Grass-Gedicht didaktisieren

    • Offizieller Beitrag

    Hallo,


    als Geschichtslehrer ist das aktuelle Grass-Gedicht natürlich für mich von Interesse.
    In die eigentliche Diskussion über Grass' Persönlichkeit will ich hier gar nicht einsteigen.


    Was mich interessieren würde, ist, ob und wie Ihr das Gedicht im Unterricht einsetzen würdet.


    Ich kann mir generell zwei Möglichkeiten vorstellen.


    a) Das Gedicht an sich: Umgang mit dem Holocaust in der bundesdeutschen Gesellschaft in Bezug auf Antisemitismus, Judenhass, Israelkritik, Aufarbeitung deutscher Geschichte.


    b) Die Resonanz auf das Gedicht: Umgang mit "Tabubrechern" in Hinblick auf die Frage nach präskriptiver Meinungsbildung.


    Am Rande wäre natürlich noch die Überlegung, ob es in der Funktion als deutscher (Landes)Beamter statthaft wäre, Grass reflektiert im halböffentlichen Raum Schule zuzustimmen, sofern man danach gefragt würde.


    Danke für eventuelle Tipps und Ideen.


    Gruß
    Bolzbold

  • Für mich als Deutschlehrerin ist es ein wunderbares Beispiel dafür, dass," was der Autor sagen wollte" und was er gesagt hat, mitnichten dasselbe sind.
    Und noch etwas finde ich sehr spannend: wie sich die Inszenierung der Debatte bis in den Wortlaut hinein wiederholt.
    Nachzulesen zum Beispiel hier (und auch in den darunter aufgeführten Debattenbeiträgen von Jens Jessen z.B.)


    http://www.zeit.de/online/2006/33/Grass-Kommentar


    So war das Interview 2006 mit dem "Geständnis" der Mitgliedschaft in der Waffen-SS zum Beispiel überschrieben mit "Warum ich mein Schweigen breche" und nach den teils heftigen Reaktionen sah sich Grass zur "Unperson" erklärt.
    Ich überlege noch, wie ich das in der Oberstufe zum Thema mache.
    Zustimmen, auch nicht differenziert, mag ich Grass allerdings nicht. Im Gegenteil Ich finde ihn unfassbar eitel und larmoyant - und das offenbar umgekehrt proportional zur behaupteten Sachkenntnis. Aber das ist ja das Schöne, das Lyrik so wunderbar mehrdeutig sein darf. Aber wenn sie nicht beliebig sein will, dann sollte sich Grass schon beim Wort nehmen lassen. Und die Worte sind ungenau gewählt, wie er heute in der Süddeutschen selbst einräumt.
    (SCNR, ich will in die Debatte aber auch nicht einsteigen (jedenfalls nicht hier), wenngleich ich finde, dass sie von der Person überhaupt nicht trennbar ist.)


    Formal hätte ich mit der Zustimmung zum Gedicht kein Problem, auch wenn sich mir die Beamtenproblematik nicht stellt, inhaltlich schon.

    • Offizieller Beitrag

    Also, ich würde nicht a) oder b) machen, beides gehört dazu.
    Ich weiß nicht, ob ich für dich zu deutschlehrerhaft denke, aber ich würd's wohl so machen (höhere Klassen/Oberstufe):


    In der Doppelstunde vorher: sich einen ungefähren Überblick über den Israelkonflikt verschaffen
    Das Gedicht lesen lassen (ach :) ) oder noch besser: erstmal von Günter Grass selber vorlesen und dann genauer lesen lassen http://www.ardmediathek.de/ard…17136?documentId=10040866 - die Bezüge und Begriffe, die unklar sind klären, Verständnisfragen - worauf bezieht sich jeweils jeder Abschnitt.
    Die Diskussion kann mit verschiedenen Artikeln in Gang gebracht werden - u.a.
    http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,825782,00.html
    http://www.spiegel.de/politik/…and/0,1518,825876,00.html
    http://www.spiegel.de/kultur/g…aft/0,1518,825718,00.html
    http://www.spiegel.de/politik/…and/0,1518,825770,00.html
    http://www.spiegel.de/thema/konflikt_israel_iran/
    In Deutsch würde ich das ggf. eher halb kreativ machen lassen (gruppenweise zu Reden umschreiben, Subtexte mit Kommentaren hinzufügen, etc...), aber das steht in Geschichte wohl eher nicht auf dem Plan.


    Ob ich meine Meinung zu politischen Fragen im Unterricht abgebe, hängt immer davon ab, ob ich das Gefühl hab, einer will es wissen. Meist fragen mich die Schüler. Ich mache es aber meistens so, dass ich meinen Senf NACH abgeschlossener Meinungsbildung im Kurs sozusagen als "Zusatz" formuliere. Meine Schüler wissen, dass ihre Meinung nicht zu ihrer Leistung(snote) zählt, sondern die Art/Kompetenz wie sie mit Texten umgehen oder Meinung sprachlich darstellen, trotzdem möchte ich nicht, dass zu Anfang einer Diskussion sich Menschen, die vielleicht noch gar keine Meinung zu einem Thema haben, sich an meiner orientieren - sie sollen sich aus Fakten und kontroversen Meinungen anderer, zu denen sie keine persönliche Beziehung haben, selber eine bilden.


    Warum machst du dir Sorgen in Bezug auf deinen Beamtenstatus? Du darfst/sollst/kannst auch iene politische Meinung haben. Das Wichtige ist nur, dass die Schüler die ihre immer erst selbst entwickeln können und diese dann auch respektiert wird.

    • Offizieller Beitrag

    Ich bin der Diskussion darüber bei Twitter/Googleplus noch auf den Begriff "Sekundärer Antisemitismus" gestoßen, den ich recht griffig finde. Bei bpb findet man eine Erklärung. Wenn du unter dem Begriff und dem Namen Martin Lindner suchst, findest du eine Darstellung bei Googleplus.


    Nach der Lektüre wirst du wenig Lust haben , GG zuzustimmen, denn das kann man imho nicht. Man kann dem Satz zustimmen, dass die Politik Israels im Nahen Osten aggressiv und derzeit wenig hilfreich ist (Oder ähnlich). Das ist aber etwas anderes als das, was GG sagt.


    Dann müsste man auch Sarrazin zustimmen, denn letztlich ist es derselbe Argumentatinsstrang.

    • Offizieller Beitrag

    Vielen Dank für die Anregungen.


    meike


    Um meinen Status an sich mache ich mir keine Sorgen.
    Letztlich wird wie so oft sowieso kein Hahn danach krähen. (Das kann man bei der Reaktion Düsseldorfs auf eine Anzeige zweier Kollegen vom Niederrhein ja eher nicht behaupten...)


    Gruß
    Bolzbold

  • Ich halte diese Fragen für wichtig:

    • In welchem historischen Kontext ist diese Gedicht entstanden?
    • Auf welchen Sachverhalt nimmt es Bezug?
    • Welche Reaktionen löste es aus?


    Zitat

    a) Das Gedicht an sich: Umgang mit dem Holocaust in der bundesdeutschen Gesellschaft in Bezug auf Antisemitismus, Judenhass, Israelkritik, Aufarbeitung deutscher Geschichte.


    Das Gedicht an sich hat inhaltlich damit m.E. nichts zu tun, die Reaktionen die es auslöste schon.

    Planung ersetzt Zufall durch Irrtum. :P

    8) Politische Korrektheit ist das scheindemokratische Deckmäntelchen um Selbstzensur und vorauseilenden Gehorsam. :whistling:

    Moralische Entrüstung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen.

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