Eine vielleicht bescheuerte Frage ...

  • Ihr kennt bestimmt den Ausruf "Wie behindert ist das denn?!" Ich hörte das heute früh mehrfach bei einem recht bekannten Youtuber und das hat mich eigentlich aufgeregt.


    Als ich dann unter der Dusche stand, dachte ich, dass "bescheuert" ja eigentlich auch "behindert" heißt. Nur eben: geistig behindert. Aber wenn man von Bekloppten und Bescheuerten redet wie Wischmeyer in der Heute-Show, findet da niemand was dabei. Von behinderten Menschen zu reden ist allerdings nicht mehr politisch korrekt, da muss es "Menschen mit Behinderungen" heißen. Hm.


    Klingt vielleicht für die Jugendlichen von heute das Wort "behindert" so wie für mich das Wort "bescheuert" - derb, aber nicht beleidigend (nicht, wenn man es allgemein benutzt: "Das ist ...") und ich habe einen Bedeutungswandel verpasst?


    Das hat mich jetzt ernsthaft beschäftigt. Gibt ja noch viele solche Wörter: Beknackt, behämmert ... Was meint ihr?

  • Na ja, Blödsinn, Schwachsinn, Idiotie etc. waren auch alles mal Wörter zur Beschreibung von Lern-/Geistigbehinderten, sogar wissenschaftliche. Daran denkt heute auch niemand mehr, sondern jeder verwendet sie selbstverständlich im Alltag.

  • Wenn ich bedenke, wie viel bescheuerten Schwachsinn man manchmal von studierten Leuten vernehmen kann, ist hier schon ein großer Abstand zum Begriff "behindert" vorhanden, der eine dauerhafte Beeinträchtigung und eine umgrenzbare Personengruppe beschreibt.


    Zitat

    Der Begriff Behinderung wird als Umschreibung gebraucht für eine dauerhafte und gravierende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe bzw. Teilnahme einer Person, verursacht durch das Zusammenspiel ungünstiger Umwelt-, sozialer oder anderer Faktoren (Barrieren) und solcher Eigenschaften der behinderten Person, welche die Überwindung der Barrieren erschweren oder unmöglich machen; Behinderung ist also keine „Krankheit“.


    zitiert aus der "Allwissenden Müllhalde", Stichwort "Behinderung"


    Nur weil sich hier ein "Neusprech" breit macht, muss man das nicht als hinnehmbare Ausdrucksweise akzeptieren. Meine Schüler trauen sich in meiner Gegenwart nicht, auf diese Art zu reden, weil sie wissen, wie ich darauf reagiere. :sauer:

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

  • ...behinderten Menschen ... "Menschen mit Behinderungen" ...


    Und was ist jetzt hier genau der Unterschied? Nur Adjektiv vs. Substantiv? Welchen Unterschied macht das in der Bedeutung?


    Ich versteh's echt nicht.

    Planung ersetzt Zufall durch Irrtum. :P

    8) Politische Korrektheit ist das scheindemokratische Deckmäntelchen um Selbstzensur und vorauseilenden Gehorsam. :whistling:

    Moralische Entrüstung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen.


  • Und was ist jetzt hier genau der Unterschied? Nur Adjektiv vs. Substantiv? Welchen Unterschied macht das in der Bedeutung?


    Ich versteh's echt nicht.


    Ein behinderter Mensch (kurz oft als 'Behinderter' bezeichnet) wird so auf seine Behinderung reduziert. Sagt man 'Mensch mit Behinderung' macht man deutlich, dass es zuersteinmal ein Mensch ist, der zusätzlich eben eine Behinderung hat.


    Gruß

  • Müsste man dann auch konsequent im Alltag sprechen von einem


    a) Mensch mit männlicher Geschlechtszugehörigkeit anstatt Mann
    c) Mensch mit weiblichem Geschlecht und beruflicher Tätigkeit im horizontalen Gewerbe anstatt Prostituierte


    Denn wenn ich Mann sage, reduziere ich den Menschen doch auch nur auf seine Geschlechtszugehörigkeit und sehe nicht den Menschen im Vordergrund. Oder wenn ich von einer Prostituierten spreche, dann reduziere ich den Menschen auf seine Berufstätigkeit.


