Seit letztem Freitag, also schon seit 7 Tagen, hängt sie wieder da: die LISTE. Als ich sie entdecke, erst im Vorbeigehen aus dem Augenwinkel heraus, dann durch Stehenbleiben in ihrer ganzen prächtigen Erscheinung, verspüre ich sofort ein Drücken in der Magengegend und denke: nein, nicht das auch noch, alle Jahre wieder… Täglich muss ich dran vorbei, und von Tag zu Tag gesellen sich mehr Namen übereinander und zueinander. In Beobachtung der sich Eintragenden stelle ich fest, dass es durchaus Unterschiede zu verzeichnen gibt. Manche junge Hasen greifen aufgeregt zum Stift und schreiben schnell ihren Namen in ein leeres Feld hinein. Sie sind jung, haben noch keine eigene Familie, sind so energiegeladen, nun denn… Manch andere treten zu zweit oder zu dritt an die Liste heran und erfreuen sich ihres Geschreibsels und frohlocken mit jauchzenden Tönen. Bei denen denke ich des Öfteren, ob die wohl eine feuchte Bude haben. Das sind genau diejenigen, die ständig in der Schule hocken. Morgens erscheinen sie schon eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn, begrüßen die auf den letzten Drücker Kommenden (ich) Kaffee trinkend und bestens gelaunt, sitzen nach Unterrichtsende schon wieder plaudernd im Lehrerzimmer, zelebrieren regelrecht Konferenzen mit nervigen Kommentaren und Endlosdiskussionen und telefonieren zu allem Überdruss täglich stundenlang mit Kollegen von zu Hause aus – ich frage mich ernsthaft, wie diese Kollegen Familie oder Beziehung definieren. Wiederum andere, vor allem die älteren Semester, warten die ersten Tage ab, schauen immer wieder nach, wer sich schon eingetragen hat, gehen weiter oder nehmen entnervt den Stift und tragen sich missmutig und griesgrämig ein. Warum, frage ich mich, tragen sie sich ein? Kein Mensch kann einen zwingen, hinzugehen, oder? Also warum tragen die sich ein, genau wie auch ich die ganzen letzten Jahre? Obwohl ich zugeben muss, dass ich mich auch schon mal eingetragen und dann krank gemeldet habe. Blöd, ich weiß, aber ich empfand dieses als die beste Lösung, um allen Nachfragen aus dem Weg zu gehen. Trägt man sich nicht ein, kommen sie nämlich alle mit ihren dämlichen Fragen: „Kommst du nicht?“ Nein, möchte man schreien, weil ich nicht will, weil ich müde bin! Aber nein, das macht man eben nicht. Man sucht nach irgendwelchen Ausflüchten, nutzt kranke Kinder, kranke Schwiegermütter oder weist sich als nötige Begleitung des Ehemannes zu einer leider zeitgleich stattfindenden Veranstaltung aus, wobei man hierbei aufpassen muss, dass das keiner überprüft und man der Lüge überführt wird. Diesen Stress habe ich mir mal vor 5 Jahren erlaubt, nie wieder.
Schick sieht sie ja aus, die LISTE – ein kleiner Einladungsspruch der Schulleitung und eine Erklärung, wo, was, wann stattfindet steht darunter, und die eigentlichen Tabellenfelder sind mit Schneemännern oder Adventskerzen verziert. Der Clou in diesem Jahr ist der Eintragungsstift. Dieser ist nicht einfach nur an einer Schnur befestigt, es ist auch noch ein goldenes Weihnachtsglöckchen mit angebunden worden, so dass jeder Eintragende zwangsläufig auf sich aufmerksam macht, was bei manchen vorbeigehenden Kollegen zu Bemerkungen führt, wie: „Na endlich, ich dachte schon, du kneifst.“, „Setzen wir uns gemeinsam an einen Tisch?“, „Hast du schon gehört, Paul spielt dieses Jahr den Weihnachtsmann, hi, hi, hi…“ Grrrrrrrrrrr….
Die Missmutigen tauschen ihre Bekundungen eher im Geheimen aus. Hat man den Zugang zu ihnen, hört man einen Aufreger nach dem anderen. Die Veranstaltung an sich wird sowieso als grausamstes Zusammentreffen des Jahres bezeichnet, weil sich hassende Personen plötzlich für ein paar Stunden zusammengesellen, als wäre nie was geschehen, der Tag und die Uhrzeit passen auch nicht. Und dann werden die einzelnen Personen, einer nach dem anderen, durch den Kakao gezogen, sowohl die, sich eingetragen haben als auch die, die wohl vorhaben, fernzubleiben. Ich frage mich jedes Jahr aus Neue, warum diese Gattung von Kollegen nicht einfach den Mut aufbringt, offen und ehrlich dazu zu stehen, dass sie keine Lust auf eine Weihnachtsfeier hat.
Und ganz ehrlich, sie würde mir persönlich einen Gefallen tun. Denn ich habe auch keine Lust. Und ich habe schlicht weg auch keine Nerven mehr dafür nach den anstrengenden Schulwochen seit Beginn des Schuljahres und eigentlich auch keine Zeit.
