssystems oder sonstwie schimpfen) jetzt persönlich bewusst zu eigen machst oder nicht. du kannst ja nicht einfach das bildungssystem, in dem wir alle operieren, verlassen, nur weil du das beschließt, solange du darin als lehrer tätig bist, oder? die rechtlichen vorgaben, die einflüsse, die dich als schülerin und nachher als lehrerin sozialisiert und geprägt haben usw. sind "zwänge", insofern du sie unbewusst ständig und immer verwendest. es ist deine und meine und unser aller sicht auf die welt, die von ihnen geprägt ist. gesellschaftliche semantiken sind nichts, was man sich aussucht oder nach gutdünken selber wählt. man lese luhmann, bourdieu, foucault etc., sucht euch was aus.


    kontexte zu kennen ist wichtig, weil sie helfen, die eigene wahrnehmung zu schärfen, sozusagen die eigene brille als brille erkennen zu können. die brille abzunehmen ist dagegen ziemlich unmöglich. zu glauben, man trage keine brillen und bilde sich selbst ein urteil, ist ziemlich albern, imo. das hieße, jahrzehnte der psychologischen und soiologischen forschung ignorieren bzw. sich unreflektiert dem neoliberalen lager anzuschließen ("jeder ist für sich selbst verantwortlich, und nur für sich selbst, weil er selbst ausschließlicher herr seines lebens ist.").

  • ich versuche nur, den kontext für die aktuelle kompetenz-begeisterung aufzuzeigen. dieser kontext gilt auch für dich, weil er für die gesellschaft gilt, in der du lebst,

    ... und diese Gesellschaft ist eine andere, als die, in der Du lebst. Mir wird das jetzt zu viel Meta-Diskussion. Mir ging es überhaupt nicht um irgendeinen allgemeinen "Kompetenzen-Hype" sondern um meinen eigenen kleinen Mikrokosmos, in dem ich versuche, meine Schüler auf einen guten Weg zu bringen. Und ja, da zählt für mich das "Lernen lernen" und das "sich selbst organisieren lernen" erheblich mehr, als konkrete fachliche Inhalte und absolute Leistungen. De facto interessiert sich bei uns am Gymnasium nämlich sowieso niemand für irgendwelche Lehrpläne. Ob die jetzt kompetenzorientiert sind oder nicht spielt dabei gar keine Rolle. Weisst Du ... bei uns an der Schule hat sich jemand so einen komischen "Kompetenzenpass" ausgedacht, in den wir mit den Schülern so lustige Dinge eintragen sollen wie "wir haben heute in Chemie ein Diagramm ausgewertet - ich bin jetzt Diagramm-auswerte-kompetent". Ich hab da für mich selbst im Geiste eine neue Kategorie "Sprüche-klopf-Kompetenz" aufgemacht und trage mir jeden Tag mindestens 3 Striche ein. Die Hälfte aller Schüler hat das Ding längst in den Papiermüll gegeben. Ungefähr so ernst nehmen wir das Thema. ;)



    ("jeder ist für sich selbst verantwortlich, und nur für sich selbst, weil er selbst ausschließlicher herr seines lebens ist.").

    Das sagt hier keiner und nach dieser Maxime unterrichte weder ich noch meine Kollegen.


    Also ... indem wir heute irgendwie aneinander vorbei schreiben, steige ich jetzt mal aus der Diskussion aus.

  • Absolute Ergebnisse spielen bei uns zum Glück keine Rolle für die Studienplatzvergabe. Es gibt nur für Medizin eine Aufnahmeprüfung, für alles andere reicht die 4.0 auf dem Maturzeugnis.

    Tatsächlich? Kein Numerus Clausus?


    Was passiert, wenn sich für einen Studiengang mehr Erstsemester einschreiben als Studienplätze zur Verfügung stehen?

  • Tatsächlich? Kein Numerus Clausus?

    Tatsächlich - kein Numerus Clausus. Es ist wirklich nur der Studiengang Medizin so gefragt, dass es eine Zugangsregelung braucht. Ich meine, es gibt aber zumindest an den beiden ETHs noch sowas wie Aufnahmeprüfungen für ausländische Studenten ohne Schweizer Maturzeugnis. Die Schweiz hat ja eine viel tiefere Maturitätsquote als Deutschland. Die Selektion findet hier also auf Sek-II-Stufe statt, wohingegen sie in Deutschland in den letzten Jahren einfach zunehmen in den tertiären Bildungsbereich verlagert wurde.

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