    Aus meiner Sicht ist es in Ordnung einen Begriff zu verwenden, der einen bestimmten Aspekt eines Menschen in den Vordergrund stellt, wenn es in dem Sachzusammenhang eben um genau diesen Aspekt geht.
    Wenn das Geschlecht in einem Zusammenhang von Bedeutung ist, dann sage ich eben "ein Mann" oder "eine Frau" und reduziere den Menschen eben ein Stück weit, weil es in dem Zusammenhang eben auch um diesen Aspekt genau geht. Deshalb habe ich auch kein Problem damit von Behinderten zu sprechen. Auch nicht von Legasthenikern, Genies, Cholerikern und so weiter.


    Ich empfinde diese ganzen gestelzten Formulierungen als Gutmenschentum und viel zu umständlich und gekünstelt für den Alltag. Diese gesamten "ein Mensch mit....." Konstruktionen. Genauso wie diese Begriffsumwandlungen in Berufen. Ich sage immer noch, dass "Putzfrauen" bei uns an der Schule arbeiten. Und ich grüße sie jeden Tag und unterhalte mich auch ab und an mal kurz mit ihnen und scherze herum, wenn sie abends in den Chemiräumen putzen.
    Ganz im Gegensatz zu so manch jungen, politisch korrekten Kolleginnen, die mich doch glatt belehren wollten, dass es "Raumpflegerinnen" sind, aber (vermutlich!) noch nicht ein Wort mit ihnen gewechselt haben. Sicher aber grußlos vorbeigegangen sind, denn das habe ich gesehen und mir dann meinen Teil zur political correctness gedacht.

  • Nur weil sich hier ein "Neusprech" breit macht, muss man das nicht als hinnehmbare Ausdrucksweise akzeptieren. Meine Schüler trauen sich in meiner Gegenwart nicht, auf diese Art zu reden, weil sie wissen, wie ich darauf reagiere. :sauer:


    Absolut nachvollziehbar, geht mir ja auch so. Trotzdem glaube ich, wir machen da völlig künstliche Unterscheidungen und haben eine manchmal doch recht verkrampfte Haltung zu dem, was "politisch korrekt" ist und was nicht, und darüber bin ich ins Grübeln geraten. Warum zucken wir bei "behindert" mehr zusammen als bei "bescheuert"? "Neusprech" finde ich vom Prinzip her nichts Schlimmes, die Sprache wandelt sich nun mal.


    "Schwul" war auch mal ein Schimpfwort. Und eine Menge von Fäkalausdrücken gehören mittlerweile beinahe zum guten Ton. Eine umgekehrte Karriere machte z. B. die Bezeichnung "Neger", bei der sich noch meine Mutter wirklich nichts weiter gedacht hat. Oder "Kindergärtnerin". Oder "Putzfrau", wie oben beschrieben.


    Das mit der Reduzierung, Firelilly, da gebe ich dir Recht: Albern. Dann würde man ja mit jeder Eigenschaft einen Menschen auf diese reduzieren.


    Und das ist ja auch immer nur bei ganz bestimmten Eigenschaften kritisch. Dass niemand, wirklich niemand nur "Autofahrer" ist und sich deshalb über Schnee ärgern muss, scheinen die Wettermenschen immer zu vergessen, und die Autofahrer scheint es nicht zu stören, derart reduziert zu werden. Steige ich aus dem Auto, bin ich dann "Person weiblicher Geschlechtszugehörigkeit mit Fahrhintergrund und Kind" und darf mich dann auch endlich freuen, wenn die Welt weiß ist?

  • Autofahrer oder Mann sind aber keine negativ konnotierten Begriffe und beschreiben keine im Allgemein als unerwünscht geltende Eigenschaften.


    Ich weiß schon, dass das der Grund ist. Das ist es ja gerade. Man macht bei einigen Personengruppen irrsinnige Sprachverrenkungen und gerade das ist im Grunde genommen diskriminierend. Wenn ich es irgendwie unfein finde, ältere und alte Menschen auch so zu nennen (und nicht "Senioren", "Best Ager", "55+"), dann heißt das ja wohl, dass Altsein etwas Unerwünschtes ist.


  • Und was ist jetzt hier genau der Unterschied? Nur Adjektiv vs. Substantiv? Welchen Unterschied macht das in der Bedeutung?


    Ich versteh's echt nicht.

    In der Bedeutung - das eine ist (noch) politisch korrekt, das andere nicht. "Behinderte" war früher auch mal akzeptabel, noch weiter davor Krüppel (auch wenn es keine Synoyme sind).
    Euphemismustretmühle .

