Hallo,
in meiner 1. Klasse ist ein Kind, das besonders große Schwierigkeiten beim Lernen von neuen Inhalten hat. Bei der Einschulung konnte es nicht zählen, hatte noch keinen Zahlbegriff, konnte Ziffern nicht benennen, Laute, Anlaute nicht heraushören, nicht reimen.... Ich habe mich bemüht, auf das Kind individuell einzugehen, ihm extra Material geboten zum Üben etc. Es ist ein Kind, das einfach viel, viel langsamer versteht und lernt als der Rest der Klasse. In verschiedenen Elterngesprächen, die ich mit der Mutter geführt habe, habe ich den Lernstand und meine Vorgehensweise erläutert (abholen wo das Kind steht). Da der Rest der Klasse deutlich schneller lernt, arbeitet das "besagte" Kind auf einem ganz anderen Level, bekommt andere Hausaufgaben etc. Ganz langsam macht es Lernfortschritte, rechnet bis 10, lernt alle Buchstaben kennen, liest erste Silben.
Nun musste ich mir von den Eltern (dieses Mal mit Vater) vorwerfen lassen, ich hätte dieses Kind leider abgehängt vom Rest der Klasse und ihm deshalb die Chance verbaut, mit den anderen mitzuhalten. Sie wünschen von nun an, dass das Kind die gleichen Aufgaben erhält wie der Rest (in Mathe wird mit Buch gearbeitet) und bestehen darauf, die Schuleingangsphase in zwei Jahren durchzuziehen. Zu Hause könnte das Kind das alles problemlos. In der Schule sei das arme Kind einfach nur gehemmt. (???) In den Osterferien wollen sie alles nacharbeiten.
Was mache ich jetzt? In der Schule kann dieses Kind definitiv nicht anspruchsvollere Aufgaben allein erledigen - mir scheint das auch nicht an Gehemmtheit zu liegen. Gebe ich diesem Kind nun die gleichen Aufgaben wie den meisten übrigen Kindern, weil die Eltern das wünschen?
Mache ich mich "schuldig", wenn ich dieses Kind dort abhole, wo es (in der Schule) steht?
Alema
Frage zur individuellen Förderung...
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Schwierige Frage. Leidtragender wird das Kind sein.
Ich habe derzeit einen ähnlichen Fall. Bisher galt der Nachteilsausgleich, dieser wurde in diesem Halbjahr bewusst (von den Eltern) nicht beantragt, um "das Kind auf die weiterführende Schule vorzubereiten". Folge: Keine Ahnung wovon geredet wird, schriftliche Arbeiten 5 und 6. (Klasse 4)Ich würde an deiner Stelle weitere Personen hinzuziehen (weiß aber nicht, welche Möglichkeiten ihr da habt).
Was sagt deine Schulleitung dazu? Gibt es Förderpläne? Gibt es Gesprächsprotokolle von den Gesprächen mit der Mutter, damit du nachweisen kannst, sie über die Leistungsmöglichkeiten informiert zu haben? Gibt es Testverfahren (HSP, Lesetests o.ä.?)Meiner Erfahrung nach ist es in solchen Fällen auch wichtig, sich selbst und sein pädagogisches Handeln abzusichern, um eben gegen solche Vorwürfe handfestes Material vorweisen zu können, damit kannst du nachweisen dich gerade NICHT schuldig zu machen!
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Auf jeden Fall würde ich da auch andere Leute hinzuziehen, Schulleiter, Kollegen, Schulsozialarbeiter etc.
Ab sofort jedes Elterngespräch protokollieren, wenn bisher nicht geschehen.
(Ich hab das auch anfangs nicht gemacht, aber mittlerweile führe ich bei den Kindern, bei denen es Probleme gibt, immer ein Protokoll bei den Elterngesprächen. Sollte man wohl immer machen, aber ganz ehrlich, da fehlt mir dann die Zeit zu. Deshalb beschränke ich mich auf die speziellen Kinder und Eltern)
Wie können Eltern nur so uneinsichtig sein, es ist doch nicht zu fassen!!!!
Das arme Kind!!!
Du hast dir gar nichts vorzuwerfen.Letztendlich werden die Eltern vielleicht dann einsichtig, wenns im 2. Schuljahr Noten gibt.
Wenn das Kind später nunmal nicht in Kl. 3 versetzt wird, dann muss es eben dann die Klasse 2 wiederholen, ob die Eltern wollen oder nicht.
Vielleicht kann man das schonmal andeuten. -
Hallo,
soll ich denn dieses Kind von nun an nicht mehr individuell fördern, weil die Eltern das so wünschen? Oder soll ich dem Kind weiterhin andere Materialien, auf den Lernstand angepasst, geben?
Meine Kolleginnen wissen auch nicht recht, was tun.
In jedem Fall werde ich mir persöndlich noch einmal Rat bei der Schulpsychologin holen und sie zu einer anonymen Unterrichtsbeobachtung bitten.
Gesprächsptotokolle, Lernzielkontrollen, HSP, Förderpläne habe ich alles dokumentiert. Allerdings sind die Arbeitsergebnisse ja alle in der Schule entstanden, wo das Kind ja angeblich so gehemmt ist und nicht alles zeigt, was es kann...
Alema -
Das mit dem Lernpsychologen ist eine gute Idee. Aber letztendlich bist du die kompetente Lehrkraft, das solltest du den Eltern auch deutlich sagen und ihnen die Defizite ihres Kindes aufzeigen.
Wenn sie das dann nacharbeiten wollen und dich unterstützen wollen, sollen sie. Vielleicht überraschen sie dich ja. Ansonsten steht bei mir immer das Kind im Fokus. Die Eltern haben sich da
unterzuordnen. -
Schwierige Situation.
