• Zitat

    Original von Nighthawk:
    Da verstehe ich sehr gut, dass man ab und zu mal einfach die Empfehlung vergibt, weil man weiß, dass die Eltern sich sonst sowieso über sie hinweg setzen, man sich aber damit viel Arbeit und Streit erspart.


    Und wie genau meinst du das jetzt? In Bayern zählen für den Übertritt ausschließlich die Noten. Ich könnte einem Kind auf zwei Seiten Übertrittszeugnis attestieren, dass es absolut nichts kann, sobald aber der Durchschnitt 2,33 auftaucht, muss ein Gymnasium das Kind auch nehmen. Bei uns an der Schule ist es auch nicht üblich mündliche Noten nach Gefühl, Sympathie oder nach Druck der Eltern zu vergeben. Wir benoten Dinge wie Referate, Vorrechnen vor der Klasse, Erklären von Regeln, etc. Die Kriterien nach denen die Noten entstehen, sind den Kindern klar und richten sich rein nach der Leistung des zu bewertenden Kindes. Da kann ich also nichts drehen und Eltern können sich auch nicht über etwas hinwegsetzen.
    Letztendlich ist es so, dass sich Eltern und Kinder nur noch auf die Fächer D/M/HSU stürzen. Das sind bei uns 15 Wochenstunden, der Rest zählt nicht. Freizeitaktivitäten werden abgeschafft, das Kind bekommt täglich Hausaufgabenbetreuung durch die Mutter und zusätzlich noch 2-3 mal Nachhilfe in der Woche. Gelernt wird auch am Wochenende und teilweise auch am Morgen beim Frühstück. Ende April hat man dann als Ergebnis dreimal die bessere Note knapp erreicht und am Ende gibt es die 2,33. Nach einem halben Jahr sind die Kinder am Gymnasium: Das Tempo steigt, die Wochenstunden ebenso, es gibt Nachmittagsunterricht, es reicht nicht mehr nur auf 3 Fächer zu lernen. Dass die Kinder, die auf diese Art und Weise übertreten, meistens auch scheitern, wundert mich nicht. Wir haben mittlerweile Übertrittsquoten von über 80%. Und ich bin auch der Meinung, dass viele der Kinder, die auf Gymnasium oder Realschule wechseln, dort absolut nicht hingehören.


    Aber wir an der Grundschule können das leider nicht verhindern.


    Dass sich die Lehrer auch ab der fünften Klasse mit sinnlosen Dingen umherschlagen, ist mir klar. Es kann ja nicht auf einmal besser werden. Den gleichen Wahnsinn haben wir auch. Hier mal ein kleiner Auszug:


    - Es dauert ca. 2 Wochen bis alle geforderten Hefte gekauft werden. Ist ja nicht so wichtig, das kaufen wir, wenn es gerade zeitlich passt.
    - Ein Kind kommt nach den Ferien mit einem Federmäppchen in die Schule, das seinen Namen kaum verdient. Das zu kontrollieren wäre Arbeit, die man sich dann doch nicht machen möchte.
    - Man jammert den Lehrern vor, dass das Kind durch sein ADHS gar so ein schweres Leben hat. Auf die Idee, die Elternbriefe auch an sich zu nehmen und nicht ein halbes Jahr in der Mappe des Kindes zu lassen (bis dieses sich gar nicht mehr auskennt), kommen sie aber nicht. Man hat ja eine Entschuldigung warum das beim Kind nicht klappt. Und alles andere wäre unangenehme Arbeit.
    - Jegliche Anstrengung wird vom Kind ferngehalten. In der Schule sollen wir das Kind jedoch dazu bringen, Höchstleistungen zu erbringen.
    - HA werden bei uns grundsätzlich notiert. Bei den Problemkindern kontrolliere ich das auch. Allerdings kontrolliert zu Hause niemand, obwohl vorher zugesichert.


    Und die Liste ließe sich endlos fortsetzen.



    Was ich in dem ganzen Übertrittswahn nicht ganz verstehe: Das KM arbeitet doch anscheinend hartnäckig daran, noch mehr Kindern den Übertritt zu ermöglichen:


    - Übertritt auf die RS jetzt auch mit 2,66 und gleichzeitig zwei Dreien in D/M
    -Proben werden angesagt
    -Die Liste mit den Inhalten, die nicht im Probeunterricht abgeprüft werden, ist länger denn je.


    Kann der Übertritt dann nicht gleich durch den Elternwillen erfolgen? Ich weiß, den Lehrkräften von Gym/RS stehen jetzt die Haare zu Berge. Und das zu Recht. Aber es würde bei uns an der Grundschule keinen großen Unterschied mehr machen. Es tritt jetzt fast eh jeder in Gym/RS über und den Kindern und auch mir würde man eine Menge Stress ersparen.


    So, jetzt habe ich mich unbeliebt gemacht, warte auf Schläge. ;)




    Bibo

  • Boeing, Nighthawk: Zwei sehr schöne Beiträge, denen ich uneingeschränkt zustimme.


    Nur: Ich befürchte, solche Beobachtungen und Argumente werden die Bildungspolitik nicht stören, in ihrem Kreuzzug auf dem Weg zur Einheitsschule. Man sieht ja aktuell in Hamburg, dass Politiker ihr Geschwätz von gestern nicht stört, wenn es um die Machterhaltung geht. Und das aktuelle und zukünftige Thema heißt nun einmal "soziale Gerechtigkeit". Überspitzt formuliert: Gerecht ist, wenn jeder das Abitur erhält. Dass dieses dann nichts mehr Wert wäre, steht auf einem anderen Blatt. Aber ist halt gut für die OECD-Quote...