  • In der Bedeutung - das eine ist (noch) politisch korrekt, das andere nicht. "Behinderte" war früher auch mal akzeptabel, noch weiter davor Krüppel (auch wenn es keine Synoyme sind).
    Euphemismustretmühle .


    Ah, danke für den Hinweis!
    Das Phänomen kannte ich, den linguistischen Terminus dafür nicht.

  • Mein 7jähriger Sohn hat zu seinem großen Bruder in den letzten Tagen, wenn diese ihn geärgert hat auch oft "Bist Du behindert?" gesagt. Mich hat das (so als Sonderpädagogin) doch etwas genervt. Mein Problem war dann allerdings seine Argumentation: "Mama, wenn der aber doch so komische Sachen machen, dann ist das doch so als sei er behindert." Ich habe es dann trotzdem verboten.


    Andererseits: wir haben ein geistig behindertes Kind im engen Bekanntenkreis. Die Familie pflegt einen sehr offenen ungezwungen Umgang mt der Behinderung. Da darf man auch mal über lustige Verhaltensweisen lachen oder eben das Gegenteil und sagen "Oh, das ist aber schlimm". Denn es ist einfach eine Eigenart, die das Kind mit sich trägt. Und da wird halt auch schonmal gesagt "XY macht das, weil er behindert ist." (Wir benutzen trotz politischer Korrektheit nicht den Begriff "Kind mit Behinderung") Genauso wie ich sagen könnte "Z macht das, weil er stur/klein/faul/fleißig o.ä. ist". Ist es also wirklich schlimm zu sagen "Bist Du behindert?". Ich weiß es nicht.

    • Offizieller Beitrag

    Die community der behinderten Menschen ist sich da auch alles andere als einig. Jeder sieht/fühlt das anders.
    http://www.mobil-mit-behinderu…tent/columnnews/18077.htm


    Mein örlicher Schwerbehindertenbeauftragter hat sich vor nem Jahr mal kaputt gelacht, als das Gremium der SBV dafür votieren wollte, dass man ab sofort "teilhabegemindert" genannt werden wollte. Er selbst nehme an allem Teil und sei behindert und nicht teilhabegestört und man könne ihn mal mit dieser Worthuberei...

    WE are the music-makers, and we are the dreamers of dreams,
    World-losers and world-forsakers on whom the pale moon gleams
    yet we are the movers and shakers of the world for ever, it seems.

  • In der Regel benutzen die Schüler die Floskeln: "Das ist behindert" oder "Der ist behindert" oder "Voll behindert" synonym als Ausdruck für "Der, die, das ist doof, unnötig, unnütz, unbrauchbar, Schrott..."
    Diese Gleichsetzung halte ich persönlich für gefährlich und sehe darin eine mögliche Wegbereitung für Euthanasie-Gedanken. Was nichts wert ist, schmeißt man weg. Wenn diese gedankliche Brücke sich bei den Kindern einnistet - was den Umgang mit Behinderten betrifft - ist Schluss mit lustig. Daher gehe ich da rigoros dagegen vor.

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

  • Hallo, Piksieben, deine Frage ist überhaupt nicht bescheuert, sondern sehr berechtigt. Darf ich ganz weit ausholen...? Wenn ich als ehemalige Vielschreiberin hier eh nicht mehr unterwegs bin... es ist merkwürdig, nach langer Zeit hier wieder was zu schreiben...


    Weil mein Posting so lang ist, habe ich mal Zwischenüberschriften eingebaut.


    Für die, die mich nicht kennen, eine Kurzvorstellung: Ich war mal Referendarin und habe nach einem Jahr abgebrochen. Seither arbeite ich in der Wissenschaft voriwgend zum Thema Behinderung.


    Ich wurde auf diesen Thread aufmerksam gemacht, weil ich - ganz unbescheiden gesagt - Expertin bei diesem Thema bin, als "behinderte Frau" oder "Frau mit Behinderung", die Sonderpädagogik studiert hat, ein Jahr Referandariat in einem Förderzentrum gemacht hat (und dann abgebrochen) und sich seither beruflich wie privat mit Disability Studies (frei übersetzt: Forschung und Lehre über das Behindert-Werden von Menschen) auseinandersetzt, behindertenpolitisch aktiv ist und viele verschiedene behinderte Menschen sowohl privat als auch beruflich kennt.