Ist es denn so, dass die gesamte andere Schülerzahl immer das Gleiche macht? Mein letztes 1. Schuljahr war sehr differenziert. 3 Schüler hatten nach 1/2 Jahr ein Mathelehrwerk für das 2. Schuljahr, 1 Schüler eins das noch mal bis 10 ging, 1 Schüler das bis 13. 3 Schüler konnten schon mit Antolin arbeiten... Dadurch ergibt sich diese Situation erst gar nicht.
Haben die Eltern die Defizite zu Beginn denn anerkannt? Sie können ja nicht erwarten, dass nach einem halben Jahr plötzlich alles aufgeholt wurde. Deshalb gibt es schließlich die 3 Jahre Eingangsphase. Auch die Sprachstandserhebung mit 5 Jahren müsste doch bereits einen Förderbedarf hervorbringen, oder?
Den Spruch: "Aber Zuhause kann er/sie es." kennt wohl jeder. Vielleicht kannst du sie zu einer Hospitation an 2 Schultagen einladen, damit sie ihr Kind live erleben. Wir können nun einmal nur bewerten, was wir sehen.
Ansonsten würde ich mich auf jeden Fall absichern und mit den Eltern einen Vertrag abschließen. In etwas: "Auf Wunsch der Eltern arbeitet das Kind nicht mehr an dem durch diverse lernstandsdiagnosen, und von der lehrerin empfohlenen, ermittelten, lernstandsorientierten lehrwerk, sondern erhält ab sofort das Standardlehrwerk."
Höchstwahrscheinlich muss es dann nach der 2.1. zurück in die 1.1. (was ja derzeit auch nicht unwahrscheinlich ist). -
Boah, nervige Eltern...
Dem Kind Aufgaben zu geben, die es schlicht und einfach nicht erledigen kann, ist schwachsinn. Reaktionen des Kindes je nach Typ: Abschreiben, stören, Bauchschmerzen, Verweigerung, etc... aber nicht lernen.
Wenn das Kind nicht zählen oder gar keine Zahlen kennt, bzw. den eigenen Namen nicht schreiben kann, ist das das Versagen der Eltern. Die wollen dir jetzt den schwarzen Peter zuschieben, weil du das jetzt mühsam aufholen musst. Das kostet natürlich Zeit. Die Eltern scheinen ziemlich auf Konfrontation zu schalten - ein sicheres Zeichen, dass sie etwas verbergen möchten oder schon geahnt haben, ihr Kind würde in der Schule Schwierigkeiten bekommen. Auf keinen Fall würde ich hier den Wünschen der Eltern nachgeben, dem Kind die gleichen Aufgaben zu geben. Du bist die Lehrerin. Die kommen sonst nachher wegen jeder Kleinigkeit und wollen eine Extrawurst.
Maßnahmen:
Den Eltern noch einmal den Sinn der 3-jährigen Schuleingangsphase erläutern (Wegfall des Schulkindergartens - Einführung SchulEP; zählt nicht als Sitzenbleiben - keine Anrechnung auf Schulzeit; mehrere Kinder brauchen das; ...)Vielleicht mal einen Kollegen aus der umliegenden Förderschule Lernen bitten, ganz unverbindlich vorbeizuschauen (zu uns kommt regelmäßig eine Kollegin) und das Kind mal zu beobachten. Auf jeden Fall eine weitere Person beim Gespräch hinzuziehen.
Eltern im Unterricht hospitieren lassen, damit sie sehen können, dass ihr Kind mit dem "normalen" Pensum überfordert ist
Den lieben Eltern klarmachen, dass du auch nur das Beste für das Kind möchtest. Es geht nicht darum, einem Kind Chancen zu verbauen. Außerdem muss die Lernfreude erhalten bleiben. Das geht nur bei Aufgaben, die das Kind schaffen kann.
Den Eltern vielleicht auch mal die Lehrpläne zeigen, damit sie wissen was das Kind am Ende der SEP können soll. Außerdem nochmal signalisieren, dass es keinen Sinn macht dem Kind schon Plusaufgaben zu geben, wenn die Mengenerfassung unsicher ist.
...
Ich wünsche dir ganz viel Kraft, damit du selbstbewusst den Eltern ihre Grenzen zeigen kannst.
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Was Cambria geschrieben hat, kann ich nur unterstreichen. In diesem Fall auf den Wunsch der Eltern einzugehen, ist es für das Kind, so wie du es beschreibst, nicht hilfreich. Ich glaube, dass dazu auch ein breites Kreuz gehört, um uneinsichtigen Eltern unmissverständlich klar zu machen, dass man selbst ausgebildeter Lehrer ist und nicht sie. Ich verweise hier auch gerne auf die Rahmenpläne und die Grundschulordnung, wo von uns ja individuelle Förderung jedes Einzelnen eingefordert wird.
Bei solchen Eltern frage ich mich auch immer wieder: Welches Motiv steckt hinter diesem Verhalten? Vieles lässt sich auf eines zurückführen: Angst
Angst, dass das Kind später keinen Arbeitsplatz bekommt, Angst vor dem Eingeständnis, dass man selbst versagt hat als Eltern, das Kind vernachlässigt hat und jetzt setzt man ALLES daran, dass es eben wieder "gut" wird etc. Ich versuche in solchen Fällen also immer a) einfühlsam auf die Angst einzugehen, Zuversicht zu vermitteln und b) souverän zu signalisieren, dass ich schon weiß, was ich tue und mich dabei mit anderen kompetent vernetze.
P.S.
Früher hießen sie Lehrer, heute sind sie Psychologe, Erzieher, Mutti, Vati, Erziehungsberater, Lebenshilfe und Lehrer alles in einer Person.
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