    Wenn man die Einheitsschule will (und das haben NICHT wir als Lehrer und Lehrerinnen zu entscheiden!), dann muss man auch klar sagen, was die Konsequenzen wären:


    Entweder man senkt gleichzeitig die Anforderungen und erhält das, was wir in vielen Bundesländern als Gesamtschule kennen. Dann hat man die Differenzierung nur nach innen verschoben, jedenfalls für die Fächer, die diese Gesellschaft für "wichtig" hält, und beruhigt sich damit, dass alle in Sport und Kunst gemeinsam lernen... (nicht gegen die Sport- und Kunstlehrer). Gleichzeit hat man anonyme Massenschulen, die man braucht, damit das mit der inneren Differenzierung funktioniert.
    Ergänzung: Folge würde dann auch ein Boom bei den Privatschulen sein, von denen wir gemäß OECD-Statistik auch zu wenige haben...


    Oder man investiert massiv in Bildung und verkleinert die Lerngruppen. So bei ca. 15 Schülern und Schülerinnen pro Kurs traue ich mir auch eine sinnvolle Binnendifferenzierung und individuelle Lernbegleitung zu, aber nicht bei 30+ Schülern und Schülerinnen. "Problemfälle" müssten dann a la Finnland noch extra gefördert werden. Aber ich bezweifle, dass man in Deutschland soviel Geld für Bildung ausgeben will, trotz des Merkelschen "10% vom BIP"-Zieles (das ja Forschungssubventionen an Unternehmen, die Hochschulen und die privaten Bildungsausgaben mit enthält).


    Aber realistischerweise wird es (wie immer) nach dem üblichen Schema ablaufen: Bildungspolitiker und -experten werden ihr Konzept durchdrücken, und wenn es (erwartunsgsgemäß) wieder nicht funktioniert, ist auch wieder klar, wer Schuld hat...


    Gruß !

    Mikael - Experte für das Lehren und Lernen

    Einmal editiert, zuletzt von Mikael ()

  • Zitat

    Original von Bibo
    In Bayern zählen für den Übertritt ausschließlich die Noten. Ich könnte einem Kind auf zwei Seiten Übertrittszeugnis attestieren, dass es absolut nichts kann, sobald aber der Durchschnitt 2,33 auftaucht, muss ein Gymnasium das Kind auch nehmen. Bei uns an der Schule ist es auch nicht üblich mündliche Noten nach Gefühl, Sympathie oder nach Druck der Eltern zu vergeben. Wir benoten Dinge wie Referate, Vorrechnen vor der Klasse, Erklären von Regeln, etc. Die Kriterien nach denen die Noten entstehen, sind den Kindern klar und richten sich rein nach der Leistung des zu bewertenden Kindes. Da kann ich also nichts drehen und Eltern können sich auch nicht über etwas hinwegsetzen.


    Mag sein, ich habe auch andere Grundschullehrer kennen gelernt - denen ich wie gesagt aber nicht einmal einen Vorwuf mache. Aber anders gefragt: Wenn das Kind nix kann, wieso hat es dann 2,33 :)?


    Und es zählen eben nicht ausschließlich die Noten - wenn auch aus der anderen Richtung. Hat das Kind nicht die entsprechenden Noten gibt es noch einen gewissen Spielraum für den Elternwillen (von daher gibt es eben einige Grundschullehrer in meinem Bekanntenkreis, die sich im Falle einer Note, die den Übertritt nicht sofort ermöglicht, über die die Eltern sich aber hinweg setzen könnten, sich den Stress mit den Eltern ersparen wollen und lieber mal eine gute Note zu viel geben).


    Zitat


    Letztendlich ist es so, dass sich Eltern und Kinder nur noch auf die Fächer D/M/HSU stürzen. Das sind bei uns 15 Wochenstunden, der Rest zählt nicht. Freizeitaktivitäten werden abgeschafft, das Kind bekommt täglich Hausaufgabenbetreuung durch die Mutter und zusätzlich noch 2-3 mal Nachhilfe in der Woche. Gelernt wird auch am Wochenende und teilweise auch am Morgen beim Frühstück. Ende April hat man dann als Ergebnis dreimal die bessere Note knapp erreicht und am Ende gibt es die 2,33. Nach einem halben Jahr sind die Kinder am Gymnasium: Das Tempo steigt, die Wochenstunden ebenso, es gibt Nachmittagsunterricht, es reicht nicht mehr nur auf 3 Fächer zu lernen. Dass die Kinder, die auf diese Art und Weise übertreten, meistens auch scheitern, wundert mich nicht. Wir haben mittlerweile Übertrittsquoten von über 80%. Und ich bin auch der Meinung, dass viele der Kinder, die auf Gymnasium oder Realschule wechseln, dort absolut nicht hingehören.


    Völlige Zustimmung



    Und das wirklich Erschreckende: Das geht bis in die 6. Klasse so - auch meine SuS in der 5. haben längere Zeit nicht die Arbeitsmaterialien (Hefte, Schreibsachen), die sie bräuchten. Workbooks für den Englisch-Unterricht besorge ich schon sicherheitshalber selber, strecke die 300 Euro vor und warte einen Monat oder länger, bis der/die letzte das Geld mitbringt.
    Elterninfos werden nicht gelesen - und dass manche Eltern jede Anstrengung vom Kind fernhalten und auch selbst vermeiden hab ich ja schon geschrieben.

  • Holla, interessante Meinungen zu dem Thema! Ich glaube, hier im Thread bekommt man eher Schläge, wenn man sich mehr soziale Gerechtigkeit wünscht. ;)


    Ich glaube, Meike hat es sehr schön auf den Punkt gebracht: Es herrscht hierzulande immer noch eine wahnsinnig große Angst davor, dass sich Bildungsunterschiede verwischen könnten.
    Ist Bildung nichts mehr wert, wenn sie alle haben? Ist das Abitur nur deswegen weniger wert, weil man mehr Menschen dazu befähigt es zu erhalten? Werden die Anforderungen deswegen geringer, nur weil man mehr Kinder so fördert, dass sie sie erreichen können?
    Und wird der Begriff Einheitsschule deswegen so gerne verwendet, weil er impliziert, dass man alle Kinder gleich macht?


    Ich unterrichte derzeit an einer Förderschule, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein sehr gutes Förderprogramm entwickelt hat und ich denke, wir fördern unsere Schüler optimal. Ich möchte meine Schüler auf keinem Gymnasium wissen und ehrlich gesagt auch nicht mal an einer der mir bekannten Gesamtschulen. Sie würden dort allesamt untergehen und bekämen nicht die gleichen Chancen wie bei uns, das ist absolut klar. Insofern kann ich Boeings Statement absolut nachvollziehen.