    Ich freue mich sehr, dass es hier einige so reflektierte Gedanken gibt, die den Nagel auf den Kopf treffen. Ich fange mal mit der Ausgangsfrage an und hole weiter aus.


    Bezeichnungen: "Behinderte Menschen" - "Menschen mit Behinderung" - "Behinderte" - Menschen mit Handicap"
    Wie Meike schon schreibt, gibt es nicht mal unter behinderten Menschen Einigung, welche Bezeichnung angemessen ist. Die gängigsten Bezeichungen sind "behinderte Menschen" und "Menschen mit Behinderung", die von der Mehrheit der direkt betroffenen Menschen auch verwendet wird. Aber ganz egal, welchen der beiden Begriffe ihr verwendet, einige werden sich immer falsch bezeichnet fühlen. Ich bevorzuge "behinderte Menschen" - Grund siehe unten.


    Behindertenaktivisten, die sich wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzen, bevorzugen den Begriff "behinderte Menschen", weil sie davon ausgehen, dass jene nicht von Natur aus behindert sind, sondern durch Barrieren und Vorurteile behindert werden. Wäre beispielsweise die ganze Welt rollstuhlgerecht gebaut, wären Menschen im Rollstuhl nicht mehr behindert. Genau aus diesem Grund lehnen viele von ihnen die Bezeichnung "Menschen mit Behinderungen" ab, weil sie beinhaltet, als würde der Mensch seine Behinderung wie einen Rucksack mit sich tragen. Aber andere wiederum lehnen die Bezeichnung "behinderte Menschen" ab aus dem Grund, den CKR auch nannte.


    Was überhaupt nicht geht, ist die Bezeichnung "Behinderte" als Substantiv, weil der Mensch dadurch komplett auf die Behinderung reduziert wird und das negativ konnotiert ist. Das ist auch der Unterschied zum harmlosen Begriff "Mann" oder "Autofahrer". Plattenspieler hat das kurz und bündig und sehr gut begründet.


    Manche Menschen - leider auch behinderte - bezeichnen sich als "Menschen mit Handicap" oder "gehandicappte Menschen". Für die oben genannten kritischen Behindertenwissenschaftler ist diese Bezeichnung ein no go. Es wird vermutet, dass "Handicap" in Verbindung mit "cap in hand" (Kappe in der Hand) steht, was eine Umschreibung für Betteln ist. Daneben gibt es das Argument, dass Handicap aus dem Sport (Golf und Pferderennen) kommt.


    "Wie behindert ist das denn?!" - "behindert" als Schimpfwort
    Der Ausruf "Wie behindert ist das denn?!" oder "Das ist ja voll behindert" wird aus behindertenwissenschaftlicher Sicht auch sehr kritisch betrachtet, eben weil es negativ konnotiert ist und davon ausgegangen wird, dass Sprache unser Denken beeinflusst. Genauso kritisieren homosexuelle Menschen den Ausruf "Das ist ja voll schwul." Ich finde es super, wenn einige von euch Ausrufe dieser Art anmahnen. Wer viel Zeit hat, kann zum Einfluss der Sprache auf unser Denken im Zusammenhang mit der Behindertenthematik hier einen schönen Artikel vom Behindertenpolitiker Dr. Peter Radtke lesen: http://www.peter-radtke.de/artikel/sprache.php


    Alternative Bezeichnungen für "behinderte Menschen" beim Schreiben
    Piksieben, du sprichst von "Sprachverrenkungen". Im Grunde hast du recht, aber wir sollten hier zwischen Sprechen und Schreiben unterscheiden. Im mündlichen Sprachgebrauch (Ex-Deutsch-Referendarin lässt grüßen) ist "behinderte Menschen" so ziemlich die übliche Bezeichnung, die auch weitgehend akzeptiert wird. Bei wissenschaftlichen Artikeln (und auch Vorträgen) sind sprachwissenschaftlich schöne Lösungen folgende Bezeichnungen, die weitgehend anerkannt sind:
    - selbstbetroffene Menschen
    - von Behinderung betroffene Menschen
    - Menschen, die als behindert klassifiziert werden
    - Menschen, denen das Merkmal "behindert" zugeordnet wird
    - Menschen mit Behinderungserfahrungen
    - Menschen mit Diskriminierungserfahrungen in Bezug auf körperliche Merkmale (dazu gehören auch Sinnesbehinderungen)
    - ...


