Jül Fragen + Erfahrungsberichte

  • Hallo, ich bin Lehramtsstudent und sitze gerade an meinem Thema zur Examensprüfung: Peter Petersen - Jena-Plan
    und würde auch interessehalber gerne ein paar Fragen loswerden, wie der Jahrgangsübergreifende Unterricht denn in der Praxis wahrgenommen und beurteilt wird, der ja wohl zumeist auf die Konzeption (Stammgruppen) von Petersen zurückgeführt wird.
    In Berlin ist JÜL ja seit 2008 eingeführt..
    Habe bislang sehr unterschiedliche Eindrücke im Internet bekommen, auch sehr viel Kritik und Ernüchterung..
    Wie sieht das Bild denn momentan, also nach 2 Jahren der Einführung aus..?


    Und wie hat man sich das in der Praxis vorzustellen? Kann es sein, dass viele Schwierigkeiten auch der Tatsache geschuldet sind, dass JÜL in ein Gesamtkonzept wie dem Jena-Plan eingebettet sein sollte und nicht einfach nur als reformpädagogischer neuer Ansatz in die Regelschule integriert wird..
    Bei Petersen gibt es ja Einschulungskurse für die Erstklässer, in denen ihnen ersteinmal die grundlegenden Kompetenzen beigebracht werden sollen (Lesen, Schreiben, Rechnen) Außerdem gibt es Kern- und Niveaukurse.. wo Basiskompetenzen, wichtiges Fachwissen gestrafft vermittelt wird, insgesamt beansprucht das gemeinsame Gruppenlernen glaube ich dann nur ca. 20% der gesamten Unterrichtszeit.
    Kann es sein, dass bei Jül die Kinder, ein Vorwurf den ich gelesen habe, sich schon von Anfang an auch die Basiskompetenzen alleine aneignen sollen, durch SOL.. also ins kalte Wasser geworfen werden..?
    Hab noch so gar keine Vorstellung, wie das praktisch genau funktioniert..
    Es scheint auch, dass die Lehrer völlig unvorbereitet mit dieser Neuerung konfrontiert wurden, sich Materialien selber zusammensuchen müssen, und gar nicht so recht wissen, wie der Unterricht überhaupt organisiert werden soll..


    Mein persönlicher Eindruck ist, dass JÜL gut funktionieren kann, wenn es in ein schulisches Gesamtkonzept integriert wird, die Lehrer gut vorbereitet werden und die Räume und Materialien zur verfügung stehen. In Bezirken mit großem Anteil "Migrationshintergrund" stelle ich mir eine Umsetzung auch schwieriger vor, wenn die Kinder von Haus aus wenig Disziplin und Sprachkenntnis mitbringen..
    Neige generell dazu mehrere Schulformen zu begrüßen, die unterschiedlichen Elternhäusern gerecht werden..


    Würde mich auf jeden Fall über Erfahrungen / Antworten freuen..


    Gruß Vincent

  • Wollte zu Berlin nur sagen, dass ich nur wenige Schulen mit JÜL kenne, an meinen und denen in der Umgebung wurde immer nur SAPH durchgeführt. Und da ist zumindest meine Begeisterung im Moment sehr gering, denn die Theorie ist toll, aber die Voraussetzungen in der Praxis sind einfach denkbar ungeeignet.



    Das trifft ja SAPH genauso. Und ja, die Kollegen hat es wie der Schlag getroffen, sie sind jahrelang schon im Schuldienst, viele werden in den nächsten 5-10 Jahren pensioniert und haben einfach die Theorien nicht in der Uni gelernt dazu. Haben also deutlich weniger Erfahrung auch mit solchen Materialien usw. als wir, die relativ frisch aus der Uni kommen und dort schon damit gearbeitet haben, an Projektschulen usw. waren.


    Migrationshintergrund ist sicherlich ein ganz bedeutendes Theam dabei, läßt aber zumindest an meiner jetzigen Schule da keine großen Unterschiede zwischen den Kindern zu. Ich bin in Wedding, die Kidner kommen kaum aus deutschen Familien. Sie sind alle gleich weit zurück.
    Räume, das ist ein großes Problem, wir haben selbst für den normalen Teilungsunterricht nicht genug, wie soll dann da noch zusätzlich Raum für die Schulanfangsphase sein?


    Und Materialien finden, das fällt mir zumindest sehr schwer, denn kaum ein Schulbuchverlag wird dem wirklich gerecht, man kann nciht mehr einfach einem Lehrgang folgen o.ä.

    • Offizieller Beitrag

    Hallo Vincent,


    dazu gibt es schon Threads, schau nochmal im Primarstufen-Unterforum.

