Lateinische Wortkunde für Anfänger und Fortgeschrittene

  • Dieses Wortverzeichnis erhebt den Anspruch, dem Lateinlerner den Grundwortschatz an die Hand zu geben, der für die Lektüre der wichtigsten Autoren in Prosa wie Lyrik notwendig ist. Die Auswahl der aufgenommenen Begriffe wurde mit statistischen Methoden getroffen, der Verfasser schreibt im Vorwort, dass so viele Wörter aufgenommen seien, dass "rund 95% eines Textes verstanden werden können." Ich habe zwar meine Zweifel daran, dass sich ein Textverständnis tatsächlich am semantischen Verständnis der einzelnen Wörter messen lässt, aber dass der Zugang zu Originaltexten nur über ein vorstrukturiertes und eingeschränktes Lernvokabular erfolgen kann, ist natürlich unbestritten.


    Das Vokabelverzeichnis bietet die ungefähr 4500 Einträge in einer alphabetisch sortierten Liste von Stichworten an, wobei unter vielen Stichworten Lexem- und Morphemfelder angefügt sind; um ein Beispiel zu nennen, unter "agere, egi, actum" finden sich auch Begriffe wie "agere equum/praedam", "acta, actorum", "agilis", "adigere", "exigere" etc. Diese Art der Sammlung über die unmittelbare Wortart hinaus ist die große Stärke dieses Wortverzeichnisses, da sie dem Lerner die Transformationsmöglichkeiten lateinischer Worte und die Bedeutungsvielfalt, die daraus erwächst, anschaulich aufzeigt. Hier kann das Verzeichnis eine ausgezeichnete Grundlage für eigene Wort- und Sachfelder legen, die mit weiterführender Lexikonarbeit erweitert werden.


    Die Wortliste ist dreispaltig angelegt, die erste Spalte gibt auf eine etwas mathematisch verklausulierte Weise an, für welche Autoren der Begriff von besonderer Relevanz ist. In der zweiten und dritten Spalte finden sich lateinische Begriffe und deutsche Übersetzungen. Dankenswerterweise sind nicht sofort eingängige Vokabellängen und -kürzen angegeben und es finden sich Hinweise zu Deklination und syntaktisch abhängigen Fällen. In den Übersetzungen werden regelmäßig Angaben zu Wortentwicklungen in neueren Sprachen gemacht. Etymologische Angaben, leider oft bis an die Grenze der Aussagelosigkeit knapp gehalten, finden sich im Anmerkungsapparat.


    Zusätzlich zur eigentlichen Wortliste bietet die Wortkunde zwei Anhänge. In den sehr aufschlussreichen und wertvollen "Grundzügen der Wortbildung" wird die Bedeutung lateinischer Affixe erläutert und jeweils an einem Beispiel gezeigt, z.B. das Suffix -eus, das, an ein Nomen angehängt, ein Adjektiv erzeugt, das Stoff, Farbe und Art beschreibt: aurum -> aur-eus. Diese Erläuterungen sind für den Lateinlerner sehr hilfreich. Weniger klar ist der Sinn des nächsten Anhangs, "Zum Fortleben der lateinischen Wörter", der den Anteil des lateinischen Wortschatzes in der allgemeinen (west)europäischen Sprachgeschichte aufzeigen will. Erstens beschränken sich die Angaben außerordentlich eklektisch auf das Sprachentrio Französisch, Englisch, Deutsch, was sprachhistorisch fragwürdig ist. Für den Neuphilologen bzw. den philologisch schon Bewanderten sind die zweieinhalb Seiten langen Ausführungen aufgrund ihrer Knappheit trivial, für den allgemein Interessierten ohne philologisches Wissen ebendeshalb schwer verständlich. Die Zielgruppe ist bestenfalls der Sprachstudent, der schon ein oder zwei propädeutische Veranstaltungen hinter sich gebracht hat, für mein Verständnis eine etwas eingeschränkte Zielgruppe. Sehr wertvoll ist dagegen das beigefügte Register, das die Suche nach schwer zu erkennenden Ableitungen und Zusammensetzungen erleichtert. ("annona" aus "annus", "-cidere" aus "caedere" etc.)


    Zusammenfassend muss ich sagen, dass die Lateinische Wortkunde gemischte Gefühle bei mir hinterlässt. Als Sprachlehrer frage ich mich, wie man eigentlich mit einem alphabetischen Wortverzeichnis Vokabeln lernen soll. Wenn ich die Begriffe nach Bedarf nachschlage, und in einer selbst erstellten Lernkartei umwälze, tut es auch ein normales Wörterbuch; bestenfalls sind dabei die hier aufgelisteten Wortfelder sinnvoll, die Angaben, zu welchem Grundwortschatz ein Begriff gehört, dagegen vollkommen sinnlos. Wenn ich umgekehrt die Liste alphabetisch durchgehe und die Vokabeln nach den statistischen Angaben erarbeite, habe ich zwar ein Lernvokabular, das auf meine Lektüre zugeschnitten ist, muss aber alphabetisch "auf Vorrat" lernen, ein Vorgehen, das weder lernpschychologisch noch sprachdidaktisch sinnvoll ist.


    Aus diesem Grund kann ich das Verzeichnis trotz der genannten Stärken nur als bedingt empfehlenswert bezeichnen.

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