Binnendifferenzierung in Klasse 5 - ein Erfolgsbericht; na ja, nicht ganz

  • Große neue Klasse fünf in zu kleinem Raum - alles sehr nett, ein Problemschüler dabei, der mir schon angekündigt wurde. Von der Klassenlehrerin, die ihn schon kennenlernen durfte. Ansonsten: Null Info.


    Ist aber auch nicht nötig, denn das Kind benimmt sich eine ganze Doppelstunde lang ruhig - topp, könnte man sagen. Aber was tut es?


    Zuerst braucht es doppelt solange wie alle anderen, um die Seiten seines Deutschhefts zu nummerieren. Dann geht es darum, ein Inhaltsverzeichnis im Heft anzulegen. Ich mache es an der Tafel vor, alle machen es nach. Das Kind nicht. Ich fordere es in den nächsten zehn Minuten mehrmals leise und freundlich dazu auf, jetzt doch anzufangen, sage es aber nicht vor der ganzen Klasse, sondern (echt pädagogisch) immer im Vorbeigehen - sozusagen "1 zu 1". Endlich: Das Inhaltsverzeichnis entsteht.


    Die anderen schreiben inzwischen den ersten Text von der Tafel ab. Das Kind ist mit dem Inhaltsverzeichnis fertig. Es sitzt auf seinem Platz und liest im Deutschbuch. Ich gebe ihm Zeit, bearbeite es dann ein wenig. Es fängt an zu schreiben.


    Die restliche Klasse und ich sind schon beim dritten Arbeitsschritt: Einen Text einkleben. Ich erkläre die Aufgabe, die dazugehört. Dabei bemerke ich, dass das Kind aufgehört hat, den Tafelanschrieb abzuschreiben. Bzw.: Es ist fertig. Nur hat es die Hälfte des Textes einfach ausgelassen. Top!, denke ich. Das Kind binnendifferenziert sich selbst. Das ist selbstorganisiertes Lernen! Im Moment ist es damit beschäftigt, das Inhaltsverzeichnis zu verbessern, das ich ihm mühsam abgerungen habe. Okay, kein Problem, ist wohl sehr perfektionistisch und langsam, das kriegen wir schon hin. Ich befasse mich mit den dreißig anderen.


    Noch ganz angetan von meiner eigenen pädagogischen Geduld und der Selbständigkeit des Kindes gehe ich mal wieder bei ihm vorbei. Das Kind hat das gesamte Inhaltsverzeichnis wieder ausradiert und gelöscht. Den einzuklebenden Text hat es jetzt eingeklebt, aber an die Stelle, an die das Inhaltsverzeichnis gehört. Blöd nur, dass es den Text nun zu Ende schreiben soll. Es muss jetzt um den unvollständigen Tafelabschrieb herumschreiben. Was andererseits aber auch kein Problem ist, denn es sieht nicht so aus, als wollte es anfangen.


    Ich nehme das Heft an mich und mache eine Notiz für die Mutter. Das Kind sitzt zehn Minuten unter dem Tisch und starrt in seinen Schulranzen. Die Klasse ist begeistert. So also funktioniert Binnendifferenzierung! Das ist ein echtes Methodentraining für die dreißig Kleinen. In der letzten Bank stehen Kinder schon auf, um zu beobachten, was vorne abgeht.


    Danach macht das Kind nichts mehr bis zur Pause. Es sitzt auf seinem Stuhl und guckt herum. Nur als die Banknachbarin noch etwas zu mir sagt, will es mitreden. Sprechen geht. Aber nicht, wenn es angesprochen wird.


    Ich gehe aus der Klasse und frage mich:
    - Wie ist es möglich, dass das Kind bei uns angemeldet wird, wir aber keinerlei Informationen von Grundschule, Schulleitung oder ähnlichen Institutionen haben, die seinen Zustand betreffen? Die Eltern haben wohl auf Nachfrage der KL erklärt, das Kind sei in Therapie, das ist alles, was ich weiß. Ich wüsste aber gerne, was ich mit dem Kind tun soll.
    - Wie ist es möglich, dass das Kind am Gymnasium angemeldet ist, und damit an einer Schulform, die ihm sicher kaum gerecht wird? Nämlich in einer Schule mit großen Klassen und leistungsbezogenem Lehrgang, in der es nicht vorgesehen ist, dass Kinder ein eigenes Tempo (oder überhaupt kein Tempo) haben?
    - Wie hat es an der Grundschule seine guten Noten bekommen?
    - Welche Zukunft hat dieses Kind und wie kann es sein, dass es schon vier Jahre im System ist und doch offenbar keinen Ort hat, der ihm halbwegs gerecht werden würde? Wie viele Jahre trägt das Prinzip Hoffnung?