    Zitat

    Original von vincent77
    In Berlin ist JÜL ja seit 2008 eingeführt..
    Habe bislang sehr unterschiedliche Eindrücke im Internet bekommen, auch sehr viel Kritik und Ernüchterung..
    Wie sieht das Bild denn momentan, also nach 2 Jahren der Einführung aus..?


    Es gibt Schulen, die die Mischung in allen Fächern haben.
    Es gibt weiterhin Schulen, die sich weigern, Schulen die JÜL oder SAPh machen und Schulen, die es nach außen so aussehen lassen, aber nur in den Randfächern (Sport, Kunst etc.) mischen.


    Zitat

    Und wie hat man sich das in der Praxis vorzustellen?


    28 Kinder in einem kleinen Klassenraum, in dem man kaum die ganze Klasse aufstehen lassen kann, ohne dass jemand über den Ranzen des Nachbarn fällt.
    Viele sehr jung eingeschulte Kinder mit entsprechenden Defiziten in verschiedenen Bereichen, die wir natürlich mit links und individuell ausgleichen.
    Viele Kinder, die aufgrund ihrer Sozialisation (sozial schwaches Einzugsgebiet) ihre Muttersprache (Deutsch) nicht ausreichend beherrschen und sich über körperliche Grenzsetzungen (hauen, kneifen, beißen, schubsen, treten) ausdrücken oder über Schimpfwörter.
    Eine Reihe von verhaltenskreativen Kindern (auf dem Tisch liegen, unter dem Tisch an der Querstrebe turnen, über den Boden krauchen, aus dem Unterricht rennen, dem Nachbarn den Kleber ins Gesicht schmieren etc.)
    Dazwischen Kinder, die im 2. Schulbesuchsjahr sind und traurig mit ansehen müssen, wie die Erstklässler sie schon überholt haben.
    Nebenbei noch das ein oder andere Kind mit autistischen Zügen, Epilepsie, Missbrauchserfahrungen oder Körperbehinderung.
    Dazu eine Lehrerin, die dort überwiegend alleine steht und all diesen Kindern gerecht werden soll.
    Ein paar Stunden eine Erziehrin, ein paar Stunden Teilungsunterricht über das Schulkontingent.
    Nebenbei Lesepaten,DAZ, MAE-Kräfte, Sonderpädagoginnen, d.h. ich habe pro Woche bis zu 6 Erwachsenen ihre Aufgaben zu erklären, während ich nebenbei die Kinder beaufsichtigen muss. Die Kinder haben erst recht keinen Duchblick mehr, wer diese ganzen Menschen eigentlich sind und es kommt schon die ein oder andere Frage von Eltern, warum das Kind schon wieder mit jemand Neuem mitgehen musste.
    Natürlich freuen wir uns über die Hilfe, aber es sind zu viele Leute, all diese Stunden müssten in den Händen von ein bis 2 Leuten liegen. Es müssten ständig 2 Pädagoginnen in der Klasse sein bei maximal 20 Schülern und einem zweiten (meinetwegen "halben") Unterrichtsraum.
    Die Kinder müssten auf Vorschulniveau beginnen dürfen und 3 Jahre Zeit bekommen für den Unterrichtsstoff der ersten 2 Schuljahre. Das müsste die Regel sein, nicht die Ausnahme. Wer dann schneller ist, könnte ja trotzdem nach 2 Jahren in die 3. Klasse.
    Wir haben dieses Jahr so einen schwachen 2. Jahrgang, dass mir die Haare zu Berge stehen. Heute mussten wir das "ei" mal wieder neu einführen, weil die Hälfte der Zweitklässler das vergessen hatte. Neulich war es der Unterschied zwischen der 8 und der 9. Gleichzeitig müssen genug Kinder weiter in die 3. Klasse, weil wir sonst mehr Einschüler abweisen müssten als erlaubt.



    Zitat


    Bei Petersen gibt es ja Einschulungskurse für die Erstklässer, in denen ihnen ersteinmal die grundlegenden Kompetenzen beigebracht werden sollen (Lesen, Schreiben, Rechnen)


    Das würde sehr sehr viel helfen. Dazu müssten im Durchschnitt 1,5 Jahre zur Verfügung stehen.


    Zitat

    Außerdem gibt es Kern- und Niveaukurse.. wo Basiskompetenzen, wichtiges Fachwissen gestrafft vermittelt wird, insgesamt beansprucht das gemeinsame Gruppenlernen glaube ich dann nur ca. 20% der gesamten Unterrichtszeit.


