Kompetenzorientierung = Niveauverlust?

  • Habe mal eine Frage:




    Ich studiere Englisch und Deutsch auf Lehramt und werde immer wieder mit dem
    Kompetentbegriff konfrontiert. Eigentlich erscheint er mir auch
    sinnvoll, aber ich höre halt auch immer wieder, im Zuge der neuen
    Kompetenzorientierung sei das Sprach-Niveau der Schüler deutlich
    gesunken, die Noten aber besser geworden. Manche vermuten sogar
    politischen Willen dahinter. Kann man das so pauschal sagen, oder sollte
    man das ganze differenzierter sehen? Was sind die praktischen
    Erfahrungen der Englischlehrer (und gerne auch anderer Lehrer) dazu?


    Vielen Dank schon einmal im Voraus, Mark

    • Offizieller Beitrag

    Ein interessantes Einstiegsposting von Dir.


    Im Wesentlichen hast Du mit Deinen Ausführungen recht.
    Die Umstellung auf das holistische Modell bei der Bewertung der Sprachrichtigkeit, der Anteil der "kommunikativen Kompetenz" in der Bewertung von Klausuren, sowie die Notengebung gemäß der Rohpunkte suggerieren sehr deutlich, dass hier aus Blei per Dekret Gold gemacht werden soll.
    Fragt man diplomatisch aber dennoch kritisch bei den entsprechenden Instanzen nach, wird dies wohlformuliert mit einem Paradigmenwechsel (Kompetenzorientierung) begründet.


    Letztlich harmoniert dieses Bewertungsmodell mit dem Gleichmachereigedanken der Gemeinschaftsschulbefürworter. Die meisten Klausuren liegen im Bereich von 7 bis 10 Punkten - es ist in Englisch faktisch eine Kunst, eine Klausur schlechter als 5 Punkte zu schreiben.


    Nach Außen hin kann man dies als "Erfolg" und als erfolgreiche Reaktion auf die Ergebnisse der Pisa-Studie verkaufen - wobei die Gymnasien da immer überdurchschnittlich gut waren...
    ...nur erkennt außer uns Lehrern und damit Insidern niemand, was da wirklich hinter steckt.


    Gruß
    Bolzbold

    • Offizieller Beitrag

    Das, was Bolzbold beschreibt, sehe ich (in Teilen) ähnlich. Was aber natürlich kein Argument gegen Kompetenzorientierung ist. Cambridge und andere internationale Sprachkurse/prüfungen/threshholds sind rein kompetenzorientiert. Und hervorragend. Die gibt es seit über 20 Jahren und so lange sind sie immer wieder erprobt, verbessert und optimiert worden. Im Gegegnsatz zu unseren Lehrplänen, die nur in regelmäßigen Abständen verschlimmbessert, aber bestimmt nicht entstaubt und / oder optimiert werden. Warum wir diese CAE oder TOEFL Materialien und das Konzept nicht längst übernommen haben, sondern weiter im verstaubten Nebel - in jedem Bundesland anders - herumstochern, womöglich noch frontal und inhaltlich so lebensfern wie möglich, ist mir schon seit Jahren unklar.


    Gehen unsere Schüler ins Ausland, können sie zwar (wenn alles gut lief) die stilistischen Mittel einer short story bennenen, beim Arzt aber nicht sagen, dass sie Durchfall, hämmernde Kopfschmerzen und ein Ziehen in der Nierengegend haben. Oder beim Praktikum ein Sozialversicherungsformular ausfüllen. Die Konditionen für verschiedene Bankkonten erfragen. Versicherungen abschließen. Oder sonst irgendetwas Lebensnahes. Es ist zum Heulen!!


    Ich würde mir die Übernahme der TOEFL und CAE Materialien und Progression und Methoden wünschen - und die Prüfungen am liebsten auch, am besten extern. Dann nimmt das Englischabi wenigstens irgendwer ernst. Was derzeit nicht der Fall ist.

  • Auch ich kann Bolzbolds Ausführungen zumindest teilweise unterschreiben, unterrichte allerdings kein Englisch.


