Zweifel am Wechsel aus der Industrie in den Schuldienst

  • Vor einiger Zeit hat mich ein Freund von mir
    (Realschullehrer) auf den Gedanken gebracht, über den
    Direkteinstieg (in BW) in den Schuldienst zu gehen. Zurzeit
    befinde ich mich in einer recht passablen Position als
    Elektroingenieur in der Industrie.


    Schon bereits vor dem Studium habe ich mit dem Gedanken
    gespielt, in den Schuldienst zu gehen, wie ein Vorbild von
    mir - mein ehemaliger Berufsschullehrer. Durch zahlreiche
    Seminare für die Gewerkschaft habe ich bereits
    Erfahrungen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die
    Arbeit mit dieser Altersgruppe hat mir immer Spaß gemacht.


    Meine derzeitige Tätigkeit ist in Ordnung, nur fehlt mir in
    letzter Zeit die Herausforderung, da sich sehr viel Routine
    eingeschlichen hat.


    Trotz meiner bisherigen Ausführung habe ich einige Zweifel
    an diesem Schritt. Lohnt es sich wirklich seinen gut
    bezahlten Arbeitsplatz aufzugeben und in den Schuldienst zu
    gehen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass wir ein
    Baby im September erwarten. Das ist ziemlich genau dann,
    wenn ich theoretisch den Schuldienst antreten würde.


    Kann mir vielleicht jemand, der in einer ähnlichen Situation
    war, von seinen Erfahrungen berichten?

  • Tja, schwierig. Ich weiß nicht genau, wie das Verfahren in BW ist. In NRW macht man 2 Jahre Ausbildung, dann die Prüfung. Wenn man da durchfällt, kann man ein Jahr verlängern.


    Wenn das wieder nicht klappt, ist man draußen. Worst case. Kommt aber vor.


    Ein Jobwechsel ist natürlich immer mit einem gewissen Risiko verbunden. Aber ein halbes oder auch ganzes Jahr Probezeit ist nicht so riskant wie zusätzlich diese Prüfung machen zu müssen.


    Ich habe den Schritt gemacht, allerdings nicht aus einer sicheren Position heraus. Es hat alles geklappt und ich bin froh. Aber ich habe eben auch mitbekommen, dass es nicht immer klappt. Zusammenfassen würde ich es zu dem Rat: Möglichst eine Hintertür offenlassen - und vor allem: Wenn es nicht gut läuft, rechtzeitig abbrechen - in Absprache mit Ausbildern und Kollegen, die dir ein Feedback geben können.


    Wenn du es machen willst in dieser Phase (Baby) - vorher abklären, wie ihr die Situation managt, vor allem, weil du viel zu Hause wirst arbeiten müssen. Dann ist man da und doch nicht da, und das ist recht gewöhnungsbedürftig.


    Mal in einer Schule hospitieren wäre sicher eine gute Idee.

  • Hi,


    das Praktikum in einer Schule im Voraus ist nicht nur ein guter Tipp von Piksieben sondern eigentlich ein "must do"!


    Zwei Gründe:
    1. Du musst antesten, wie sich die "dunkle Seite" :) anfühlt; die früher erlebte Schülerseite und das Halten von Seminaren ist etwas anderes. Ok, Hospitieren ist auch noch mal anders als echtes Unterrichten.
    2. Wenn du dich beim Studienseminar vorstellst (= Bewerbungsgespräch (-> zumindest in RLP)), dann wirst du ganz sicher nach dem Hospitieren gefragt werden.


    Ansonsten aus meiner Sicht:

    Zitat

    Lohnt es sich wirklich seinen gut bezahlten Arbeitsplatz aufzugeben und in den Schuldienst zu gehen.


    JA!
    Mein Lebenslauf: Früh im Studium erkannt, dass der normale E-Ing-Job langweilig und nichts für mich sein wird. Im Studium schon ein wenig durch päd. Seminare, Halten von Übungen etc. in die richtige Richtung orientiert (mit BBS immer im Hinterkopf).
    Nach dem Studium 7 Jahre in der Industrie, aber bewusst als tech. Trainer und Redakteur (viel Spaß dabei, aber die letzten 20% fehlten irgendwie). Immer wieder das dumme Gefühl im Bauch, das falsche gemacht, das richtige (Lehrer) verpasst zu haben.
    Dann Seiteneinstieg in RLP, zwei Jahre hartes Ref mit 18 Stunden Unterrricht parallel; seit paar Jahren fertig und ZUFRIEDEN!!! So zufrieden, wie ich es im Job nie war. Wenn ich daran denke, wie mich im Job immer wieder der Gedanke gepiesackt hat, dass ich es verpasst hatte Lehrer zu werden...