    Aber ich denke wir müssen noch einen Schritt weiter denken: Was wäre, wenn wir alle Schüler so optimal fördern könnten und dabei den ganzen Förder-, Haupt- und Realschülern und auch Gymnasiasten den Druck ersparen können, den sie jetzt von außen kriegen? Selbst diejenigen, die bereits in unsere Vorklasse eingeschult wurden, spüren irgendwann die Stigmatisierung der Gesellschaft. Und das, obwoh sie an unserer Schule die besten Zukunftsaussichten haben - wir vermitteln etwa 70% unsere Schüler in den ersten Ausbildungsmarkt! Welche Haupt- und Realschule kann das schon von sich behaupten?
    Ich sehe auch das wie Meike: Unserem Schulsystem geht es um den Stempel auf der Stirn. Und das spürt jedes Kind früher oder später, völlig unabhängig davon, wie sehr man darum bemüht ist, das Selbstwertgefühl der Schüler aufzubauen und egal, wie gut die Zukunftsperspektiven der Schüler tatsächlich sind.


    Und was auch jede Studie immer wieder deutlich zeigt: Unser Schulsystem baut sich auf sozialen Unterschieden auf! Und genau das ist der Punkt, der mir am größten Bauchschmerzen bereitet.
    Überlegt doch mal selbst: Wollt ihr euer eigenes Kind auf einer Hauptschule haben? Nein, ich will noch nicht mal, dass mein Kind eine Realschule besuchen muss. Und nicht, weil ich es automatisch für so klug und begabt halte, sondern weil ich einfach Angst vor den sozialen Unterschieden habe! Ich weiß doch ganz genau, dass mein Kind andere Kontakte, ein ganz anderes Umfeld haben wird, wenn es auf dem Gymnasium sein wird. Es wird zu einem anderen Teil der Gesellschaft gehören und genau aus diesem Grund will doch logischerweise jeder, dass sein Kind diese Chance bekommt.


    Ich habe noch keine Ahnung, welche Begabungen mein Sohn hat und ich habe keine Ahnung, welche Richtung er beruflich irgendwann einschlagen wird. Dabei ist mir aber eigentlich auch völlig gleich, ob er nun irgendwann auf einem C4-Lehrstuhl für Mathematik sitzen oder ölverschmiert unter einem kaputten Auto liegen wird, solange er zu einer Persönlichkeit heranreift, die weiß, was sie kann und weiß, was sie will. Er soll ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln können, natürlich auch lernen mit Frustrationen umzugehen und selber dann bewusst den Weg einschlagen können, der für ihn der Richtige ist.
    Durch unser dreigliedriges Schulsystem sehe ich das derzeit aber nicht gegeben! Es wird meinen Sohn prägen, wenn er sich hier an der nächstgelegenen Gesamtschule behaupten muss, inmitten einer riesengroßen Schülerschar mit bildungsferner Elternschaft. Es wird ihn prägen, wenn er an einer Hauptschule landet, egal wie gut diese auch sein mag und egal, wie gut seine Zukunftsaussichten dort auch sind, wenn er mit eben den Schülern gemeinsam lernen muss, die auch ich unterrichte! Und es wird keinen verwundern: Die einzigen Elternteile meiner Schüler, die ein Gymnasium jemals von innen gesehen haben, sind die türkischen Putzfrauen.


    Ganz davon abgesehen: Wer ist in der Lage zu entscheiden, welche Begabungen mein Sohn hat, nur weil er aus den verschiedensten Gründen vielleicht in der Grundschule Probleme haben mag und deswegen nicht auf irgendwelche geforderten Mindestnoten kommt? Es ist doch eine völlige Illusion zu glauben, dass man anhand dieser Standards herausfiltern kann, in welche Richtung sich ein Kind entwickelt.


    Aber das will eben auch keiner. An sozialen Unterschieden rüttelt man besser nicht. Also hat eben das Arbeiterkind aus einem bildungsfernen Elternhaus gelitten, wenn es am Ende der 4. Klasse nicht auf dem gleichen Stand ist wie das behütete Akademikersöhnchen, das jeden Abend von seinen Eltern den Ranzen gepackt kriegt. Da soll es mal schön auf die Hauptschule gehen und einen handwerklichen Beruf erlernen. Schließlich hat's ja offensichtlich nicht so viel im Kopf.
    So gesehen brauche ich mir also gar nicht mal so viele Gedanken machen, dass mein Kind Gefahr läuft nicht auf's Gymnasium zu kommen. (Und ganz ehrlich: Dieser Gedanke beruhigt mich tatsächlich!)
    Interessanterweise hat das ja auch die Grundschullehrerin in der Doku bestätigt: Ihre beide Kinder packen natürlich problemlos das Gymi. Das muss natürlich allein an ihrer angeborenen Intelligenz liegen, klar. :D


    So, jetzt dürft ihr mich schlagen ob meines unpopulären sozialen Gedankenguts. :D


    LG
    Mia

    Man soll denken lehren, nicht Gedachtes.
    (Cornelius Gustav Gurlitt)

    3 Mal editiert, zuletzt von Mia ()


  • Auch dir liebe Grüße, (mit der ganzen Schlagerei will ich nichts zu tun haben, ich muss die Kenntnisse aus meinem Ersthelferkurs nicht hier im Forum bei den lieben Mitdiskutanten und -onkeln ausleben :D)
    Boeing


    Edit: Besseres Kennzeichnen der Zitate.

  • Mia:
    Natürlich willst du für deine Schüler und Schülerinnen das Beste. Und es wäre schön, wenn jeder Lernende überall nach seinen individuellen Möglichkeiten gefördert werden würde.


    Aber glaubst du wirklich, dass in einer "Einheitsschule" dieselben Rahmenbedingungen (Personal und Lehrpläne/Curricula) herrschen würden wie in einer Förderschule/Sonderschule?


