"John Hattie ist ein verkappter Reformpädagoge"

  • Das ist ein Zitat von Prof. Dr. Klaus Zierer, der die Studie Hatties ins Deutsche und als Buch übersetzt hat: Lernen sichtbar machen [Anzeige]


    In seinem Vortrag, der am 14.11. bei Youtube hochgeladen wurde, erklärt Zierer die Methode der Studie und betrachtet viele Aspekte aus den Ergebnissen derselben.


    Hier sind ein paar Aussagen Zierers, die mich haben aufhorchen lassen:


    - Laut Hattie kommt es eben NICHT auf DEN Lehrer an, wie in deutschen Medien behauptet wird.
    - Die Schule in China ist hocheffektiv, aber da wollen Sie nicht Schüler sein. Schule muss mehr sein als Effektivität.
    - Die Lehrperson muss die Fähigkeit haben, aus dem Weg zu gehen.
    - John Hattie ist ein verkappter Reformpädagoge.
    - Ich sehe es mit einem weinenden Auge, dass Hauptschulen abgeschafft werden.
    - Kooperatives Lernen ist allen anderen Formen überlegen.
    - ...


    Hier ist der vollständige Vortrag anzusehen: http://www.youtube.com/watch?v=dnftZiBjPDs


    Letztendlich erscheint es mir immer wieder, dass die Studie Hatties derart komplex ist, weshalb man dazu neigt, genau das daraus heraus zu lesen, was einem für das eigene pädagogische Weltbild am passendsten ist.


    Nachtrag:
    Gestern Abend gab es in der Konrad-Adenauer-Stiftung einen ausführlichen Themenabend mit Hattie, Zierer u.a., der hoffentlich noch bei youtube oder anderswo hochgeladen wird - für diejenigen, die nicht dabei waren: http://www.kas.de/wf/de/17.57116/

    Einmal editiert, zuletzt von MarekBr () aus folgendem Grund: Nachtrag zum Themabend

  • Danke für den Link! Ich fand den Beitrag sehr interessant. Und irgendwie finde ich mich da bestätigt: Ganztagsschule oder Gemeinschaftsschule als "Rezept" für mehr Bildungsgerechtigkeit ? Das fand ich schon immer total daneben! Der Mann spricht mir aus der Seele!

    "Du musst nur die Laufrichtung ändern..." sagte die Katze zur Maus, und fraß sie.

  • Danke für den Link, sehr interessant.


    Ich stimme Zierer in nahezu allen Aussagen zu - Hattie ist tatsächlich geeignet, konservative und (!) progressive Unterrichtsvorstellungen zu unterstützen. Die Daten laufen also quer zu den bestehenden Lagern.


    Allerdings ist schon auffällig, wie sehr hier ein Buddie Hilbert Meyers versucht, Hattie für das "reformpädagogische" Lager zu vereinnahmen. "Auffällig" heißt dabei nicht "überraschend", denn das war ja zu erwarten.


    Daher nur drei Anmerkungen:


    (1.) Die wichtigste Annahme Hatties spielt für Zierer gar keine Rolle (und wird imho gar nicht erwähnt). Nämlich, dass es in der Schule darum geht, etwas ZU LERNEN, und zwar etwas, das idealerweise nachprüfbar ist. Dieser Aspekt ist entweder zu trivial oder es gibt Gründe, warum Zierer ihn eher nicht betont.


    (2.) erzeugt Zierer natürlich einen falschen Eindruck, wenn er so tut, als müsse man die (deutsche!) Pädagogik vor zu viel empirischer Orientierung schützen und deshalb sehr ausführlich erklären, welche Felder Hattie NICHT beachtet. Es kann in Deutschland nicht darum gehen, eine Art "Waffengleichheit" zwischen Empirie und Grundsatzdiskussion herzustellen. Die deutsche (Universitäts-)Pädagogik konstituiert sich seit Jahrzehnten gerade bei Autoren wie Meyer also ideologisch hoch besetzte, spekulative und empiriefeindliche Gesinnungswissenschaft. Hattie etc. stellen hier nur eine kleine Irritation dar, nicht eine echte Bedrohung für das eigene Schwelgen in Wunschträumen und Utopie.