    Ich finde, es gehört zum Respekt, die von den direkt betroffenen Menschen bevorzugten Bezeichnungen zu verwenden. Ich sage mittlerweile "schwarze Frau" statt "farbige Frau", weil die direkt betroffenen Rassismus-Wissenschaftler das wünschen. Bei Unterhaltungen sind sprachliche Reduktionen o.k., bei wissenschaftlichen Vorträgen und Artikeln sind die "Sprachverrenkungen" angemessen.


    Menschen sind nicht behindert, sondern werden behindert
    Weiter oben habe ich vom Behindert-Werden der Menschen geschrieben. Damit ist gemeint, dass Menschen nicht so sehr durch körperliche Merkmale, sondern durch Vorurteile und Barrieren behindert werden. Gäbe es überall Braille, Wegleitsysteme für Langstöcke (nicht "Blindenstöcke" ;) ), menschliche Assistenzen, Assistenzhunde, Audiobücher usw., wären blinde Menschen nicht mehr behindert. Unterhält sich eine Gruppe von gehörlosen Menschen in Gebärdensprache und ein hörender Mensch ist darunter, der nichts versteht, dann ist er der Behinderte, während die gehörlosen Menschen nichtbehindert sind.


    Prof. Swantje Köbsell unterscheidet zwischen dem medizinischen (inidividuellen) Modell von Behinderung, das in der Sonderpädagogik verbreitet ist, und dem sozialen Modell von Behinderung, das in den Disability Studies vertreten ist. Mehr dazu: http://www.hs-emden-leer.de/fi…g_Koebsell_Emden_2013.pdf (damals noch als "Dr." unterwegs gewesen)


    Ein Blogtext von Christiane Link erklärt den Unterschied auch ganz gut verständlich: http://blog.zeit.de/stufenlos/…esellschaftliche-aufgabe/


    Das Thema "Behinderung" in der Schule
    In manchen Klassen wird je nach Lehrplan ja Behinderung als Thema behandelt. Mein Tipp ist, behinderte Menschen mit behindertenpolitischem Hintergrund in den Unterricht einzuladen oder behinderte Menschen, die selbstbestimmt wie nichtbehinderte Menschen leben und arbeiten. Gute Anregungen für den Unterricht in kindgerechter Form finden sich dort: http://www.inklusion-als-menschenrecht.de/


    Literaturtipps
    Wer tiefer in die kritische Behindertenwissenschaft einsteigen möchte, dem seien beispielhaft folgende Namen genannt: Swantje Köbsell, Theresia Degener, Anne Waldschmidt, Gisela Hermes, Heike Raab, Rebecca Maskos, Michael Zander, Udo Sierck. Sie sind alle selbst betroffen. ;)


    Zum Begriff "Disability Studies" kann ich diesen Text empfehlen: http://www.disabilitystudies.de/agdsg.html#vortrag1


    Besonders empfehlen kann ich die folgende Website "Leidmedien" (absichtlich mit "d" geschrieben), die sich sehr kritisch mit der Darstellung von behinderten Menschen in den Medien auseinandersetzt und auch Sprachliches auseinanderpflückt: http://leidmedien.de/


    Nur am Rande zum Schluss...
    Als jemand, die sich mit Diskriminierungen verschiedener Arten befasst (nicht nur auf behinderte Menschen bezogen), bevorzuge ich eigentlich die Schreibweise "Wissenschaftler_innen", weil es Meschen gibt, die sich weder als eindeutig weiblich noch als eindeutig männlich definieren (z.B. inter- und transsexuelle Menschen). Aber ich wollte die politische Korrektheit in meinem Posting nicht auf die Spitze treiben...


    Um zurück zum Ausgangsposting zu kommen: Ausrufe wie "Das ist voll behindert, ey!" sollten tatsächlich konsequent unterbunden werden. Siehe hierzu auch Leidmedien: http://leidmedien.de/journalis…pps/begriffe-von-a-bis-z/

  • Danke für den sehr fundierten und interessanten Beitrag, Powerflower.