    In der Sekundarstufe 1 (Klassen 5 bis 10) meines Gymnasiums sind Klassen von um die 30 Schüler und Schülerinnen die Regel. Padägogisches Unterstützungspersonal gibt es keins. Räumliche Differenzierungsmöglichkeiten gibt es auch keine, inbesondere jetzt nicht, wo die Schule wegen des doppelten Abiturjahrgangs aus allen Nähten platzt. Andauernd fehlen in irgendwelchen Räumen sogar Stühle und Tische. An sonstigem Personal gibt es 3 Stellen (Hausmeister, Techniker und 1 Sekretariatsstelle) für über 1000 Schülerinnen und Schüler.


    Die Lehrpläne wurden zwar etwas entrümpelt und heißen jetzt in der Sekundarstufe 1 "Kerncurricula", aber wirklich wegfallen ist bei uns fast nichts. VIelleicht liegt es auch daran, dass wir uns als Schule nicht trauen, in den "schulinteren Curricula", die wir erstellen sollen, großzügig alles zu streichen, was wir für entbehrlich halten. Aber dies passiert nicht, ein Grund ist sicherlich, dass diese "Kerncurricula" in dem Sinne eine Mogelpackungs sind, als dass in der Sekundarstufe II (die sich im G8 ja vor allem dadurch auszeichnet, dass die "Pufferzone" Klasse 11 weggefallen ist) immer noch die EPAs gelten, auf die wir als Gymnasium Rücksicht nehmen müssen. Dazu kommt das "unkalkulierbare" Zentralabitur, dass mit schöner Regelmäßigkeit die Schwerpunkte ändert. Kurz: Man traut sich nicht in der Sek 1 radikal zu streichen, da es sich in der verkürzten Sek 2 rächen könnte.


    Meine Befürchtung deshalb: Wenn man die Schulformen zusammenlegt, wird die billigste Lösung herauskommen. Individuelle Förderurng kostet nun einmal Geld. Es reicht nicht, dies als Praämbel ins Schulgesetz zu schreiben und dann zu sagen: "Nun macht mal schön." Das geht garantiert schief.


    Gruß !

    Mikael - Experte für das Lehren und Lernen

  • Zitat

    Original von Mia
    Ich glaube, Meike hat es sehr schön auf den Punkt gebracht: Es herrscht hierzulande immer noch eine wahnsinnig große Angst davor, dass sich Bildungsunterschiede verwischen könnten.
    Ist Bildung nichts mehr wert, wenn sie alle haben? Ist das Abitur nur deswegen weniger wert, weil man mehr Menschen dazu befähigt es zu erhalten? Werden die Anforderungen deswegen geringer, nur weil man mehr Kinder so fördert, dass sie sie erreichen können?
    Und wird der Begriff Einheitsschule deswegen so gerne verwendet, weil er impliziert, dass man alle Kinder gleich macht?


    Ich denke, ja. Allerdings meine ich nicht, dass es darum geht, dass sich Bildungsunterschiede verwischen, sondern dass sich Gesellschaftsunterschiede verwischen. Die Schule ist in Deutschland traditionell ein enorm starkes Regulativ, um die Schichtenverteilung zu erhalten - die Zahlen, die zeigen, wer auf das Gymnasium geht und wer auf die "Restschulen", und wie in Deutschland Bildungsabschlüsse vererbt werden, sprechen für sich. Dass es nicht nur darum geht, das "mein Kind die besten Chancen haben soll", sondern dass da auch eine ganze Menge von "mein Kind soll vor denen da jenseits des Jägerzauns beschützt werden", hört man sehr schnell, wenn man Gesamtschuldiskussionen vor Ort mit Eltern aufmerksam verfolgt...


    Nele

    • Offizieller Beitrag

    Mia, wieder mal full ack.


    Allerdings bin ich auch gegen eine "Einheitsschule" - meine Traum-Vorstellung ist noch radikaler und beinhaltet konzeptuelles Umdenken, das sich bisher noch gar keine Partei oder Gewerkschaft oder sonstwer zu denken traut : Das Falscheste vom Falschen ist m. E: ein "Lehr-Dogma". So und NUR so muss guter Unterricht / gute Schule sein.
    Unterricht muss eigentlich so verschieden sein, wie die Kinder und Jugendlichen. So lange wir verdonnert sind, im 45-Minuten-Takt im Gleichschritt zu marschieren (und die Kriterien immer enger statt weiter gesteckt werden, Testeritis, Vergleicherei), werden wir alle nicht glücklich und selbst der aller-engagierteste und kompetenteste Lehrer kann es nicht allen recht machen oder jeden nach seinem Potential fördern, im besten Fall nur möglichst oder einigermaßen vielen. Der beste Fall ist aber an vielen Schulen mangels Unterstützung nicht gegeben.


    Am besten wären flächendeckend genügend unterschiedliche Angebote - vom themenbezogenen jahrgangsübergreifenden Blockunterricht über Kleinstgruppen-förder-oder-forderunterricht bis zu selbstbestimmten Gruppen mit Langzeitprojekten und Freiarbeit, Tutorengruppen für die Gemeinschaft neben experimentellen Projekten und Wissensweitergabe im Vorlesungsstil - an ein- und derselben Schule mit unterschiedlich ausgebildetem Personal unter einem Dach - vom Gymnasiallehrer über den Förderschullehrer bis zum Schulpsychologen und netten Betreuungs-Opi und seinem Enkel, dem Sporttrainer :) .


    M.E. müssen Unterrichts- und Schulformangebote so vielfältig sein, wie es Arten von Kindern gibt - und die Abschlüsse (ohne feste Zeitvorgaben, jedes Kind, wenn es halt "so weit ist") dürften nicht mehr von den Schulen vergeben werden, sondern durch zentrale Tests oder Einstellungstests, so dass Unterricht und Lernen erstmal frei von Testeritis, Lernen-für-die-Noten-und-nur-für-die-Noten und Leistungsdruck stattfindet - mit einer dann ganz anderen Vertrauensbasis zwischen Lehrern, Schülern und Eltern - und die Betriebe und Unis individuell nach den Leistungen und nicht nach den ohnehin total zweifelhaften Noten gehen könnten /dürften / müssten.