    Ergänzend würde ich hier aber auch die Arbeit des eigenen Standes im Unterrichtsalltag kritisch hinterfragen wollen. Was man zum Schluss im Unterricht aus der Kompetenzorientierung macht und welche Anforderungsniveaus von den Schülern erreicht werden sollten, liegt doch in hohem Maße auch bei uns Lehrern selbst. Hier habe ich leider all zu oft den Eindruck, dass in meinen Augen falsch verstandene Schülerfreundlichkeit und Konfliktscheue bei vielen KollegInnen dazu beitragen, das Niveau immer weiter absinken zu lassen. Mit der Kompetenzorientierung hat das dann nichts zu tun.


    Ganz im Gegenteil würde ich sogar behaupten, dass Kompetenzorientierung - wenn sie richtig verstanden wird - eher eine Niveausteigerung bedeuten kann. Faktenorientiertes Wissen kann sich z.B. auch ein wenig leistungsfähiger Schüler in den Kopf hämmern und zeitnah wieder ausspucken. Wenn man aber stärker auf die Wissensvernetzung, die konkrete lebenspraktische Anwendung und Transferleistungen Wert legt, stoßen diese Schüler sehr schnell an ihre Grenzen.

    • Offizieller Beitrag

    Ich hab letztens von einer Studie erzählt bekommen, bei der Schüler einer 9. Klasse Abituraufgaben vorgelegt bekommen haben, die kompetenzorientiert waren. Die Schüler haben im Großen und Ganzen die Prüfung quasi "bestanden", weil sie so etwas wie Lesekompetenz und diverse Kompetenzen der anwednung schon bis zur 9. Klasse erlernt haben. Entweder stimmt dann was am Konzept der Kompetenzorientierung nicht oder wir sollten das G5 einführen.


    Was nicht heißt, dass ich nicht auch kompetenzorientiert im Unterricht arbeiten würde. Aber natürlich ist es an manchen Stellen dann schwieriger Inhalte abzuprüfen.

  • Hallo Dalyna,


    den Artikel habe ich gelesen und Du sprichst mir aus der Seele. Die Abi-Aufgaben für die Sek-I Schüler waren aktuelle Aufgaben, d.h. solche, bei denen es im Kompetenzen und nicht vorrangig um Inhalte ging.


    Mir zeigt dieses Beispiel nur, dass sich jeder irgendwie "durchlesen" kann. Wissen muss ich sonst - überspitzt gesagt - nicht mehr viel können. Ich erlebe gerade, dass unser ersten Durchgang der G8-Schüler komplett nichts taugt. In allen Fächern. Sie können zwar lesen und schreiben und sich in Englisch meinetwegen auch Vokabeln reinbimsen, aber Zusammenhänge erfassen, Gelerntes anwenden, Transfer, d.h. BEGREIFEN - das geht nicht.


    Ich führe das auf genau diesen kompezentorientierten Firlenfanz zurück, den die von mir hier schon oft erwähnten lieben Kolleginnen (ja, überwiegend Frauen) veranstalten. Mir scheint bei denen im Zentrum der Stunden nur die Methodik zu stehen. Keine Stunde ohne Fishbowl, Kugellager, Galerierundgang, Lernspiralen, bunte Pappkärtchen und dergleichen. Man rollt mit übergewichtigem Trolley und zusätzlichem Rucksack und noch einer weiteren Tasche bepackt von Kurs zu Kurs und Klasse zu Klasse. Und das ist dann guter Unterricht.....


    Wie gesagt, nach meiner Wahrnehmung werden Inhalte nur noch gebraucht, im Kompetenzen zu vermitteln. Der Inhalt verliert immer mehr an Gewicht. Arme Kinder, die dann an der Uni wirklich mal denken müssen....


    Grüße vom
    Raket-O-Katz

  • Wie gesagt, nach meiner Wahrnehmung werden Inhalte nur noch gebraucht, im Kompetenzen zu vermitteln. Der Inhalt verliert immer mehr an Gewicht. Arme Kinder, die dann an der Uni wirklich mal denken müssen....