    Das meiste, was du schreibst, leuchtet ein. Lediglich an einer Stelle möchte ich nachfragen:


    Menschen sind nicht behindert, sondern werden behindert


    Ohne dass ich mich damit tiefer beschäftigt hätte, aber in meinem Studium wurden überwiegend beide extremen Ansichten ("nur behindert sein" oder "nur behindert werden"), wie sie historisch vertreten wurden, abgelehnt und mehr in einer gegenseitigen Abhängigkeit betrachtet, wie sie ja im aktuellen "bio-psycho-sozialen" ICF-Modell dargestellt wird. Auch und gerade im Hinblick auf Diagnostik und Förderung erscheint es mir auch notwendig, beide (oder nach ICF alle drei) Perspektiven zu berücksichtigen, um der Tragweite und Realität von "Behinderung" gerecht zu werden.


    Hat jetzt nicht viel mit der Terminologie zu tun. Ob es hier notwendig und möglich ist, beides in einem Begriff auszudrücken, wäre eine andere Frage.



    Ich finde, es gehört zum Respekt, die von den direkt betroffenen Menschen bevorzugten Bezeichnungen zu verwenden.


    Ich stimme dir grundsätzlich zu. Allerdings beziehst du dich ja überwiegend auf Menschen mit Körper- und Sinnesbehinderungen. Wie sieht es bei Menschen mit (größeren) kognitiven Beeinträchtigungen aus, die vielleicht die Hintergründe und Konsequenzen der verwendeten Terminologie gar nicht einschätzen können?
    Andererseits kann man hier dann wieder argumentieren, dass man diese Menschen entmündigt, wenn man ihnen diese Entscheidung nicht selbst überlässt. Ist sicherlich ein schmaler Grad.




    In der Sonderpädagogik geht die Tendenz ja dahin, den Begriff Behinderung gar nicht mehr zu verwenden (Sprachbehindertenpädagogik -> Förderschwerpunkt Sprache, Körperbehindertenpädagogik -> Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im FSP körp. und mot. Entw. statt körperbehinderter Schüler usw.). Im Kontext der Inklusion vertreten manche sogar Ansätze, die gänzlich auf derartige Kategorisierungen verzichten wollen, egal unter welcher Bezeichnung. Das halte ich persönlich für eine Gefahr im Hinblick auf die spezielle Unterstützung, die diese Kinder/Schüler eben doch benötigen. Aber das ist wieder eine neue Debatte...



    Als jemand, die sich mit Diskriminierungen verschiedener Arten befasst (nicht nur auf behinderte Menschen bezogen), bevorzuge ich eigentlich die Schreibweise "Wissenschaftler_innen"


    Das wiederum halte ich für Unsinn.

  • Hallo Plattenspieler,


    ich sollte eigentlich ins Bett, möchte dir aber noch schnell antworten.


    Das ICF-Modell wird von den Disability Studies nicht strikt abgelehnt, aber es betont die medizinische Komponente doch relativ stark und gleichberechtigt neben den anderen Komponenten.


    Auch Menschen mit kognitiven Behinderungen haben eine Organisation, die von ihnen selbst vertreten wird, nämlich den Verein "People First" bzw. "Mensch zuerst" (http://www.people1.de/). Das sind natürlich Menschen mit kognitiven Behinderungen, die in der Lage sind, ihre Wünsche und Forderungen selbst zu formulieren. Sie möchten als "Menschen mit Lernschwierigkeiten" bezeichnet werden und das sollte für alle mit kogitiven Behinderungen gelten. Warum wird dieser Wunsch so missachtet, immer mit dem Argument, dass es notwendig sei, Menschen nach Schwere der Behinderung zu klassifizieren? Aber warum kann nicht einfach zwischen "geringen" und "ausgeprägten Lernschwierigkeiten" unterschieden werden?
    Hierzu eine Stellungnahme von "Mensch zuerst": http://www.people1.de/was_mensch.html - Sicher können sie nicht für alle kognitiv behinderten Menschen sprechen. Aber das tut auch niemand von den anders behinderten Menschen, dass sie für alle sprechen... "Kognitiv behindert" ist übrigens eine gute Kompromisslösung.


    Der Begriff "Förderbedarf" wird auch kritisiert, weil er negativ konnotiert ist und ALLE Menschen (mit und ohne Behinderung) irgendeinen Förderbedarf haben, nur eben in unterschiedlichem Ausmaß in unterschiedlichen Bereichen. Hubert Hüppe, ehemaliger Behindertenbeauftragter sagte mal, dass der Begriff "Förderschwerpunkt Hören/Lernen/Sehen/..." irreführend sei, weil eine Behinderung nicht "weggefördert" werden könne. Statt z.B. von "Schülern mit Förderbedarf im Bereich Hören" wird vorgeschlagen, lieber von "schwerhörigen Schülern" oder "gehörlosen Schülern" zu sprechen.