    Freie Unterrichtsformen in einem restriktiven Schulsystem sind ganz nett, ich praktiziere sie auch wo immer möglich, stoßen aber auf Grenzen und harte Phasen der Ernüchterung für alle Beteiligten (Schüler UND Lehrer), wenn der Rest der Gesellschaft eigentlich nur für den Arbeitsmarkt fertig gelabelte und vorsortierte Produkte will.


    Die aktuellen politischen Diskussionen über marginale Veränderungen am bestehenden System sind meiner Meinung nach eh Zeitverschwendung... eine wirksame Veränderung müsste recht radikal sein. Und das traut sich bisher keine Partei und noch nicht mal die Gewerkschaften - selbst meine eigne diskutiert da m.E. zum Teil am Thema vorbei.


    Über entsprechende Personalkosten und räumliche/sachliche Gegebenheiten und Umdenken im Gesamtkonzept Schule brauch ich ja jetzt nicht zu reden - kriegen wir in absehbarer Zeit nicht. Ist auch noch nicht Wählerwunsch. Wir wollen die Fertigprodukte ja, die wir aus einst lern und wissbegierigen Kindern machen: denn die lassen sich später genauso praktisch locken und verwursten. Pimp my class... ;)

  • Zitat

    Original von Meike.
    Pimp my class... ;)


    Oh yeah .... c'm on! I'd love it. :handschlag:

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

  • Ja, ich mach mal wieder mit beim Hand reichen: Meike bringt's schon wieder auf den Punkt. :D


    Ich sehe das ähnlich, wenngleich ich aber schon denke, dass auch marginale Veränderungen uns weiterbringen. Aber diese Veränderungen müssen vor allem erstmal in den Lehrerköpfen anfangen. In Lehrerköpfen, die sich nicht hinter dem System verstecken und es sogar noch in bester Beamtenmanier auf die Spitze treiben, wie so schön im Filmchen vorgeführt.
    Und Lehrer, die von einer Sache überzeugt sind, können auch bei ihrer Elternschaft etwas bewirken. In die eine wie in die andere Richtung.


    Natürlich kann ich als Lehrer nicht die Welt verändern, aber ich kann Lücken im System nutzen. Wenn man sich dann noch schulintern nach Gleichgesinnten umschaut, kann man schon einiges erreichen.
    Manchmal reicht auch ein Blick auf die Schulen, die verschiedene Preise und Auszeichnungen erhalten. Interessanterweise sind das nämlich meistens die, die sich eben gerade durch Abweichungen vom System und von der Regel hervortun.
    Und man muss laut werden und öffentlich einfordern, was man will und was man dafür braucht. Natürlich wird man das nicht sofort bekommen, vieles sicher in absehbarer Zeit gar nicht. Aber es muss deutlich werden, worum es geht und zumindest die Richtung muss stimmen. Schon allein, damit sich die Situation nicht permanent weiter verschlechtert in dem Bestreben alles so zu machen, wie es früher einmal war.
    Wie aktuell jetzt wieder in Hessen: Die Reduzierung der Schulsozialarbeit. Das steht mal als Randnotiz in der Frankfurter Rundschau. Keiner kriegt's mit, keinen interessiert's. Warum auch, Kinder, die auf ihrer aktuellen Schule aus welchen Gründen auch immer nicht zurecht kommen, gehören da halt nicht hin. Weg mit ihnen, es können ja schließlich nicht alle Abi machen.


    Aber soweit, dass wir überlegen können, wie wir etwas verändern, sind wir denke ich gar nicht. Wie auch Meike sagt: Ein Systemwechsel ist bislang nicht gewollt. Weder von Eltern und eben auch nicht von einem Großteil der Lehrerschaft. Und selbst die Parteien, die sich Bildungsreformation auf die Fahnen geschrieben haben, können sich angesichts der öffentlichen Meinung zu dem Thema nicht sehr weit aus dem Fenster lehnen.
    Solange ein Systemwechsel nicht vehement von nur irgendeiner Seite lautstark eingefordert wird, wird sich am System nur wenig ändern. Oder es werden wieder mal nur halbherzige Änderungen hinterrücks eingeführt, die aber nicht mehr als Sparlösungen sind und von niemandem getragen werden. Die aktuelle Inklusionsdiskussion lässt grüßen. Und soweit ich weiß ist Hessen auch eines der letzten Bundesländer, welches die Hauptschulen noch nicht abgeschafft hat. Frau Henzler arbeitet aber dran, von daher müssen wir uns nicht sorgen.


    Dennoch ist das keineswegs ein Weg, den ich für erstrebenswert halte. Aus oben genannten Gründen wird dieser Karren genauso in den Sand gesetzt wie die halbherzige Gesamtschuleinführung in den 80ern.


    Wenn ich die Diskussion zu dem Thema verfolge und teilweise auch die Beiträge hier lese, habe ich manchmal aber auch einfach den Eindruck, dass die Idee eines einheitlichen Schulsystems von der breiten Masse noch gar nicht verstanden worden ist. Oder ist es die Angst vor der Idee und damit einhergehend das Nicht-Verstehen-Wollen?
    Der Knackpunkt, der in jeder Diskussion zu diesem Thema auftaucht ist der Vorwurf, dass soziale Gerechtigkeit nur Gleichmacherei sei und auf Kinder nicht individuell eingegangen werden kann. Stichwort "Einheitsschule" eben.
    Dabei ist es doch gerade das Gegenteil: Unser gegliedertes Schulsystem leidet unter Gleichmacherei. Da gibt es vier verschiedene Schubladen und noch bevor ein Kind überhaupt kritisches Denken hat lernen können, steckt es schon in einer Schublade drin. Stempel drauf, Schublade zu und schon können wir uns beruhigt zurücklehnen, weil alles seine wohlbekannte Ordnung hat.
    Und einfacher macht es das Unterrichten ja außerdem: Da ja alle in einer Schublade gleich sind, braucht man auf individuelle Lernunterschiede ja nicht mehr allzu große Rücksicht nehmen. Wenn sich dann zeigt, dass ein Kind da wieder nicht reinpasst, dann muss es halt doch in eine andere Schublade. Die oberen Schubladen sind ja sowieso viel zu voll.