    (3.) fehlt bei Zierer natürlich völlig eine Erziehungswissenschaft-Wirkungs-Reflexion. Das heißt: Es fehlt (wie immer) eine Reflexion der Frage, was man mit den eigenen Worten anrichtet. Wenn Zierer etwa erklärt, bei Hattie gehe es nicht um den Lehrer als "leader", sondern als "guide", dann ist das sicher eine Interpretation, die möglich ist. Trotzdem ist offen, ob Hatties Botschaft hier in einer Weise übermittelt wird, die in der Schulrealität eine Wirkung erzeugt, die Hattie wünschen würde. Denn natürlich erzeugt ein Schlagwort wie "guide" bestimmte Vorstellungen, die im Alltag wieder zahlreiche Lehrer veranlassen könnten, die Schüler vor sich hin wursteln zu lassen. Das wäre definitiv nicht im Sinne Hatties (aber Zierers?). Die fatalen Auswirkungen von pädagogischen Ideen auf dem Weg vom Vortrag in die Praxis kennt man mittlerweile ja nun. Solche "Fehlinterpretationen" pädagogischer Theorien sind aber vielleicht schon in den Theorien selbst angelegt, weil Pädagogen (bewusst) eine suggestive Rhetorik benutzen, die Effekte hat, die die Pädagogen auf Nachfrage als "ungewollt" zurückweisen können. Man spielt dann eben auf beiden Seiten des Spielfeldes, ist immer dabei, aber nie verantworlich.

  • Danke für den Link!


    Mir hat der Vortrag super gefallen - fast besser wie die von Hattie selbst. Zierer gelingt es prima, die wesentlichen Aussagen von Hattie herauszuarbeiten. An diesem Vortrag kann man prima erkennen, wie wichtig es ist, hinter die Zahlen zu blicken. Das kann Zierer prima!


    Meinem Vorredner, der so manches wohl nicht ganz richtig verstanden hat (Fast-Food-Hattie par excellence!), muss ich auch widersprechen:


    1. Zierer hat bei der Meta-Analyse und bei der Effektstärke darauf hingewiesen, dass es um Lerneffekte geht. Zierer spricht also nur übers Lernen, wenn er die Faktoren erklärt, und grenzt das am Ende mit dem Quadrantenmodell (Wilber kannte ich nicht) wunderbar ein. Seine sinnvolle Botschaft: In der Schule geht es NICHT NUR UMS LERNEN! Recht hat er!


    2. Ich muss ihm auch recht geben, dass eine Empirisierung gefährlich ist - schaut doch mal die Datenfriedhöfe an, die wir Jahr für Jahr produzieren. Das alleine bringt uns nicht weiter. Schön daher auch der Hinweis auf die "Optimierungsfalle" von Nida-Rümelin.



    3. So wie Zierer den "guide" erklärt, geht er für mich in Richtung "activator" von Hattie - das sind immer Begriffe, die man interpretieren muss! Aber hier zu folgern, dass ein "guide" seine Schüler vor sich hinwursteln lässt, ist doch völliger Blödsinn. Jeder, der schon einmal eine Bergtour gemacht hat, weiß, dass der "guide" Verantwortung übernimmt, den Weg und das Ziel bestens kennt und mit den Leuten im Austausch steht. Gewurstelt wird hier definitiv nicht


    Und dass Hatties Blick in erster Linie vom Schüler ausgeht - Visible Learning! - ist der Kerngedanke der Reformpädagogik! Das ist prima hergeleitet und ein Segen für die Grabenkämpfe zwischen Offen vs. Geschlossen. Beides ist prinzipiell nicht entscheidend. Es geht um die Evidenz und die Haltung!

  • Zitat

    Meinem Vorredner, der so manches wohl nicht ganz richtig verstanden hat (Fast-Food-Hattie par excellence!),


    Lol. Erster Forenbeitrag und gleich ein Volltreffer.


    Zitat

    1. Zierer hat bei der Meta-Analyse und bei der Effektstärke darauf hingewiesen, dass es um Lerneffekte geht. Zierer spricht also nur übers Lernen, wenn er die Faktoren erklärt, und grenzt das am Ende mit dem Quadrantenmodell (Wilber kannte ich nicht) wunderbar ein. Seine sinnvolle Botschaft: In der Schule geht es NICHT NUR UMS LERNEN! Recht hat er!


    Zierer spricht über alles Mögliche, aber über die Vorstellung von Schule, um die es Hattie im Kern geht, spricht er nicht. Dass der Begriff "Lerneffekt" fällt, ändert daran nichts. Hast Du selbst die Hattie-Studie gelesen? Ich vermute nicht.


    Es ist im Übrigen auch weder ein Zufall, dass am Ende ein Quadrantenmodell steht (hier lässt sich die Lernkomponente auch graphisch schön klein halten) noch ein Zufall, dass in diesem Modell der Begriff des Lernens nicht auftaucht.