    Wenn ich das lese, dann hat SAPh kaum was mit Jenaplan zu tun.
    (Nein, Jenaplan war nicht mein Spezialgebiet.)
    Wir haben zwar Stunden geschaffen, in denen neues eingeführt wird, aber die reichen nicht, weil viele Kinder, gerade auch viele Zweitklässler mit dem selbstständigen Lernen überfordert sind, selbst wenn man ihnen die Blätter vor die Nase legt, die sie zu lösen haben. Und dieses selbstständige Lernen nimmt viel Zeit ein, jeden Tag 1 bis 2 Stunden, das überfordert viele Kinder.
    Hinzu kommt, dass viele Kinder einen unglaublichen Bedarf nach Spiel haben, die könnten eine Stunde am Tag nur malen und spielen, aber dann ließe sich nicht mal die Hälfte des Rahmenlehrplanes umsetzen.


    Zitat


    Kann es sein, dass bei Jül die Kinder, ein Vorwurf den ich gelesen habe, sich schon von Anfang an auch die Basiskompetenzen alleine aneignen sollen, durch SOL.. also ins kalte Wasser geworfen werden..?


    Ja, das passt teilweise. Und dann kommt hinzu, dass viele Kinder aus der Kita kommen, wohlbehütet und nun müssen sie sich nicht nur an die Schule gewöhnen, sondern an eine Klasse mit 2 Klassenstufen. 1. Stunde: Klassenraum, 2. Stunde Sport - nur 1. Klasse, 3. Stunde jahrgangshomogene Stunde: ab in den Nachbarraum, 4. Stunde Sport nur 2. Klasse, die Erstklässler bleiben überwiegend im Klassenraum, ein paar gehen mit der Sonderpädagogin mit, 5. Stunde wieder alle im Klassenraum, außer den beiden Kindern, die mit der Lesepatin mitgehen. Da landen öfter mal Erstklässler sonstwo und manchmal auch Zweitklässler. Selbst ich brauche mindestens ein Vierteljahr, bis ich nicht ständig in den Kalender auf den Stundenplan schauen muss.


    Zitat

    Hab noch so gar keine Vorstellung, wie das praktisch genau funktioniert..


    Wie es laufen kann, weiß ich, wie und ob es funktionieren kann, wenn man den aktuell geltenden Rahmenlehrplan noch beachtet, weiß ich nicht bzw. bezweifle ich. (Achja, ich bin in einem sozial schwachen Bezirk mit nicht so sehr vielen Migranten.)


    Zitat

    Es scheint auch, dass die Lehrer völlig unvorbereitet mit dieser Neuerung konfrontiert wurden, sich Materialien selber zusammensuchen müssen, und gar nicht so recht wissen, wie der Unterricht überhaupt organisiert werden soll..


    Jein. Es gab eine Reihe Fortbildungen. Wie man Wahrnehmungsstörungen erkennt, Rechenschwäche verhindert, freies Schreiben anregt und pipapo. All das lässt sich in einer Gruppe mit 25 unauffälligen Kindern gut umsetzen. Wenn mir aber Fritz, Franz und Jasmin den ganzen Tag unter dem Tisch turnen, Theo und Anna sich ständig treten und beißen, während Peter seinen Kleber verspeist und Beowulf mit der Schere zuerst der Vorderfrau die Haare ab-, dann dem Nachbarn das T-Shirt an- und sodann sich selbt die Lippen zerschneidet, erkenne ich Delanas Wahrnehmungsschwäche nicht, weil ich mit anderen Dingen beschäftigt bin.
    Kleinere Gruppen und 2. Pädagogin und Teilungsraum --> Dann kann es funktionieren.
    Die Organisation ist allen allein überlassen, das kommt hinzu, aber da haben sich inzwischen viele "durchgewurschtelt".
    Die Materialien erscheinen erst so nach und nach, aber auch da fühle ich mich im Moment "durchgewurschtelt". Ich habe sehr sehr viel Geld in Materialien investiert und z.B. auch Förderschulhefte, aus denen ich mal was für die ehemals lernbehindert gewesen wärenden Schüler kopiere. Nur: Die arbeiten da nicht selbstständig dran, die haben nämlich meist noch Konzentrationsschwächen und sind demotiviert, wenn sie bis 3 und der Nachbar bis 10 rechnet. Und da scheidet sich die Theorie von der Praxis, denn in der Theorie arbeiten sie alle beide fleißig, still und ohne jemandem weh zu tun.
    In der Theroie arbeiten auch 20 Kinder fleißig, still und selbstorganisiert, während ich 8 vorne im Stuhlhalbkreis einen neuen Lerninhalt erkläre.


    Ein Umfang von 20 % der Unterrichtszeit jahrgangsgemischt könnte ich mir auch vorstellen. Die momentanen 60 % gemischter Unterrichtszeit, die sich automatisch erhöht, sobald Vertretung anfällt und dadurch Teilungsgruppen zusammengelegt werden (also fast immer) sind für unser Einzugsgebiet zu viel.

    SCHOKOEIS!


    Ich lese und schreibe nach dem Paretoprinzip.

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