    Das ist der Punkt. Ich glaube, das von vielen (und da kann ich KollegInnen in den Abi-Aufgaben-Kommissionen z.T. nicht ausnehmen) das Konzept der Kompetenzorientierung missverstanden wird. Sicherlich gibt es einige Kompetenzbereiche, die losgelöst von Inhalten "funktionieren". Viele fachspezifische Kompetenzen lassen sich doch aber nicht von den faktenorientierten Inhalten abkoppeln. Man braucht dieses fachspezifische Wissen zwingend, um viele Kompetenzen überhaupt erst enftalten zu können.


    So meine ich auch meine erste Aussage: Kompetenzorientierung richtig verstanden bedeutet eben eher eine Niveausteigerung (Wissen anwenden, nutzbar machen!). Leider wird das aber oft so nicht umgesetzt. Da muss sich eben jedes Kollegium auch mal selbst in die Pflicht nehmen.

  • Im Grunde geht es um anwendungsbereites Wissen.


    Um sich das klar zu machen bietet sich (gerade im sprachlichen Bereich) das Modell Competence and Performance von Chomsky an oder für die Logiker die Lehre von Ausprägung und Schema.


    Also, warum kann ein Dolmetscher, Chinese, der chinesich-deutsch und umgekehrt übersetzt, mich verstehen, obwohl er mich bisher noch nie gehört hat, also meine konkrete Durchführung (Performance) nicht kennt.


    Antwort: Er verfügt über ein Schema der deutschen Sprache (Competence), wozu u.a. Alphabet, Grammatik, Vokabular gehören, kurz, er ist kompetent in diesem Bereich. Damit ist er in unterschiedlichen Sprachsituationen handlungsfähig, (weitgehend) unabhängig von der konkreten Performance, wozu beispielsweise Akzente und Dialekte gehören.


    Das läßt sich jetzt auf andere Bereiche übertragen, man spricht spricht dann von Handlungskompetenz. Um einem gängigen (und aus meiner Sicht recht praktikablen) Modell zu folgen entfaltet sich diese in den Teilkompetenzen Fachkompetenz, Methodenkompetenz und Sozialkompetenz.


    Man kann jetzt noch so 50000 andere Kompetenzen dazuerfinden (die deutsche Sprache mit ihren zusammengesetzten Substantiven bietet da hinreichend Raum...), aber solche Modelle sind dann vielleicht akademisch nett, aber nicht mehr handhabbar.


    Grüße
    Steffen




    PS: markmeier Wenn man von Kompetenzen schreibt, dann sollte man vorher klären welches Kompetenzmodell man zugrunde legt und warum. :)

    Planung ersetzt Zufall durch Irrtum. :P

    8) Politische Korrektheit ist das scheindemokratische Deckmäntelchen um Selbstzensur und vorauseilenden Gehorsam. :whistling:

    Moralische Entrüstung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen.

    Einmal editiert, zuletzt von SteffdA () aus folgendem Grund: Opera kakt ab... :-/

    • Offizieller Beitrag

    Der Kompetenzbegriff ist für mich in der Tat auch sehr schwammig.
    "Früher" war von den vier Skills (bzw. fünf Skills) die Rede, von denen eine als "interkulturelle Kompetenz" das K-Wort auch schon enthielt.


    Die jetzige Kompetenzorientierung ist von ihrer Absicht her sicherlich nicht verkehrt, jedoch ist der fast schon missbräuchliche Umgang damit von den drei Landesregierungen, die in NRW damit nun schon hantieren, meines Erachtens das Hauptproblem.


    Die Kombination der Kompetenzorientierung mit einem Bewertungsmaßstab, der jedes Gramm Kieselsteine, das jemand aus dem Fluss fischt, bereits positiv bewertet, auch wenn kein Gramm Gold darunter ist, führt zu dem Niveauverlust, weil die Schüler letztlich ja durch die Noten bestätigt bekommen, dass sie schriftlich gar nicht so schlecht sind wie man ihnen aus der Erfahrung im Unterricht suggeriert hat.


    Die Gegenüberstellung von Analyse von Kurzgeschichten mit der situativen Kommunikation beim englischen Arzt halte ich für wenig hilfreich, weil diese Dinge ebenso im Unterricht geübt wurden und werden. Letztlich kann aber der Englischunterricht die konkrete Situation, in der man dann "kompetent (inter)agieren" muss, nur simulieren. Daher ist ja nach wie vor der Auslandsaufenthalt für solche Situationen unabdingbar. Die emotionale Komponente, die beim Verhalten im Ausland ebenfalls eine Rolle spielt, kann Unterricht nur sehr oberflächlich abbilden, weil dies einfach zu individuell ist.