    Du findest die Bezeichnung "Wissenschaftler_innen" unsinnig. Menschen, die "zwischengeschlechtlich" sind, begrüßen sie aber in der Regel sehr. Und ich würde es mir nie anmaßen, eine bestimmte Ausdrucksweise, die weitgehend anerkannt ist, als "unsinnig" zu bezeichnen. So akzeptiere ich es auch, wenn andere die maskuline Schreibweise bevorzugen.


    Ich möchte diese Ansichten niemandem aufzwingen, aber das sind die Ansichten aus der kritischen Behindertenwissenschaft, die feinste Formen von Diskriminierungen aufdeckt, wo andere behaupten würden, dass das überempfindlich sei. Was sich kaum jemand bewusst macht, dass es gerade die ständigen klitzekleinen Diskriminierungen sind, dir kränkendsind, weil man sich so schlecht dagegen wehren kann. (Ha, ich vermeide eigentlich auch das Wörtchen "man", aber ich lasse das jetzt mal stehen...)


    Ganz ähnlich ist es bei Mobbing, die Kränkungen finden meist sehr versteckt statt, viele kleine Kränkungen, die sich summieren und gegen die gemobbte Person sich kaum wehren kann, weil niemand außer ihr die Diskriminierungen wahrnimmt. Manche Handlungen erscheinen nach außen hin sogar positiv, obwohl sie (je nach Kontext) in Wirklichkeit beleidigend sind, z.B. Sätze wie "Lassen Sie das mal, das wird Ihre Kollegin übernehmen, die kann das sehr gut und Sie sind entlastet."


    Irgendwie kommen wir vom Thema ab... ist allerdings auch meine Schuld.

    • Offizieller Beitrag

    Ich möchte diese Ansichten niemandem aufzwingen, aber das sind die Ansichten aus der kritischen Behindertenwissenschaft, die feinste Formen von Diskriminierungen aufdeckt, wo andere behaupten würden, dass das überempfindlich sei. Was sich kaum jemand bewusst macht, dass es gerade die ständigen klitzekleinen Diskriminierungen sind, dir kränkendsind, weil man sich so schlecht dagegen wehren kann.


    Tja, ich weiß nicht ob unser Plattenspieler für solche Feinheiten der richtige Ansprechpartner ist...


    Zitat von Plattenspieler

    Das mag so sein, daraus geht aber nicht notwendig hervor, dass das für Menschen auch erstrebenswert ist. Sonst müssten wir mit der gleichen Argumentation auch Pädosexualität, Kannibalismus etc. für sinnvoll halten.

    ... und der folgende thread...


    Ansonsten vielen Dank für den erhellenden Beitrag, PowerFlower... :)

    WE are the music-makers, and we are the dreamers of dreams,
    World-losers and world-forsakers on whom the pale moon gleams
    yet we are the movers and shakers of the world for ever, it seems.

  • Danke, Meike, für den Hinweis. Ich bin ziemlich sprachlos, was Plattenspieler in diesem Thread von sich gibt... tut mir leid, Plattenspieler, aber damit hast du dich für mich als ernstzunehmenden Diskussionsteilnehmer disqualifiziert.


    Aber um auf deine Kritik einzugehen, die andere vermutlich auch schon für sich formuliert haben: Die physische Komponente von Behinderung wird in der Behindertenwissenschaft keineswegs verleugnet, sondern es wird deren Überbetonung kritisiert. Neben dem sozialen Modell von Behinderung wird auch das kulturelle Modell von Behinderung diskutiert, das sich allerdings bislang nicht so sehr durchgesetzt hat. Zum Weiterlesen für die, die es interessiert: http://www.bdwi.de/forum/archiv/themen/gesund/115661.html

  • Hallo Powerflower,


    Das ICF-Modell wird von den Disability Studies nicht strikt abgelehnt, aber es betont die medizinische Komponente doch relativ stark und gleichberechtigt neben den anderen Komponenten.


    Das mag schon sein.
    Es ist aber durchaus das aktuell dominante Modell in Medizin, Psychologie, Sonderpädagogik etc., und wir werden auch angehalten, damit zu arbeiten.
    Und wie gesagt: Zur Diagnose- und Förderplanung finde ich es auch ganz sinnvoll.