    Tja, lohnt es sich?
    Das kannst du nur selbst herausfinden.
    Schule besteht halt nicht nur aus Ferien und Halbtagsarbeit. Schule ist anstrengender als Industrie, aber schöner. Die Kunden sind meist schwieriger. Es gibt unter den Kollegen weniger Konkurrenzdruck (als Beamter geht - was Beförderungen angeht - halt fast nix), du hast im System ÖD weniger Freiheiten, wirst von der Bürokratie gegängelt, hast dagegen aber genügend (pädagogische) Freiheiten und teils freie Zeiteinteilung. Außerdem findet sich in jeder seltsamen Reform (sowas kommt dauernd) irgendwo ein Schlupflöchlein, um das vernünftig für Schüler und Lehrer hinzubiegen.


    Tja, ich war in einer ähnlichen Situation wie du (außer dass unser Nachwuchs jetzt im April - und damit lange nach dem Ref - kommt ;)), habe den Schritt nicht bereut und bin zufriedener.
    Andere Kollegen - insb. die, die durchgefallen sind - sehen das natürlich anders. Manche Kollegen sind nach 10 Jahren im Job ausgebrannt, andere sind kurz vor der Pension noch voller Lebensfreude und mit Begeisterung dabei.


    Nochmal was zu Kindern: Ich kennen zwei Kolleginnen, die mit Babys Ref gemacht haben; Extrawürste gabs keine, aber beide habens geschafft. Manchmal brauchte es eben dann die Entscheidung, dass eben mal das Kind wichtiger ist als die nächste Lehrprobe. Das geht dann schon mal ein wenig auf die Noten, aber das ist dann später mit dem Examen in der Tasche nicht mehr ganz so sehr wichtig.


    Also: Ich wünsche viel Mut und Glück für deine Entscheidung. Nur du selbst kann wissen, ob du dich für ein ganzes Lehrerleben begeistern und das durchhalten kannst. Und wahrscheinlich wirst auch du das erst dann genau wissen, wenn du es ausprobierst. Ich hätte mit der Entscheidung, es nicht probiert zu haben, wohl für den Rest meines Berufslebens gehadert.


    Viele Grüße von
    Golum


    PS: Schulungen im Job bzw. Seminare für die Gewerkschaft etc. sind eine ganz andere Welt als Unterrichten in der Schule! Sicherheit im freien Sprechen etc., die du da gelernt hast, sind zwar unheimlich wertvoll, aber einen Zirkus von 25 Flöhen zu hüten und zu bändigen (und nebenher zu unterrichten ;)), ist eine ganz andere Herausforderung.

  • Ja, ich kann Golum nur zustimmen und dies ist wohl Tenor bei allen "Karrieberatern und Coaches". Als Beispiel mal Frau Leitner (Wirtschaftspsychologin und Karriereberaterin) , passt wohl auch auf deine Situation:


    CP: Nehmen wir an, ich komme auch nach reiflicher Überlegung und Analyse zu der Erkenntnis, dass meine jetzige Stelle nicht die richtige für mich ist. Wie finde ich einen Beruf und eine Firma, bei der die Arbeit noch nach Jahren Spaß macht?


    Leitner: Der größte Fehler wäre, jetzt in blinden Aktionismus zu verfallen und sich "irgendeinen Job" zu suchen, von dem Sie meinen, dass er eine Verbesserung darstellen könnte.


    Sie fangen erst einmal bei sich selbst an, indem Sie versuchen, eine klare Vorstellung von dem zu bekommen, was Sie überhaupt suchen. Ich arbeite zum Beispiel mit dem Ansatz des amerikanischen Autors Richard Nelson Bolles, der ein Modell für eine umfassende Standortbestimmung gemacht hat. Dabei werden auch Aspekte wie die "Chemie" zu Chefs, Kollegen und Kunden, Arbeitsbedingungen, Werte und zentrales Motiv reflektiert. Erst einmal gilt es, herauszufinden, worin eigentlich Ihre Unzufriedenheit begründet ist. Glauben Sie mir: man kann sich auch verschlechtern!


