Interessante Glosse eines Lehrers. Daraus zitiert:
ZitatSchon im Referendariat hat es mich genervt, dass für viele Schüler die Note bei Weitem wichtiger ist als die Inhalte. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Wenn ich Schüler chinesische Vokabeln lernen ließe und behaupten würde, sie bräuchten das Vokabular für die nächste Französischlektion - die Schüler würden diese Vokabeln lernen, sofern sie dafür eine Note bekämen. Die Erkenntnis, dass Schüler für Noten lernen und ihnen das Wissen ziemlich egal ist, lässt mich schon seit Langem an dem Sinn der Notenvergabe zweifeln.
Persönlich empfinde ich Notengebung als ein unnötiges Ärgernis, das in erster Linie eine kulturelle Praxis ist und weniger eine tatsächlich objektive Form der Leistungsmessung eines Menschen (was für sich wiederum eine widerliche kulturelle Praxis der Moderne darstellt.) Am liebsten würde ich keine Noten geben und ich bin auch davon überzeugt, dass das Interesse meiner Schüler oder die Qualität meines Unterrichts nicht darunter litte.
Dass Noten bei Schülern Priorität vor Inhalten haben, ist Effekt und Beleg dieser kulturellen Praxis. Was am Ende an Lebensschancen herauskommt, misst sich an einer Skala von Ordinalzahlen. Da das ein längerfristig ein sehr viel wichtigeres Ziel als eine tiefgehende Lektüre einer Ballade, die korrekte Übersetzung eines ablativus absolutus oder die Ableitung einer exponentialen Funktion ist, operationalisieren die Schüler eben das Lernziel einer gesellschaftlichen Prioritätensetzung, die wir als Lehrer aus einer anderen Perspektive in unserer Alltagsarbeit kennen. Das humboldtsche Bildungsideal des solvent arrivierten Bürgertums ist eben nicht mehr als das; ein schönes Ideal für lauschige Kamingespräche bei guter Musik und Cognacschwenker; bitte schön entre nous, hoi pollei der arbeitenden Masse mögen draußen bleiben. Kann ich also sagen, dass mich die Jagd der Schüler nach den niedrigen Zahlen nervt? Ja, aber es sind nicht die Schüler, die ich dafür verantwortlich mache.
Nele