    Auch Menschen mit kognitiven Behinderungen haben eine Organisation, die von ihnen selbst vertreten wird, nämlich den Verein "People First" bzw. "Mensch zuerst" (http://www.people1.de/). Das sind natürlich Menschen mit kognitiven Behinderungen, die in der Lage sind, ihre Wünsche und Forderungen selbst zu formulieren. Sie möchten als "Menschen mit Lernschwierigkeiten" bezeichnet werden und das sollte für alle mit kogitiven Behinderungen gelten.


    Stimmt, da war was. Sollte man eigentlich wissen, auch wenn man, wie ich, andere Schwerpunkte studiert hat.
    Das "Problem" mit dem Begriff ist wohl, dass er im Gegensatz zu den von dir aufgeführten Bezeichnungen für Menschen mit Körperbehinderungen kein Neologismus ist, sondern ein bereits bestehender Terminus, der mit einer anderen Bedeutung belegt ist. Lernschwierigkeiten deckt im Allgemeinen ein viel breiteres Spektrum ab, und kann - zumindest zeitweise - jeden Menschen betreffen.



    Warum wird dieser Wunsch so missachtet, immer mit dem Argument, dass es notwendig sei, Menschen nach Schwere der Behinderung zu klassifizieren? Aber warum kann nicht einfach zwischen "geringen" und "ausgeprägten Lernschwierigkeiten" unterschieden werden?


    Ich denke schon, dass wir trennscharfe, eindeutige Bezeichnungen brauchen. Allein schon, um den entsprechenden Bedürfnissen der entsprechenden Menschen auf allen Ebenen (Betreuung, Pflege, Bildung, Teilhabe etc.) ausreichend gerecht zu werden. Mit verschleiernden, wenig sagenden Begriffen ist niemandem geholfen, am wenigsten den so bezeichneten Menschen selbst.


    Dass auf der anderen Seite natürlich solche Etikettierungen immer die Gefahr der Stigmatisierung bergen, ist mir schon bewusst. Deshalb finde ich diese Debatte darüber, welche Bezeichnungen wir verwenden und wie wir sie vermitteln, ja auch absolut notwendig und sinnvoll.


    Wobei viel mehr als Bezeichnungen die Information über und vor allem der Kontakt zu den betroffenen Menschen dabei hilft, Vorurteile abzubauen.



    Der Begriff "Förderbedarf" wird auch kritisiert, weil er negativ konnotiert ist und ALLE Menschen (mit und ohne Behinderung) irgendeinen Förderbedarf haben, nur eben in unterschiedlichem Ausmaß in unterschiedlichen Bereichen. Hubert Hüppe, ehemaliger Behindertenbeauftragter sagte mal, dass der Begriff "Förderschwerpunkt Hören/Lernen/Sehen/..." irreführend sei, weil eine Behinderung nicht "weggefördert" werden könne. Statt z.B. von "Schülern mit Förderbedarf im Bereich Hören" wird vorgeschlagen, lieber von "schwerhörigen Schülern" oder "gehörlosen Schülern" zu sprechen.


    Ja, deshalb ist die offizielle Bezeichnung ja auch "sonderpädagogischer Förderbedarf", um den Umfang und die Intensität zu verdeutlichen und es von "normalem Förderbedarf", den wir alle haben, abzugrenzen. Und durch die Benennung von Förderschwerpunkten wird auch dem Rechnung getragen, dass die Menschen nicht auf ein Merkmal reduziert werden.


    Ich finde diese Terminologie, die ja von beiden Seiten (!) stark kritisiert wird, eigentlich gar nicht so schlecht, obwohl es natürlich ein Wortungetüm ist ("Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung" ...). Und dass impliziert würde, dass die Behinderung "weggefördert" werden könne, finde ich auch nicht. Wie gesagt: Durch "Förderschwerpunkt" wird gerade verdeutlicht, dass es nicht nur darum geht, sondern darum, die Menschen in ihrer gesamten Persönlichkeit mit allen Stärken und Schwächen zu sehen und zu unterstützen. Die von dir genannte Gefahr sehe ich eher bei Bezeichnungen wie "Sprachheilpädagogik/-schule/-schüler" (obgleich die historisch auch anders verstanden wurden).

Werbung