Schülerin ritzt sich

  • Hallo,


    ich bin in meinem ersten Berufsjahr und seit dem Halbjahr auch Klassenlehrerin einer siebten Klasse (Privatgymnasium).


    Am Freitag kam nach der Schule einer meiner Schüler auf mich zugestürmt - er wollte mich unbedingt außerhalb des Unterrichts und fern von den anderen Klassenkameraden antreffen. Er erzählte mir, dass eine meiner Schülerinnen sich seit wenigen Wochen ritzen würde. Nachdem die Mitschüler darauf aufmerksam wurden, dass sie teilweise richtig tiefe, gerade Einritzungen auf den Unterarmen hätte, sprachen sie sie darauf an. Sie sagte nichts und trägt seitdem nur noch langärmlige Oberteile.


    Ich muss ehrlich gestehen, dass mir das gar nicht aufgefallen war. Sie ist eine sehr fröhliche, beliebte, aber auch vorlaute und "streitlustige" Schülerin. Ab und zu eckt sie in der Klasse mit ihrer Art an, doch scheint sie auch ein echter Kumpel zu sein, weswegen sie von der ganzen Klasse gemocht und akzeptiert wird. Auch ihre Leistungen sind in allen Fächern gut. Zu Hause ist es wohl nicht einfach, weil die Mutter sehr krank ist, jedoch kümmert sich der Vater rührend um seine 4 Töchter, die ihn auch viel im Haushalt unterstützen.


    Nun weiß ich nicht, wie ich mit der Information umgehen soll. Um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht, wie ernst ich das nehmen muss, da sie gern im Mittelpunkt steht und gern die ganze Aufmerksamkeit auf sich konzentriert. Dennoch kann und will ich es nicht einfach ignorieren.


    Wie geht man also in so einem Fall vor? Wie kann ich mit der Schülerin ins Gespräch kommen? Muss ich jemanden Bescheid sagen (Eltern, stellv. Klassenlehrerin, Schulleitung) oder sollte ich es erst einmal für mich behalten?


    Ich würde mich sehr über Tipps von erfahrenen Kollegen freuen.
    Schulsozialarbeiter o.Ä. haben wir leider nicht.

  • Hallo Marry,
    Dieses Ritzen ist ein ganz starker Hilferuf des Mädchens und ich würde es auf keinen Fall ignorieren.


    In einer Pause würde ich an deiner Stelle mit dem Mädchen sprechen und ihm meine Hilfe anbieten. Es wäre schön, wenn das Mädchen weiß, dass es zu jemandem Vertrauen haben kann. Vielleicht wünscht es sich auch mal, in den Arm genommen zu werden oder einfach nur zu reden. Solche Menschen benötigen auch sehr viel Lob, da sie sich selbst nicht mehr zu schätzen wissen.
    Ich würde auf keinen Fall etwas hinter seinem Rücken machen, sonderrn alles im Gespräch mit ihm lösen.


    Du hast keine Pflicht, dies zu melden.


    Liebe Grüße
    tamina


  • Ich würde auf keinen Fall etwas hinter seinem Rücken machen, sonderrn alles im Gespräch mit ihm lösen.


    Ich würde mir auf keinen Fall einreden, dass ich qualifiziert wäre, so ein Problem selber zu lösen. Selbstverletzendes Verhalten kann eine schwerwiegende Erkrankung sein und wohlmeinende Hilfsbereitschaft ersetzt keine therapeutische Ausbildung. Gerade bei psychischen Erkrankungen würde ich mir immer Unterstützung von jemandem holen, der mindestens eine Ausbildung als Beratungslehrer hat und auf gar keinen Fall in die "Das bleibt aber unter uns, weil wir so ein supergutes Verhältnis haben"-Falle laufen.

  • Ich kann Moebius nur beipflichten. Der Grat zwischen "Ritzen" und Suizid ist schmal. Ursachen können von "Aufmerksamkeit/Zuwendung bekommen" über sexuellen Missbrauch bis zu tiefer Depression mit Selbstmordabsicht reichen. Nimm Kontakt mit der schulpsychologischen Beratungsstelle auf. In Ba-Wü sind diese Stellen den Schulämtern angegliedert, jedoch nicht weisungsgebunden und zur Verschwiegenheit verpflichtet. Vermutlich gibt es auch in deinem Bundesland ähnliche Einrichtungen. Diese Stellen heißen Beratungsstellen, weil sie in solchen Fragen den Eltern, Kindern, Lehrern oder Schulleitungen beratend zur Verfügung stehen.