    Eine Gesamtschule dagegen erfordert natürlich massives Umdenken und vor allem eine gänzlich andere Herangehensweise. Weil man eben nicht sagen kann: "Der kann das nicht, der gehört nicht hierher." Jedes Kind muss individuell wahrgenommen werden, mit seinen Stärken und mit seinen Schwächen. Für jeden Schüler muss man das Beste wollen, dementsprechend muss der Unterricht gestaltet werden.
    Völlig klar, dass das mit der Art des Unterrichts, die wir bisher vorrangig umsetzen, nicht geht. Und auch völlig klar, dass man nicht weiterhin alle Kinder mit Vergleichstests durchstandardisieren kann. Braucht man aber auch nicht mehr, wenn es keine Schubladen zum Aussortieren mehr gibt.
    Und natürlich geht es nicht unter den Rahmenbedingungen, die man aus Gymnasien oder bisherigen Gesamtschulen kennt. Die Idee hinter der "Einheitsschule" ist ja nicht gerade die von finanziellen Einsparungen.


    Vielleicht wird deutlich, was ich meine. Eine Systemänderung kann nicht darin bestehen, einfach alle Schüler unter ein Dach zu packen und Gesamtschule vorne drauf zu schreiben. Eine Systemänderung reicht weit in alle Bereiche hinein. So weit, dass sie natürlich nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann. Und leider auch so weit, dass ich durchaus verstehen kann, wenn dem ein oder anderen beim Gedanken daran Angst und Bange wird.


    Jetzt ist mein Beitrag doch schon wieder so lang geworden, obwohl ich ja überlegt hatte, ob ich überhaupt noch mal antworte. Der böse Zeitfresser Forum mal wieder....^^


    LG
    Mia

    Man soll denken lehren, nicht Gedachtes.
    (Cornelius Gustav Gurlitt)

  • Mia, so irgendwie bereitet mir Dein Beitrag Bauchgrummeln. Er unterstellt nämlich den Lehrern, die NICHT für das System sind, das Dir vorschwebt, sie würden nur keine Veränderungen wollen, sich die Arbeit leicht machen oder hätten das System nicht kapiert.


    Ich würde mir wünschen, dass Fachleute (die wir im Bereich der Bildung sind) eine Diskussion über Fachfragen (dazu zähle ich das Bildungssystem) ohne ideologische Scheuklappen und die Unterstellung, dass die Gegenseite nicht auch das Beste für die Kinder will, führen können.



    Du verallgemeinerst das gegliederte Schulsystem genau so, wie es angeblich die Gegner der Gesamtschule mit derselben tun.


    Ich bin heute nach vier Stunden Konferenz gereizt, also habe ich evtl. Deinen Beitrag auch nur in den falschen Hals bekommen. Ich habe nach diesem Nachmittag auch nicht die Motivation, die Diskussion "gegliedertes Schulwesen" gegen "Einheitsschule" neu zu führen ... daher nur ein Argument:


    Ich habe größte Bedenken bezüglich der realistischen Realisierbarkeit der Idee, dass an einer Einheitsschule jedes Kind individuell wahrgenommen werden und individuell bestens gefördert werden kann.

    • Offizieller Beitrag

    Nighthawk, du liest Mia falsch, wenn du meinst, sie rede von "der Einheitsschule" so wie sie tatsächlich umgesetzt werden würde, natürlich kostenneutral, wenn sich die eine oder andere Regierung jetzt dafür entschlösse. Mia und ich reden von einer ganz anderen Schule. Die es so noch gar nicht gibt. Wie sie ja hier sagt:

    Zitat

    Vielleicht wird deutlich, was ich meine. Eine Systemänderung kann nicht darin bestehen, einfach alle Schüler unter ein Dach zu packen und Gesamtschule vorne drauf zu schreiben. Eine Systemänderung reicht weit in alle Bereiche hinein. So weit, dass sie natürlich nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann. Und leider auch so weit, dass ich durchaus verstehen kann, wenn dem ein oder anderen beim Gedanken daran Angst und Bange wird.

    DASS das hervorragend funktionieren kann, wenn es NICHT kostenneutral gestaltet wird, machen uns Länder wie Finnland und noch so einige ja vor. Guck mal nach der burnout-Rate finnischer Lehrer... ich glaub, die kennen das Wort gar nicht.


    Ich denke, an den Fakten, nämlich, dass wir im derzeitigen System immens viele dropouts, Schulversager, spätere Harz4-Empfänger und kaum noch Schüler produzieren, die mit dem Begriff Schule was Positives verbinden, lässt sich nicht mehr sehenden Blickes vorbei diskutieren (auch nicht, wenn's in der eigenen Schule im Großen und Ganzen gut läuft - ist bei mir auch so, aber ich verliere nicht den Blick für das Ganze).


    Im Übrigen stimme ich Mia (wir werden langsam zum mutual handshake club ;) ) völlig zu: die Angst vor Veränderung sitzt tief in den Deutschen, ganz besonders wenn es um Pfründe geht, um die Klassengesellschaft - deren Milderung gleich, wie bei den Amerikanern, mit dem Schreckgespenst "Sozialismus", "Gleichmacherei" und "Einheitsbrei" gleichgesetzt wird. Als ob Gerechtigkeit in irgendeiner Form jemals ein Wesenszug des real existierenden Sozialismus oder Kommunismus gewesen wäre, und als ob Gerechtigkeit was mit Einheitlichkeit zu tun hätte. Eher umgekehrt: in einem gerechteren Schulsystem würde die totale Unterschiedlichkeit von Schülern, die wir im jetztigen Schulsystem nämlich schön kostenneutral plattbügeln, endlich gewürdigt und könnte sich entfalten... dann hätten wir vielleicht auch mal bald wieder genug Mathematiker, die Examen machen, oder begabte Ingenieure, die wir dann nicht aus dem Ausland holen müssten, usw. Aus unseren Gymnasien kommen die nämlich neuerdings nicht mehr. :rolleyes: Und das liegt nicht an der zunehenden Blödheit der Schüler. Deren IQ ist nämlicj wie schon immer. Unterschiedlich.