    Der zweite Schritt besteht in einer genauen Recherche, um zu überprüfen, wie es in dem Bereich oder in der Firma, die Sie interessiert, wirklich zugeht. Hier können Sie viele spätere Bruchlandungen vermeiden.

  • Kann dich voll verstehen. Also, du muss den Wechsel schon wirklich wollen, sonst wird das nix. Und du muss dich gewissermaßen "dazu berufen" fühlen. Das fehlt mir etwas in deiner Darstellung.


    Ich würde es jedem empfehlen, der es wirklich will. Schule ist nicht so rosig, wie sich viele vorstellen - der Bürokratismus und einige nervige "Klienten" können einem schon zu schaffen machen. Emotional anstrengender, aber unterm Strich auch befriedigender als in der Industrie.
    Von den Arbeitszeiten her bist du flexibler, hast aber auch nie wirklich frei - sollte man sich gut überlegen!
    Also einfach mal ausprobieren - Praktika etc.


    Viel Glück!


    Sonnenkönigin

    Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.

    Einmal editiert, zuletzt von Sonnenkönigin ()

  • Vielen Dank für eure Antworten. Ich habe die Beiträge aufmerksam durchgelesen. Nun habe ich einige Zeit darüber nachgedacht und so wie confusepc vorgeschlagen hat, die Situation noch einmal analysiert und in einer Entscheidungsmatrix eingetragen.


    http://postimage.org/image/2lkcg0iw4/[/IMG]


    Es hat mich fast schon etwas überrascht, dass die Berufsschule einen Deckungsgrad von 83 % mit den Faktoren, die mir wichtig sind, hat. Kann man deswegen gleich von einer Berufung reden?
    Was fehlt hier nach eurer Meinung nach und was wurde von mir falsch eingeschätzt?

  • Wenn ich Deine Matrix richtig deute, hast Du den Eindruck als Lehrer extrem viel Freizeit zu haben (8 von 10 Punkten). An dem Punkt liegst Du leider völlig daneben. Und wo Du so viele Aufstiegschancen siehst, weiß ich auch nicht. Klar gibt es ein paar A15 Stellen, bei uns etwa 5% aller Stellen, aber das mit 8/10 zu bewerten ist doch eher optimistisch. Dafür würd ich die Schwierigkeiten, die Dir die "Kunden" bereiten ggf. schon etwas höher bewerten.

  • Mamamia, du scheinst ja ein sehr systematischer Typ zu sein. Schwierige Kunden hast du meiner Meinung nach unterbewertet, Reisebereitschaft überbewertet, Aufstiegsmöglichkeiten auch überbewertet.
    Rente? Na gut, wenn du verbeamtet wirst und noch rel. jung bist.


    Es fehlt mir immer noch der Drang, die Motivation, wirklich nur das und nichts anderes tun zu wollen. Das liest sich bei dir eher wie eine emotionslose Gegenüberstellung von Fakten - aber vielleicht ist das nur meine persönliche Einschätzung.

    Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.

  • Ich glaube auch Freizeit und Überstunden sind etwas unrealistisch von Dir eingeschätzt. Das wird immer sehr überbewertet, weil kaum einer von außen sieht wie viel "Heimarbeit" immer noch zu leisten ist, ebenso wie viele Termine.


    Was meinst Du mit "Krankheit"?

  • Ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen:
    "Schwierige Kunden" hast Du in der Schule absolut unterbewertet.
    Bei den Kollegen kannst Du Glück oder Pech haben (wie in jeder Firma auch)


    Freizeit ist Dir sehr wichtig laut der Liste. Bitte erkundige dich bei möglichst vielen Berufsschullehrern wie so eine 08/15 Woche aussieht. Ich habe so den leisen Verdacht, dass sie anders aussieht als Du Dir das vorstellst ;)


    Bedenke auch den Unterricht am Abend. (Habe ich jedenfalls schon öfter hier gelesen)