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

  • Du hast keine Pflicht, dies zu melden.


    Ich will hier nicht die Miesmacherin geben, aber die Aussage würde ich so nicht stehen lassen.
    Mal den Teufel an die Wand gemalt: Angenommen beim nächsten "Ritzen" schneidet sich das Mädchen die Pulsadern auf und es kommt heraus, dass sich ein Kind in der Klasse einer Lehrerin anvertraut hat, die demnach gewusst hat, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Ich möchte nicht in der Haut der Lehrerin stecken, die dann von den Eltern zur Rechenschaft gezogen wird, weil sie sie nicht informiert hat und dem Kind dadurch nicht rechtzeitig professionell geholfen werden konnte.
    Mit gutem Zureden und Gesprächsangeboten wird man das Problem sicherlich nicht lösen. Da muss eine professionelle Hilfe ran, da gebe ich Moebius vollkommen recht.
    Ich würde mit dem Mädchen reden, ihr selbstverständlich ein offenes Ohr anbieten und nachfragen, ob das stimmt, was mir zu Ohren gekommen ist. Anschließend würde ich ihr verdeutlichen, dass ich ihre Eltern informieren muss, damit ihr adäquat geholfen werden kann.

  • Vielen Dank für eure Hinweise.


    Ich habe heute noch nicht mit der Schülerin gesprochen, sondern sie erst einmal vor dem Unterricht und in der Stunde genau beobachtet. Sie hatte heute zufällig auch ein T-Shirt an, sodass ich unauffällig die Verletzungen ansehen konnte. Zum Glück war es nicht so schlimm wie befürchtet, doch es sind 3 Einritzungen zu sehen, die gerade verheilen. Sie sehen auch relativ gerade aus.


    Ich denke, ich werde mir morgen Hilfe von unserer Beratungslehrerin holen und dann das Gespräch mit der Schülerin suchen. Ich würde mir starke Vorwürfe machen, wenn ich gar nichts unternehmen würde. Allerdings fühle ich mich auch nicht dazu qualifiziert, richtig damit umzugehen. Ich habe Angst, etwas falsch zu machen und eventuell Schlimmeres zu verursachen. Adressen von Beratungsstellen in der Nähe habe ich schon herausgesucht. Ich hoffe, sie nimmt die Hilfe an und wendet sich vertrauensvoll an Fachleute.

  • Ich habe nicht gesagt, dass man nicht selbst zu einer Beratungsstelle gehen kann, das finde ich sogar sehr wichtig!!!! :aufgepasst:


    Das finde ich super gut, dass du Adressen von Beratungsstellen herausgesucht hast. Vielleicht kannst du diese dem Kind in einem Gepräch sogar geben.


    Meine Schwester ist Borderlinerin. Borderliner leben in ihrer eigenen Welt und nach ihren eigenen Gesetzen. Sie erzählen jedem Menschen das, was sie wollen und wenn sie kein Vertrauen zu einem haben, dann wird man nur belogen. Wenn man jedoch vorsichtig das Vertrauen der Person gewinnt, dann kann ein guter Kontakt möglich sein. Sicher ist das aber auch nicht, weil das von einer auf die andere Minute umschwenken kann.


    Der Buchtitel "Ich hasse dich - verlass mich nicht" sagt eigentlich schon alles aus. Du kannst dir keinen Moment im Kontakt zu diesem Kind sicher sein, alles richtig gemacht zu haben.


    Vielleicht schaust du dir auch mal diese Dokumentation auf Youtube an: Probleme mit dem ich


    LG tamina

  • Ich denke, ich werde mir morgen Hilfe von unserer Beratungslehrerin holen und dann das Gespräch mit der Schülerin suchen. Ich würde mir starke Vorwürfe machen, wenn ich gar nichts unternehmen würde. Allerdings fühle ich mich auch nicht dazu qualifiziert, richtig damit umzugehen. Ich habe Angst, etwas falsch zu machen und eventuell Schlimmeres zu verursachen. Adressen von Beratungsstellen in der Nähe habe ich schon herausgesucht. Ich hoffe, sie nimmt die Hilfe an und wendet sich vertrauensvoll an Fachleute.