    :) Meike

    • Offizieller Beitrag

    Mir bereiten Mias Beiträge auch ein wenig Bauchschmerzen. Ich sehe zwar, was dahinter steckt und würde es gut finden, aber ich weiß nun leider aus eigener wirklich schmerzvollen Erfahrung, was es wirklich bedeutet, wenn ein Bundesland beschließt, dass durchzuziehen, nämlich eine verlogene Sparmaßnahme: Hier in SH haben wir nun das Gymnasium (das sollte nicht angetastet werden) und den Pöbel. Nennt sich Regional- bzw. Gemeinschaftsschule. Unsere Schule wurde zu diesem Schuljahr zu einer Gemeinschaftsschule umgebaut. In den 4 neuen fünften Klassen haben wir mindestens 26 Kinder (das sind dann die i-Klassen) und in meiner Nicht-i-Klasse 29. In einem Raum für 20! Binnendifferenzierung ist nur bedingt möglich. Man kann nicht jedem Kind gerecht werden. Weder der nicht wirklich sprechenden Gymnasiastin noch den paar Realschülern, den restlichen Hauptschülern und den paar i-Kindern. Es ist eine Frechheit, diese sozialromantische "Wir sind alle gleich"-Geschichte auf dem Rücken der Kinder auszutragen. Jedes einzelne bekommt nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient hätte. Mir macht das Bauchschmerzen. Wirklich. Das Schuljahr ist erst sechs Wochen alt, und ich saß schon so manches Mal heulend am Schreibtisch. Und ich bin mit Leib und Seele Lehrerin. Ich möchte nichts anderes machen, aber das hier macht uns kaputt. Reihenweise fallen bei uns Kollegen aus. Und zwar nicht nur die Realschullehrer, von denen man vermuten könnte, dass wir einfach nicht gelernt haben, wie man differenziert (das ist es nicht, das können wir, aber hallo? für 29 Kinder??), sondern auch die Hauptschulkollegen, von denen man eigentlich mehr erwarten würde...


    Das haben die Kinder nicht verdient. Wenn finnische Systeme, dann bitte mit dem Geld und der personellen Aufstellung, die dazu gehört. Anders geht es nämlich nicht sondern wird gegen die Wand fahren. Solange diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, kann die Einheitsschule nicht funktionieren. Solange ist das viergliedrige Schulsystem das, was der Mehrheit (auch nicht allen, das weiß ich selbst) der Schüler gerecht werden kann.

  • Danke, Meike, für diesen netten Tippfehler, der mich zum Schmunzeln gebracht hat :) :


    Zitat

    Original von Meike.
    ...dass wir im derzeitigen System immens viele dropouts, Schulversager, spätere Harz4-Empfänger und kaum noch Schüler produzieren...


    Für die Gesellschaft sind diese Harz4-Empfänger ganz schöne Brocken... ;)


    Das hier gehört auch zu meinen Überzeugungen:


    Zitat

    Original von Meike.
    ...die Angst vor Veränderung sitzt tief in den Deutschen, ganz besonders wenn es um Pfründe geht...


    So denke ich bsw., dass das ein Kernproblem von Politik in Deutschland ist. Mögliche Veränderungen werden oft so lange in all ihren möglichen Konsequenzen diskutiert, dass man letztlich lieber beim Status Quo bleibt. Verweise aufs Ausland helfen da in der Regel überhaupt nicht.


    Außerdem möchte ich zu Bedenken geben:
    Gesellschaftlich sehe ich insg. derzeit eher die Entwicklung, sich abzugrenzen. Der Konsum entsprechender Statussymbole greift mehr denn je um sich (Flachbildschirme in Hartz4-Haushalten genau so wie der Boom von Luxusgütern in Zeiten der Wirtschaftskrise), in unseren (westlichen) Großstädten gruppieren sich Menschen mehr und mehr nach Vermögen und Nationalität...
    Da muss man erstmal vielen Eltern "verkaufen", warum eine gemeinsame Lösung in der Schule auch sinnvoll sein könnte.

    "Die Welt ist kein romantischer Ort mehr.
    Einige Menschen in dieser Welt sind es aber trotzdem noch.
    Und darin liegt die Hoffnung…
    Lass die Welt nicht gewinnen, Ally McBeal."

    Einmal editiert, zuletzt von BillyThomas ()

  • Zitat

    BillyThomas:
    Da muss man erstmal vielen Eltern "verkaufen", warum eine gemeinsame Lösung in der Schule auch sinnvoll sein könnte.


    Sorry, aber ICH muss niemandem etwas verkaufen. Als Lehrer bin ich zuallererst einmal ausführendes Organ. Die Bildungspolitik muss nach den falschen Versprechungen und Sparmaßnahmen der letzen Jahre erst erinmal ein glaubwürdiges Konzept haben, bevor ich mich für irgendeine neue "Reform" begeistern könnte. Es gibt ein paar sinnvolle Ansätze (z.B. Stärkung der Autonomie der Einzelschule)), aber eine unreflektierte, populistische Zusammenlegeung von Schulformen... da kein ich kein glaubhaftes Konzept erkennen, dass wirklich die Bildungsinteressen der Schüler und Schülerinnen sowie die Arbeitsbedinungen der Lehrkräfte verbessert.


    Nur ein Kurzzitat:

    Zitat

    jotto-mit-schaf:
    Ich sehe zwar, was dahinter steckt und würde es gut finden, aber ich weiß nun leider aus eigener wirklich schmerzvollen Erfahrung, was es wirklich bedeutet, wenn ein Bundesland beschließt, dass durchzuziehen, nämlich eine verlogene Sparmaßnahme


    So sieht's aus. Auch G8 ist eine verkappte Sparmaßnahme (gleiche Bildung in weniger Zeit). Und P6 (demnächst Hamburg, Berlin schon länger) ist zumindest in Hamburg ein fauler Polit-Kompromiss (der zudem automatisch zu G6 führt... soviel zum Leistungsdruck auf die Schüler und Schülerinnen). Die Beispiele für politisch induzierte, von Bildungsexperten aber als Weg in die bildungspolitische Glückselgikeit verbrämte Sparmaßnahmen sind Legion (das hessische U+ fällt mir da spontan auch noch ein).


    Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen von Bildungspolitik und -experten läuft alles auf eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft hinaus:


    McBildung für das Volk (in welchem Schulsystem auch immer)


    Haute Cuisine für die, die es sich leisten können. Das hat sogar schon das ZDF erkannt: http://www.zdf.de/ZDFmediathek/content/861784?inPopup=true


    Die Maginot-Linie der Zukunft verläuft nicht zwischem Gymnasium und Nicht-Gymnasium...


    Gruß !

    Mikael - Experte für das Lehren und Lernen

  • Obwohl ich der Gesamtschulidee ja wirklich auch einige sehr positive Seiten abgewinnen kann, teile ich Mikaels realpolitische Argumentation. Die Frage ist doch, was ist tatsächlich machbar und - vielleicht noch wichtiger - was ist durchsetzbar?


    Hierzu verweise ich auf einen sehr interessanten Artikel in der Badischen Zeitung http://www.badische-zeitung.de…ts-aendern--20033359.html


    Besonders interessant: Laut Forsa-Umfrage befürworten selbst Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss eine Zusammenlegung der Schulen nicht!

    • Offizieller Beitrag
    Zitat

    Wenn finnische Systeme, dann bitte mit dem Geld und der personellen Aufstellung, die dazu gehört.

    Na klar, anders können wir's gleich vergessen. Ohne dem Ganzen ordentlich Geld nachzuwerfen, können wir was auch immer für label draufkleben, es beibt immer derselbe Mist.

    • Offizieller Beitrag
    Zitat

    Original von Schubbidu


    Besonders interessant: Laut Forsa-Umfrage befürworten selbst Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss eine Zusammenlegung der Schulen nicht!


    Die Erfahrung habe ich auch in meinem persönlichen Umfeld gemacht.
    Wer mag sich schon gerne immer zeigen lassen, dass er irgendwo im hinteren Drittel (HS) hängt .....


    an vielen Hauptschulen müssen die Lehrer die Kinder erst mal richtig aufbauen und ihnen vermitteln, dass sie sehr wohl etwas zu leisten in der Lage sind. Besonders nötig war das zu Zeiten der Orientierungsstufe, da waren die Hauptschüler 2 Jahre lang frustriert worden.

  • Interessant, wie sich die Diskussion hier in diesem Thread entwickelt. Wenn auch nicht wirklich überraschend. Ich denke wir geben hier ein sehr realistisches Bild unserer Gesellschaft ab.


    Es gäbe natürlich noch viele Beiträge, bei denen mir eine Antwort auf der Zunge läge, aber ich glaube, wir können uns hier in Grund und Boden diskutieren und kämen keinen Schritt weiter. Die Urteile und Vorurteile werden auf beiden Seiten eher verfestigt als ausgeräumt.


    Aber ich gebe zu, ich bin immer wieder ein bisschen enttäuscht, wie massiv das bestehende Schulsystem von der Lehrerschaft verteidigt wird und wie offensichtlich es getragen und gestützt wird. Und das, wo man sich ja zu Anfang eher einig war, dass es eigentlich erschreckend ist, was die Dokumentation als Ausgangspunkt zu dieser Diskussion gezeigt hat.
    Und ich finde es schade, dass offenbar sehr viele Lehrer ihren Einfluss auf Politik und Elternschaft so wenig nutzen und sich nur als Ausführende am Ende des langen Arms sehen. Da ist es wenig verwunderlich, wenn Schulpolitik weiter über die Köpfe von Lehrern hinweg gemacht wird und es dadurch immer wieder zu Entscheidungen kommt, die von niemandem getragen werden.


    Da sehe ich der bildungspolitischen Zukunft mit viel Bauchweh entgehen: Es werden ganz bestimmt noch etliche Karren in den Sand gefahren bis wir irgendwann soweit feststecken, dass klar ist, dass es ohne Umdenken einfach gar nicht mehr weitergeht.
    Oder noch viel schrecklicher: Es bleibt auf lange Sicht so mittelmäßig und unbefriedigend, wie es derzeit ist.


    Schubbidu: Den Artikel und die Umfrageergebnisse finde ich nun überhaupt nicht überraschend und besonders neu schon gar nicht. Etwas ähnliches hat bereits Meike doch schon in einem ihrer ersten Beiträge festgestellt und entsprechend wir ja nun schon seit etlichen Jahren gewählt.
    Interessant wäre vielmehr herauszufinden, warum in unserer Gesellschaft diese Einstellung so ausgesprochen hartnäckig vorherrscht - trotz der ja so offensichtlichen Bildungsmisere von Nord nach Süd. Da gab's auch schon einige Thesen hier im Thread und ich vermute, dass diese der Wahrheit recht nah kommen.


    @jotto: Da sind wir uns einig. Das, was du beschreibst ist auch nicht mal in Ansätzen eine Gemeinschaftsschule. Das ist eine reine Sparmaßnahme unter Ausnutzung eines wirklich hübschen Namens. Den Begriff jedenfalls muss ich mir merken, anstatt selber immer wieder auf das irreführende Etikett "Einheitsschule" abzurutschen.
    Aber wie kommt es, dass solche bildungspolitischen Fehlentscheidungen immer wieder zustande kommen? Ist ja nicht das erste Mal.
    Ich lasse die Frage mal so stehen, denn die Antwort darauf ist buchfüllend, wenn man sich's nicht ganz so einfach macht und den ausgestreckten Zeigefinger erst mal stecken lässt.


    LG
    Mia

    Man soll denken lehren, nicht Gedachtes.
    (Cornelius Gustav Gurlitt)

    2 Mal editiert, zuletzt von Mia ()

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