    Wissen "kompetent" anzuwenden, wie es hier m.E. durchaus zutreffend beschrieben wurde, setzt natürlich einerseits das Wissen, andererseits die methodische Schulung im Umgang mit demselben voraus. Ich habe dies intensiv mit einem aus nur 14 Schülern bestehenden Ge-LK geübt. Das ist hartes Brot und erfordert von den Schülern entsprechenden Einsatz. Die Kombination aus dem was, dem wie und dem wann stellt für nicht wenige Schüler aber eine Herausforderung dar, vor allem, wenn es am Wissen hapert. Und da suggeriert uns ja das Internet, dass man auch gut ohne auskommen könnte - solange es nicht herauskommt.


    Gruß
    Bolzbold

  • :thumbup: Vielen Dank für die vielen Antworten :thumbup: ,


    dadurch habe ich eine gute erste Übersicht über die Praxiserfahrungen erhalten. Ich bin froh, dass trotz einiger nachvollziehbarer Kritik doch auch produktive Ansätze dabei sind, wie man das Ganze sinnvoll umsetzen bzw. weiterentwickeln kann. Ich denke auch, dass Kompetenzen ruhig etwas mehr betont werden können als es früher mitunter der Fall war, da Schule ja auch fürs Leben befähigen soll. Wissen alleine reicht eben oft nicht aus. Auf der anderen Seite stimme ich zu, dass Kompetenzen generell an Wissen erworben werden und nur eine gute Kombination von beidem Anknüpfungspunkte für weiteres Lernen bietet.


    Den Klein Text sollten wir für ein Seminar auch mal lesen. Aber ich finde gerade diesen Aspekt der Ökologie (hier: Räuber-Beute-Beziehung bzw. Parasit-Wirt-Beziehung) auch generell nicht gerade anspruchsvoll. Wenn so etwas im ABI drannkommt, hätte man mE auch nach dem alten System keine großen Probleme gehabt. Nur, dass die 9. Klässler wohl überhaupt kein Vorwissen gehabt bzw. gebraucht haben ist etwas schockierend. Trotzdem hätten sie eine Aufgabe zur Molekulargenetik oder zu einem der Stoffkreisläufe wohl weitaus schwerer nur aus dem Material heraus bearbeiten und zufriedenstellend lösen können. Immerhin hatte ich Bio-LK und habe darin folglich damals auch mein Abi geschrieben. Daher weiß ich aus Schülersicht ziemlich gut wovon ich spreche... Ich denke Herr Klein hat da sehr bewusst ausgewählt, um seinen Punkt durchzubringen. Aber auch hier könnten die erfahrenen und mehrfach ABI-erprobten Lehrer aus den unterschiedlichen Fächern sicher mehr sagen: Wie sieht es aus mit Euren Erfahrungen aus der Lehrersicht? Ist das ABI (und Klausuren/ Prüfungen allgemein) allgemein deutlich einfacher geworden?


    SteffdA: Kompetenzorientierung richtet sich mW allgemein nach Weinerts Kompetenzbegriff, der dann aber je nach Fach unterschiedliches beinhalten und daher meinetwegen gerne in Kern-, Schlüssel- Teil- (whatever-)Kompetenzen eingeteilt werden kann. Meine Frage war aber gewollt allgemein formuliert, da ich ein Meinungsbild von praxiserprobten Lehrern haben wollte. Die Erfahrungen lassen sich so womöglich nicht immer zu 100% übertragen, aber sie sind mE doch recht aussagekräftig.

  • Zitat

    Kompetenzorientierung richtet sich mW allgemein nach Weinerts Kompetenzbegriff...


    Naja... soooooooooo konkret ist der ja auch nicht 8)

    Planung ersetzt Zufall durch Irrtum. :P

    8) Politische Korrektheit ist das scheindemokratische Deckmäntelchen um Selbstzensur und vorauseilenden Gehorsam. :whistling:

    Moralische Entrüstung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen.

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