    Ich denke, damit hast du den richtigen Weg gewählt. Und wenn Sie tatsächlich am nächsten Tag einen Suizidversuch unternimmt, dann bist du sicherlich juristisch auf der sicheren Seite. Allerdings darfst du es nicht zu deinem privaten Problem werden lassen und versuchen, es zu lösen. Dafür habt ihr ja die Beratungslehrer. Ich habe auch eine Schülerin, die sich massiv ritzt. Aber ist im Kinderheim und wird dort von erfahrenen Erziehern betreut und von Psychologen behandelt.

  • Vielleicht schaust du dir auch mal diese Dokumentation auf Youtube an: Probleme mit dem ich

    ´


    Danke für den Tipp. Ich habe die Doku vor einiger Zeit mal gesehen, aber jetzt sehe ich sie noch einmal mit ganz anderen Augen. Es ist einfach schrecklich! Zum Glück sind die Einritzungen bei meiner Schülerin (noch) nicht so tief.


    Ich habe am Montag im Kontext der Behandlung moderner Medien auch das Thema Cybermobbing und deren Folgen thematisiert - dort kam auch das Thema "Ritzen" zu Sprache. Alle Schüler, auch meine betroffene Schülerin, ließen sich sehr gut auf das Thema ein. Meine Schülerin hatte beim Anschauen des Videos von Amanda Todd Tränen in den Augen, hat bei der anschließenden Reflexion aber umso mehr mitdiskutiert. Wir haben vor allem darüber geredet, an welcher Stelle welche Personen wie hätten intervenieren können und welche anderen Möglichkeiten Amanda Todd gehabt hätte, um mit ihren Problemen umzugehen. Ich hoffe, sie konnte daraus einiges mitnehmen. Auch ihre Mitschüler wissen jetzt hoffentlich, wie sie besser damit umgehen können und was sie tun können.


    Jetzt sind erst einmal Ferien und ich hoffe, dass sich ihre Probleme und damit verbundenen Gefühle nicht zu stark anstauen. Mittlerweile weiß ich nämlich, dass der Grund im Elternhaus liegt.

  • Selbstverletzendes Verhalten kann eine schwerwiegende Erkrankung sein

    Oh keineswegs, das Verletzen ist lediglich ein Symptom. Als eigene Krankheit ist es in diesem Sinne nicht anerkannt, zumindest meines letzten Wissenstandes nach.

    Ich kann Moebius nur beipflichten. Der Grat zwischen "Ritzen" und Suizid ist schmal.

    Auch das würde ich so nicht stehen lassen. Die meisten "Ritzer" hegen nicht das Verlangen nach dem Tod, sondern nach einer Erleichterung der Gefühlssituation, wollen sich ihr Leben also leichter machen - und es damit fortführen. Selbstverständlich gibt es jedoch auch andere Fälle, da hilft auf jeden Fall das Gespräch mit dem Mädchen und die Weiterleitung an eine Beratungslehrerin, die auf jeden Fall erfolgen sollte, um weitere Schritte einzuleiten. Einmischen musste ich mich hier jedoch, weil die erste Intention einiger, die Eltern zu kontaktieren, enorm nach hinten losgehen kann. Ich selbst habe dies bei einer Schülerin an unserer Schule erlebt, deren elterlicher Druck sie in diese Situation führte und die Information ihn weiter verschlimmerte - Es wirkte, als hätte sie aufgehört, bis sie an einem Tag auf mich zukam und mir erzählte, dass sie sich an versteckten Stellen schnitt, sich also nichts verändert hatte, außer einem enorm großen Misstrauen in ihrer Familie, für die sie schlichtweg "funktionieren" musste


    Ich hoffe deiner Schülerin geht es inzwischen besser!


    Liebe Grüße und viel Kraft,
    Silence

  • Oh keineswegs, das Verletzen ist lediglich ein Symptom. Als eigene Krankheit ist es in diesem Sinne nicht anerkannt, zumindest meines letzten Wissenstandes nach.


    Selbstverletzende Verhaltenswiesen sind psychische Störungen/Erkrankungen gemäß Klassifikation nach ICD-10
    Guggst du http://de.wikipedia.org/wiki/Selbstverletzendes_Verhalten

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

  • Klassifiziert ist es, jedoch liegt in der Regel eine andere Störung zu Grunde, die das SVV mit sich bringt. Insofern ist SVV meiner Formulierung nach keine "schwerwiegende Erkrankung" selbst, sondern basiert auf Grundlage dieser. So wird es im ICD-10 gemeinsam in einem Kapitel mit Unfällen, Kriegshandlungen und Komplikationen bei Behandlungen gelistet, welche Symptomatiken bzw. Auswirkungen und keine Krankheiten sind.
    Aber das weicht nun doch etwas von der Ursprungsproblematik ab.