    Gruß
    Anna

  • Vorteile Industrie:
    Kundenkontakt, ständig neue Eindrücke, Abwechslung, Spaß an der Tätigkeit,
    tolle Firmenfeiern, Geschäftswagen, professionelle Büroeinrichtung, Feierabend (wenn auch oft spät), Wochenende (wenn auch nicht immer), Kurztrips machbar (Freitag in den Flieger, Sonntag Abend zurück, Montag Büro), 30 Tage Urlaub (und ich meine wirklich Urlaub), Aufstiegsmöglichkeiten, Wechsel zu anderen Firmen bzw. in andere Tätigkeiten, gute WMF-Kaffeemaschine :)


    Vorteile Schule:
    Arbeit mit jungen Menschen, Spaß an der Tätigkeit, Ferien, Sicherheit, Flexibilität hinsichtlich der eigenen Zeiteinteilung (kann auch ein Nachteil sein), nette Kollegen (superwichtig), man ist sein "eigener Chef",...


    Tipp:
    Praktikum machen, meine Threads lesen, ich hätte damals beinahe alles hingeschmissen
    Ansonsten einfach ausprobieren, zurück kann man eine gewisse Zeit sicherlich immer noch. Aber in ein paar Jahren würdest Du dieser Chance vielleicht nachtrauern. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
    Der Job muss einem liegen, sonst ist er die Hölle.

    Lehrer klagen, ohne zu leiden. :D

    Einmal editiert, zuletzt von Super-Lion ()

  • Ich habe nach euren Korrekturen die Matrix noch einmal überarbeitet.
    BBS: 74 %
    Industrie: 65 %


    Es ist etwas näher zusammengerückt. Dank eurer Einwände.


    Ja, hier wird etwas emotionslos gegenüber gestellt.


    Zitat

    Leitner: Der größte Fehler wäre, jetzt in blinden Aktionismus zu verfallen und sich "irgendeinen Job" zu suchen, von dem Sie meinen, dass er eine Verbesserung darstellen könnte.


    Mein Alter spielt hier keine Rolle, aber nach einer Lehre, einem Studium und einigen Jahren Berufserfahrung bin ich nicht mehr grün hinter den Ohren.
    Meine Motivation resultiert aus meinen guten Erfahrungen mit Berufsschullehrern und den Seminarerfahrungen. Die Schüler für die Sache begeistern und bewusst wenig auf Frontalunterricht zu setzen. Meine lockere motivierende Art im Unterricht bekam ich fast immer als positives Feedback von Teilnehmern und Kollegen zurück. Ich rede und erkläre gerne - egal ob im Berufsalltag oder in der Freizeit. Weitergabe von Wissen ist etwas großartiges für mich.

    • Offizieller Beitrag
    Zitat

    Original von competence
    bewusst wenig auf Frontalunterricht zu setzen.


    Ich rede und erkläre gerne - egal ob im Berufsalltag oder in der Freizeit. Weitergabe von Wissen ist etwas großartiges für mich.


    Das widerspricht sich !

  • Hm... also ich bezweifle irgendwie, dass du mit dieser Methode weiterkommen wirst.... solche Nutzwertbetrachtungen sind mir aus dem Studium durchaus geläufig... aber durch die Auswahl der Kriterien, Gewichtung usw. bleibt das ganze halt letztlich doch sehr subjektiv.


    Es ist sicher gut und richtig, sich über die Unterschiede der beiden Berufe Gedanken zu machen, aber letztlich läuft es darauf hinaus: Du musst es WOLLEN. Man muss diesen Job lieben, um ihn gut und psychisch gesund bis zur Rente durchzuziehen.


    Zwei kluge Zitate, die mir nette Mitmenschen beim Zusammenhang mit dem Jobwechsel auf den Weg gegeben haben:


    "Fachwissen und Methodik kann man lernen - aber Lehrer ist man oder man ist es nicht!"


    und:


    "Wichtig sind die 4 Ms: Man muss Menschen mögen!"


    Also, wenn du grundsätzlich mit den Rahmenbedingungen leben kannst, dann lass den Bauch entscheiden. Und wenn die Vorstellungskraft nicht reicht: Beiß in den sauren Apfel und nutz ein oder zwei Wochen Urlaub für ein Praktikum!

  • Zitat

    Original von LizzyB
    Beiß in den sauren Apfel und nutz ein oder zwei Wochen Urlaub für ein Praktikum!


    Hier unterschreibe ich, als Seiteneinsteigerin mit ähnlichem Hintergrund wie Du, dick und fett. ;)

    Beste Grüße
    von und aus dem Kiefernwald

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