  • Gleiches Recht für alle Kinder (zur Schulform). Wie du schon schreibst, hat es sich zumindest seine Differenzierung selbst gesucht - keine zusätzliche Arbeit für dich. Und deinen anderen 30 Schülern wurde auch nicht langweilig (wobei es ja scheint, als hätte dein Schüler sich immerhin einigermaßen ruhig und in seiner Tischnnähe aufgehalten - man soll ja auch kleine Sachen loben).
    Ich erlebe ähnliches täglich unter den Stichwörtern "Inklusion" und "Individualisierung". Bei uns ist das also anscheinend gewollt...


    So, genug des Zynismus. Geht natürlich gar nicht, wenn ihr keine Info von der Grundschule bekommen habt. Hast du mal in die Akte geguckt?

  • Zitat

    Wie du schon schreibst, hat es sich zumindest seine Differenzierung selbst gesucht - keine zusätzliche Arbeit für dich. Und deinen anderen 30 Schülern wurde auch nicht langweilig (wobei es ja scheint, als hätte dein Schüler sich immerhin einigermaßen ruhig und in seiner Tischnnähe aufgehalten - man soll ja auch kleine Sachen loben).

    Häha, schön zusammengefasst. An "Inklusion" musste ich auch denken. Ich weiß nur nicht, was die Eltern des Kindes glauben. Dass er unter den gegebenen Umständen eine Zukunft hat? Das ist schon eine ziemliche Vernachlässigung der Verantwortung fürs Kind...


    Aktenstudium ist morgen angesagt, jedenfalls brauche ich mehr Info.

  • Wenigstens has du nur einen solchen Schueler. In meiner 5. Klasse mit 29 Schuelern laeuft das so:
    Ueberschrift, Datum und Lernziel stehen an der Tafel (mit gelber Umrandung, damit wir uns auch nicht vertun koennen). Anweisung an meine Klasse: "Copy the date, title and learning objective. Underline the date and title, using a ruler." Dazu muss ich neben zwei meiner Jungs stehen, mit den Haenden nochmal die Geste fuers "Heft aufschlagen" machen, und die Anweisung wiederholen. T. hat's Heft endlich auf, und versucht nun das Datum zu schreiben. Waehrenddessen ist M. noch damit beschaeftigt im Raum rumzuschauen. "M.! Open you book, copy the date and title." (Mache hier wieder die Geste fuer's Heft und zeige auf die Tafel.) T. hat inzwischen das Datum beim dritten Versuch hinbekommen und versucht sich an der Ueberschrift. Waehrenddessen gehe ich im Raum rum, zeige bei mindestens 5 Schuelern nochmal auf's Heft und wiederhole die Anweisung: "Underline your date and title." Ich komme hinten bei D. an. Sie unterhaelt sich gerade nett mit ihrer Banknachbarin. "D., what have I asked you to do?" Sie schaut mit leicht verwirrt an und schaut dann auf die Hefte der anderen Schueler an ihrem Tisch. "Copy the date, title and learning objective. Underline the date and title." Sie schaut mich mit grossen Augen an: "Where is it?" "It's on the BOARD! It's in the YELLOW BOXES!... What else do I have to do to it? I've asked for flashing lights to go around it, but they won't give me any." Langsam geht mir die Geduld aus, und wir haben gerade mal 5 Minuten der Stunde hinter uns. Ich gehe wieder nach vorne zu meinen zwei Spezialisten. Beide haben inzwischen das Datum und die Ueberschrift, M. hat mit dem Lernziel angefangen. Fuer T. schreib ich das Lernziel ins Heft und verlasse ihn wieder mit den Worten: "Well done, I can read what you've written. Now underline the date and title."
    Ich begebe mich zu meinem Jungstisch, welcher genau vor meiner Tafel steht. Mit leicht verzweifelndem Blick schaue ich auf J.'s Heft. Ueberschrift falsch abgeschrieben und zweimal durchgestrichen, Lernziel ebenfalls dreimal neu angefangen. :hammer:


    Bei uns ist die Anweisung zu Beginn JEDER STUNDE die Gleiche: "Copy the date, title and learning objective. Underline the date and title." Dennoch muss ich mich staendig wiederholen. Man koennt denken, ich waer an ner Sonderschule. X( Naja, geben wir ihnen noch ein bissl Zeit.

  • Wenn du dieses Kind so beschreibst, fühle ich mich ganz heimisch. Ich unterrichte an einer Förderschule Lernen und kenne solche Verhaltens- und Arbeitsweisen sehr gut. Vielleicht sollte man bei dem Kinde mal ein AO-SF ( Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs) einleiten. Wenn du Glück hast, schneit dann ein Sonderschullehrer ab und zu vorbei, um das Kind zu fördern oder beratend tätig zu sein ( Ob es hilft, ist auch sehr fraglich). Unter deinen Bedingungen ist eine sinnvolle Förderung unmöglich. Viel Kraft

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