  • Und jetzt bitte mal Hand aufs Herz: bist du Lehrer oder einfach jemand, dem etwas an dem Thema liegt?

  • Silence


    Lese ich richtig - du unterrichtest Psychologie?
    Nach deiner Definition ist jemand mit Fieber nicht krank, sondern hat nur ein Symptom.
    Ritzen ist Ausdruck einer seelischen/psychischen Erkrankung.

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

  • Und jetzt bitte mal Hand aufs Herz: bist du Lehrer oder einfach jemand, dem etwas an dem Thema liegt?

    Ich unterrichte einen Seminarkurs zu Sozialkompetenz, der sich auf Wunsch der Schülerschaft nach der Abschaffung von Psychologie als Wahlpflichtfach (Noch vor meiner Zeit) inhaltlich an diesem Unterrichtsfach orientiert. Insofern muss ich nun sagen, dass ich Psychologie direkt nicht studiert habe, mein Wissen sich eher auf Fort- und Weiterbildungen, Seminaren und Fachliteratur beruht - Sowie der Thematik in meiner eigenen Schulzeit.


    alias
    Das Ritzen kann zu einer Sucht werden, ist jedoch im Grunde zuerst Ausdruck bzw. Symptomatik eines anderen Grundproblems. Und die meisten Schüler und Bekannten, die ich mit dieser Symptomatik kenne, waren nicht davon abhängig, sie hatten es als Mittel zur "Selbsthilfe", wie sie es nannten, gefunden. Mein Widerspruch zuvor war zugegebenermaßen engstirnig, da eine Selbsthilfe auch eine Alkoholsucht sein kann. Dennoch widerspreche ich deutlich, wenn man hier ein vorschnelles Urteil oder alles über einen Kamm scheren will - u.a. im letzten besuchten Seminar gab es eine anschauliche Grafik von Befragten, bei der sich herausstellte, dass sich viele Jugendliche ein Mal selbst verletzt hatten, damit jedoch aufhörten, bzw. dies nur Einzelfälle darstellten. So wie auch Alkohol in diesem Alter gerne einmal probiert wird und man vielleicht eine Grenze überschreitet, aber dadurch nicht automatisch abhängig wird.

  • Silence
    Lese ich richtig - du unterrichtest Psychologie?
    Nach deiner Definition ist jemand mit Fieber nicht krank, sondern hat nur ein Symptom.
    Ritzen ist Ausdruck einer seelischen/psychischen Erkrankung.


    Ich habe über medizinische Themen nur meinen Laienverstand - aber ist Fieber nicht das Symptom einer ganzen Reihe von möglichen Erkrankungen? Oder habe ich dich jetzt falsch verstanden?


    Nele

  • Was'ne Wortklauberei... Zurück auf Anfang:
    Ich bin (wohl im Gegensatz zu Silence) der Ansicht, dass jemand der sich ritzt und selbst verletzt nicht gesund ist, sondern unter einer psychischen Störung leidet und fachärztlicher Hilfe bedarf.
    Falls ich durch schlecht konstruierten Satzbau den Eindruck hervorgerufen habe, ich sei der Meinung Fieber wäre eine Krankheit (und nicht Ausdruck einer solchen), dann bereue ich zutiefst, mich missverständlich ausgedrückt zu haben. :autsch:


    Abwartend, welcher Lehrkörper nun die Kommafehler in meinen verschwurbelten Sätzen kommentiert...

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

  • Ich bin (wohl im Gegensatz zu Silence) der Ansicht, dass jemand der sich ritzt und selbst verletzt nicht gesund ist, sondern unter einer psychischen Störung leidet und fachärztlicher Hilfe bedarf.

    Und damit wärst du im Großen und Ganzen meiner Meinung. Selbstverständlich ist Ritzen, sofern es mehr als das einmalige Testen oder das In-Mode-Kommen in einer Klasse ist (Von den 10, die dies dann anfangen, fahren aber nur die beiden fort, die ohnehin schon Probleme hatten), ein Indikator für eine tieferliegende Störung. Aber ich spreche mich für die Seite aus, die sagt, dass das Verletzen selbst keine Krankheit, sondern eine Symptomatik ist, sich im Anschluss dessen jedoch zur eigenen Sucht entwickeln kann.

Werbung