Guten Tag liebes Forum,
ich (m, 24) lese hier schon seit längerem still mit (habe auch schon einmal etwas zum Thema Sonderschulpädagogik wissen wollen) und würde gerne nach meiner Ausbildung zum Erzieher weiterhin liebendgern den Beruf des Grundschullehrers ergreifen. Ich habe auch schon viele Erfahrungen im Grundschulbereich gesammelt und bin davon überzeugt, dass es das Richtige für mich wäre. Nun beobachte ich schon seit längerem den Arbeitsmarkt hier in NRW plus den der Bundesländer West und Ost und insgesamt sieht es ja insbesondere im Westen alles andere als prickelnd aus...
Bspw. heißt es in Hessen:
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Die durchschnittlichen Einstellungschancen (Verhältnis von Bewerbungen zu Einstellungen) liegen daher kurz- und mittelfristig bei voraussichtlich nur rund 15 %. Sehr hohe Bewerbungszahlen stehen einem mäßigen Einstellungsbedarf gegenüber. Dies bedeutet insbesondere für das Ranglistenverfahren weiterhin einen scharfen Leistungswettbewerb zwischen den Bewerberinnen und Bewerbern.
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Beim Drittfach empfiehlt sich die Wahl eines Faches, das von nicht so vielen Mitbewerberinnen und Mitbewerbern vertreten wird bzw. das nicht oder nur eingeschränkt fachfremd unterrichtet werden kann.
Dies gilt insbesondere für die Fächer Musik sowie ev./kath. Religion. Von der Wahl des Faches Sachunterricht ist aufgrund der hohen Konkurrenz eher abzuraten.
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Über 90 % der Grundschullehrkräfte sind Frauen. Deshalb ist es wünschenswert, ja sogar dringend erforderlich, dass mehr Männer dieses Lehramt wählen, weil gerade Jungen für ihre Entwicklung männliche Lehrervorbilder brauchen, von denen sie lernen und mit denen sie sich identifizieren können. Eine bevorzugte Einstellung von männlichen Bewerbern ist aus rechtlichen Gründen allerdings nicht möglich.
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Im Klartext werden nur ca. 15% der BewerberInnen eine Stelle erhalten, dabei sollte man umbedingt Musik oder Religion als Drittfach gewählt haben. Männer sind "dringend erforderlich", man ist aber nicht gewollt dafür etwas zu tun, sondern die müssen halt zusehen wie sie in die besten 15% kommen. Für mich also sehr schlechte Prognosen, da ich kein musikalisches Talent besitze, atheistisch veranlagt bin, gerne Sachunterricht aufgrund meines Interesses für Technik, Naturwissenschaften etc. wählen würde und nicht umbedingt das gesamte Studium+Ref hinweg den totalen Leistungsdruck im Nacken spüren möchte jederzeit perfekt sein zu müssen. Den Text aus Hessen könnte man so auch analog auf NRW, Niedersachsen, Bayern, BW, HH usw. übertragen. Im Osten wird hingegen auch für die nächsten Jahre von einer Unterdeckung ausgegangen, wohl aber auch aus guten Gründen was bspw. die Arbeitskondition betrifft (befristete Verträge, Verbeamtungen=Null, teilweise 700 Euro Gehaltsdifferenz etc.)
Ich möchte hier im Grunde genommen nur anstoßen wie bedauerlich ich es finde, dass an jedem "Boys-Day" und wie sich diese Veranstaltungen noch so nennen männliche Abiturienten für diesen Beruf motiviert werden und dass die Erziehungswissenschaften und Politik ja auch heutzutage begriffen haben sollen wie wichtig Männer im Primarbereich sind und man füge hier noch andere beliebige luftleere Phrasen ein, andererseits ist man politisch und arbeitsrechlich nicht dazu bereit eine Quote dafür einzurichten und lässt die wenigen Grundschullehrer dann eiskalt im Regen stehen sofern sie nicht absolute Top-Noten vorweisen können. Heißt auch auf den Punkt gebracht, dass sich die männlichen Mitbewerber genauso warm anziehen müssen wie der Rest und an der gegenseitigen Zerfleischerei um die wenigen Stellen teilnehmen werden dürfen.
Mir wurde das Studium der Sonderschulpädagogik mit Fokus auf Primardidaktik empfohlen, aber so sehr ich die Arbeit der Sonderschullehrer wertschätze (und das tue ich wirklich, ich habe ein Jahr lang im Ganztag gearbeitet und weiß wie wichtig diese Profession heuzutage geworden ist), möchte ich andererseits nicht wirklich der Spezialist dafür werden lernbehinderte oder verhaltensgestörte Kinder zu "inkludieren", sondern auch die angenehmen Seiten dieses Berufs genießen (wie die lerneifrigen Kinder zu fördern, Kinder mit bereits guten Umgangsformen von Hause aus mitzuerziehen usw.). Zudem glaube ich an den Schweinezyklus und denke, dass jetzt jede/r anfangen wird auf Sonderpädagogik umzusatteln, sodass es schlussendlich wieder zu wenige Grundschullehrkräfte in manchen Regionen geben wird.
Lange Rede, kurzer Sinn: Ich habe das Gefühl, dass wenn man sich zumindest für die nächsten 20 Jahren hier in NRW (bzw. im Westen) dazu entschließen sollte das Grundschullehramt zu studieren und nicht Musik oder Religion als Unterrichtsfach gewählt haben sollte, dann sollte man sich auch gleichzeitig schon mental auf den Umzug in den Osten einstellen. Mobilität wird auch in der freien Wirtschaft verlangt, keine Frage. Und dass es jetzt wenig bewirken wird wie ein Kindergartenkind auf dem Boden herumzustampfen und lauthals "Ich will, ich will aber!" herumzutröten wird genauso wenig an dem allen ändern, darüber bin ich mir sehr bewusst. Jedoch wäre das ein Job, der mir wirklich Jahrzehntelang Freude bereiten könnte, es ist aber alles eher...nennen wir es nicht enttäuschend, nennen wir es sehr ernüchternd. Unter diesen Konditionen ein ganz klares Nein. Und ich werde jedem potentiellen Interessenten davon abraten, denn diese idealistische Augenwischerei an jungen Menschen seitens der Kultusministerien und Universitäten halte ich für absolut unverantwortlich und hinterhältig. Aber nach den Erfahrungen vieler User hier scheint das ja nichts wirklich Neues zu sein.
Mich würde abschließend nur noch interessieren: Angenommen ich habe nach dem Ref keine Aussicht auf eine Stelle in NRW. Ich bewerbe mich in einem anderen Bundesland und erhalte sogar eine Zusage im Angestelltenverhältnis. Bleibt meine Bewerbung in NRW weiterhin erhalten, sodass ich hier nach sagen wir ein bis fünf Jahren eine Planstelle erhalten könnte? Oder fliege ich automatisch von der Warteliste sobald ich eine feste Stelle in Vollzeit in einem anderen Bundesland angenommen habe?
Vielen Dank für's Lesen und ich wünsche euch allen angenehme Ferien.