Heute ist Eintragungsschluss, damit die Lokalität über die tatsächliche Personenzahl informiert werden kann. Ich stehe nach Unterrichtsschluss nun vor dieser blöden Liste und stehe und stehe. Mein Gott, denke ich, jetzt trag dich schon ein, dann hast du`s hinter dir. NEIN, ruft mein wahres Ich, um Gottes Willen, bitte nicht, ich kann nicht mehr, ich will einfach nur noch zu Hause vorm Ofen liegen und mich entspannen. Mein Arm schafft es einfach nicht, sich zu erheben. Meine Finger sind steif und wehren sich, diesen blöden Glöckchen behafteten Stift zu ergreifen.
Während ich hadere, welche Entscheidung nun die richtige ist, überlege ich, warum ich hadere. In jedem November und Dezember reihen sich Veranstaltung an Veranstaltung. In unserer Schule ist vor Jahren ein sogenannter Konferenznachmittag eingeführt worden. Jeden Mittwoch finden Klassen-, Stufen,- oder Schulformkonferenzen statt, die sich die Klinke in die Hand geben mit Gesamtkonferenzen oder Dienstbesprechungen. Und wenn mal nichts Derartiges vorausgeplant ist, kommt garantiert ein Kollege auf die Idee, eine Teambesprechung anzusetzen. Allein die letzten zwei Wochen plus der bevorstehenden waren und sind gefüllt mit dem üblichen Gedöns an den Mittwochen, aufgefüllt mit zwei Elternsprechtagen, einem Beratungsnachmittag für lernschwache Schüler, einem Beratungsgespräch mit externen Dozenten für ein bevorstehendes Projekt und zwei langen Abenden am PC, da bis Ende des Halbjahres noch zwei Konzepte für zwei karrieregeprägte Mitlieder der erweiterten Schulleitung geschrieben sein wollen. Meine Kinder habe ich schon am Ende der Herbstferien gedrängt, um nicht zu sagen genötigt, mir ihre Wunschzettel abzugeben. Es lebe das Internet und der damit verbundene Onlinehandel, das meiste habe ich schon bestellt. Leider ist auch die Nachbarschaft viel unterwegs, so dass nicht jedes Paket angenommen werden kann und ich auch noch zur Post rennen muss, um es dort abzuholen. Die Kinder selbst erleben jedes Jahr eine schreckliche Adventszeit. Tests über Tests, Klassenarbeiten, mündliche Abfragen und Referate bilden ihr Tages- und leider auch Wochenendgeschäft, so dass von Besinnlichkeit keine Rede sein kann. Einzig der Adventskalender wird sie morgens in Stimmung bringen, für mehr bleibt keine Zeit. Wenn wir Glück haben, bringt uns das Weihnachtskonzert der Musikschule, in der die Kinder regelmäßig musizieren, auf Weihnachtskurs, meistens aber sind schon die Tage vor dem Konzert geprägt von Aufregung und nervenden zusätzlichen Übungsstunden bis hin zu Tränen, wenn die Stücke einfach nicht klappen wollen. Mein Mann drängt schon nach der Urlaubsplanung fürs kommende Jahr. Kann nicht erstmal dieses enden? Ach ja, und dann sind auch noch die Weihnachtstage und die Silvesterfeier zu planen. Nächstes Wochenende haben sich Freunde zum Adventskaffee eingeladen, sie bringen zwei Kleinkinder und ein Baby mit, das bedeutet, Erdgeschoss absichern, nochmal schnell Plätzchen backen, Kakao besorgen. Die Nachbarschaft plant einen Adventsbrunch, da müssen wir auf jeden Fall hin, meint mein Mann. Und eine Freundin will im alten Jahr unbedingt nochmal was mit mir unternehmen, vielleicht Kino oder Weihnachtsmarkt. Stöhn, ächz, alle Jahre wieder…
Und als mir all diese Gedanken so durch den Kopf schwirren und mich schwindelig werden lassen, nehme ich nun doch mutig den Stift zwischen die Finger. Das Glöckchen bimmelt und bimmelt während ich in mein Feld schreibe: „Keine Zeit, bin im Weihnachtsstress.“ Und diesen Abend, den ich definitiv, da bin ich mir absolut sicher, mit Migräne in einem Lokal gesessen hätte, den Anstand wahrend aber eigentlich geistig abwesend und völlig übermüdet, werde ich dieses Jahr bei meiner Physiotherapeutin verbringen. Ich werde mir eine Wellnesstunde par Exellence gönnen, ich werde mich bei wunderbar duftenden Aromen und dudelnder leiser Entspannungsmusik durchkneten lassen und mich erholen. Und ich werde am darauffolgenden Tag tiefenentspannt die Schule betreten, mich in`s Lehrerzimmer setzen und die anderen beobachten, die sich darüber ärgern, dass sie hingegangen sind, die über alles und jeden lästern, der anwesend war und deren Augenringe davon zollen, dass sie sich besser auch nicht eingetragen hätten, auf der LISTE.
Und nun seid Ihr dran. Ganz ehrlich: Geht Ihr gern zu Weihnachtsfeiern im Lehrerkollegium oder seht Ihr es eher als Pflichtveranstaltung an? Habt Ihr eigentlich auch keine Lust und/oder keine Zeit?