    Zitat

    2. Ich muss ihm auch recht geben, dass eine Empirisierung gefährlich ist - schaut doch mal die Datenfriedhöfe an, die wir Jahr für Jahr produzieren. Das alleine bringt uns nicht weiter. Schön daher auch der Hinweis auf die "Optimierungsfalle" von Nida-Rümelin.3. So wie Zierer den "guide" erklärt, geht er für mich in Richtung "activator" von Hattie - das sind immer Begriffe, die man interpretieren muss! Aber hier zu folgern, dass ein "guide" seine Schüler vor sich hinwursteln lässt, ist doch völliger Blödsinn. Jeder, der schon einmal eine Bergtour gemacht hat, weiß, dass der "guide" Verantwortung übernimmt, den Weg und das Ziel bestens kennt und mit den Leuten im Austausch steht. Gewurstelt wird hier definitiv nicht.


    Ein paar persönliche Einschätzungen und ein Verweis auf das eigene Hobby ersetzen leider auch keine Argumentation. Soll ich nun auf die deutschen Bibliotheken verweisen, in denen hunderte Regalmeter mit pädagogischen und didaktischen Schriften gefüllt sind, die mit empirischer Forschung nichts zu tun haben?


    Mein Punkt mit der Wirkungs-Reflexion wurde im Übrigen wohl nicht verstanden. Auch gut. Aber nur zur Klarstellung: Ich kritisiere nicht, dass Zierer bestimmte pädagogische Präferenzen hat. Ich kritisiere, dass er sie Hattie m. E. unterschiebt, und zwar interessanterweise ohne im Vortrag einen Satz zu sagen, der an sich unzutreffend wäre. (Wie das geht? Das ist eben das Geheimnis...)

  • Vielleicht bringt dieses Video etwas Licht in eure Auseinandersetzung.


    http://www.youtube.com/watch?v=pg5lIXCXSmY


    Glücklicherweise scheint Hattie weniger dogmatisch zu sein, wie es in deutschen Medien und Foren immer wieder auf grauenhafte Weise durchscheint.


    @unter_und: Zierer und Hattie wirkten beim Themenabend nicht unbedingt so, als wenn sie gegensätzlicher Meinung wären, wie ich es aber in deinen Postings herauslese. Ich habe leider nicht den ganzen Themenabend gesehen, aber bei den Teilen, die ich sehen konnte, gab es keine gegensätzlichen Meinungen. Würdest du bitte auch präzisieren, was du unter "vor sich hin wursteln" verstehst?

    Einmal editiert, zuletzt von MarekBr ()

  • Ich wiederhole mich gerne nochmals - habe sowohl VL in Englisch als auch in Deutsch nicht nur gelesen, sondern auch verstanden :)


    Hattie geht es im Wesentlichen um Evidenz und um die entsprechende Haltung dazu - er nennt sie Mindframes. Das macht für ihn den Kern von VL aus und Zierer arbeitet das prima heraus.


    Dank auch an MarekBr für den Link und den Hinweis auf KAS: Dort argumentieren ja beide wunderbar in die gleiche Richtung.


    Ein Hinweis zu Wilber - ich habe mich hier mal eingelesen: Das ist ja keine Unterrichtstheorie. Zierer bezeichnet es zurecht als Erkenntnistheorie. Was also hätte hier der Begriff "Lernen" verloren? Zierer überträgt dann dieses Modell auf die Pädagogik und spricht in jedem Quadranten von Lernen - wie man darauf kommt, dass er diesen Begriff hier klein hält, ist mir ein Rätsel. Übrigens sehr schön und übereinstimmend bei Hattie: Sein Verweis auf Poppers Drei-Welten-Theorie, auf die auch Wilber Bezug nimmt.


    Und für unter_uns noch als Anregung: Schon mal darüber nachgedacht, dass nichts unzutreffendes deshalb auftritt, weil hier nichts untergeschoben wird, sondern eine einheitliche Meinung besteht? Das ist für mich hier der Fall. Und noch zum Hinweis auf die Bibliotheken: Das stimmt schon, das dort viel Zeug steht, fern jeglicher Empirie. Aber schau dir mal die aktuellen Fachzeitschriften an: Hier dominiert Empirie. Ich finde, dass das Wilber Modell schön aufzeigen lässt, dass es um ein sowohl als auch gehen muss: Theorie und Empirie - nicht Empirie oder Theorie.


    Macht Spaß mit euch zu diskutieren!

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