Offene Ganztagsbetreuung; Sorgen eines Berufsanfängers

  • Hallo zusammen,
    ich habe im August meine Ausbildung zum Erzieher abgeschlossen. Ich bin 23 Jahre alt und arbeite seit Oktober in einer offenen Ganztagsbetreuung. Hier gehört auch die Betreuung einer 9. GT-Klasse (Hauptschule) zu meinen Aufgaben. Ich habe ab Oktober meine Vorgängerin (Soz.päd.) abgelöst. Alleine stand ich noch nie vor der Klasse ( auch sonst noch nie). Die letzte Unterrichtseinheit gestaltete ich zusammen mit der scheidenden Sozialpädagogin. In dieser sog. Berufs AG geht es darum die Jugendlichen auf das Berufsleben vorzubereiten und die sozialen Kompetenzen zu fördern.
    Klingt alles sehr gut, aber der Schein trügt. Die Klasse hat bisher keinerlei Grenzen erfahren. Es wird gestoßen, geflucht, telefoniert, Fotos werden geschossen (in diversen, teils sexuellen Posen), gemobbt...Alles während des Unterrichts. Die aktuelle Kursleitung war auch mehr Schüler als Leiter. Sie hat keine Regeln und Konsequenzen eingesetzt. Ab Mittwoch habe ich diese Klasse und ich möchte völlig neue Strukturen hineinbringen. Neben Erlebnispädagogik wird in den nächsten Wochen Regeln ein ganz großes Thema sein. Denn ohne die bin ich nicht bereit mit den SchülerInnen die von ihnen gewünschten Aktivitäten (Boxtraining, Bowling...) anzubieten. Diese möchte ich erst anbieten, wenn mir die Klasse zeigt sie könne sich an gegebene Rahmenbedingungen halten. Meine Frage an Sie alle betrifft ein wenig meine Unsicherheit. Es ist ein völlig neues Arbeitsfeld für mich. Ich bin nicht ausgebildet zu unterrichten. Es wird auch kein klassischer Unterricht werden. Wie handhaben Sie Konflikte, wie sorgen sie für Ruhe und Aufmerksamkeit? Ich bin kein Fan von Strafen. Ich möchte am liebsten mit "liebevollem Druck" und Schlagfertigkeit die Klasse für den Unterricht gewinnen. Ich wäre sehr dankbar, wenn ich hier ein paar Methoden und/oder Ratschläge aus Ihrem Erfahrungsschatz erhalten könnte. Ideal wären Beispiele zu konkreten Situationen.


    Z.B.:
    - Schüler wird immer wieder während des Unterrichts ausgelacht und beschimpft, wenn dieser etwas beiträgt


    - Lärmpegel zu hoch, Schwätzerei


    - Provokationen von den Gruppenführern dem Lehrer gegenüber ( Warum sollte ich das tun? Sie haben mir gar nichts zu sagen. Sie sind kein Lehrer)


    ...

  • Huhuu Deadmanrulez!


    Erstmal kannst du hier alle duzen! :) Ich denke da sprech ich im Namen aller Mitglieder. Das hört sich nach viel Arbeit und viel Chaos an.


    Ich bin immer am Besten damit gefahren, meinen Schülern klar zu machen, was ich von ihnen erwarte und wie meine Spielregeln aussehen. Dazu gehören auch meine Ansprüche an Unterricht. Also bei mir ist ein absolutes no go Dauergeräuschkulisse. Das kann und möchte ich nicht ertragen. Ebenso natürlich Gewalt und Beleidigungen. Bei mir in den Klassen gibt es ganz klare Verstärkersysteme. Bei 3 Ermahnungen geht es in die Auszeit /Trainingsraum. Es können aber auch mal Gemeinschaftspunkte gesammelt werden. Belohnung dafür wäre z.B. ein Besuch im Schwimmbad, Zoo oder ähnliches.


    Ich denke ohne Konsequenzen kommst du da nicht weiter und das ist ja nicht gleich mit "Strafe" gleichzusetzen. Du musst klare Grenzen setzen und diese den Schülern auch deutlich machen. Handys im Unterricht sind bei uns auch nicht erlaubt... und wenn es dann doch rausgeholt wird, wird es einkassiert und die Schüler können es nach der Schule beim Lehrer abholen oder bei wiederholtem "Vergehen" ein paar Tage später mit einem Erziehungsberechtigten beim Direx abholen. Das hört sich hart an, aber es klappt seitdem gut und die Schüler haben auch kein Problem mit der Regelung.


    Hinzu kommt, dass ich die Erfahrung gemacht habe, dass Schüler auch die Grenzen brauchen und vor allem klare Ansagen. Ich sage zu Beginn der Stunde, dass wenn wir das und das schaffen, sie sich z.B. noch ein Spiel aussuchen können oder ich ihnen vorlese. Das ist in einer 9ten Klasse wahrscheinlich nicht so "cool". Aber da kann man ja auch anbieten, dass sie dann jeder mal ihre Musik mitbringen dürfen, die man dann am Ende der Stunde/ am Ende des Tages hört.


    Also kurz zusammengefasst:


    -sich selbst über Unterrichtshaltung klar werden (was akzeptier ich, was nicht)
    -wann ist eine Grenze erreicht? Wann ist sie überschritten? Was ist die Konsequenz?
    -auf welches Ziel arbeite ich mit den Schülern hin? (anfangs stundenweise, später Tagesziele usw.)
    -wie kann ich motivieren? Was wollen die Schüler gern mal machen? Dies mit Regeln und eigenem Anspruch an die Schüler vereinbaren und transparent machen... positives Denken/ Aussagen und Motivation halte ich für sehr sehr wichtig
    -usw.


    Ich denke liebevoller Druck und Schlagfertigkeit ist ein guter Anfang. Durchhalten sage ich da nur. Anfangs wird es bei der Klasse sicher schwer.


    Bei uns an der Schule sind Konsequenzen, dass die Schüler in den Pausen drin bleiben müssen und dort dann ihre "vergessenen" Hausaufgaben machen, Auszeiten, Elterngespräche, Teilkonferenzen usw.! Aber letzteres passiert zum Glück nicht so oft. Versuch echt Grenzen zu setzen und ihnen treu zu bleiben. :) Oft schwierig, weil es unheimlich Kräfte raubend ist.


    So ich hoffe ich konnte dir helfen.


    Edit: Oft ist es mehr als hilfreich mit den Lehrern zu sprechen und zu kooperieren, die in der Klasse unterrichten. Deine Vorgehensweise absprechen und und und!

  • Vielen Dank für Deine ausführliche Antwort. Du hast Recht, Kooperation mit den anderen Lehrern ist wichtig und ich arbeite auch aktuell daran, den Klassenleiter für mein Konzept zu gewinnen. Es ist bloß nicht einfach, da dieser ein Verfechter der Antiautoritären Erziehung ist und dies absolut nicht meins ist.
    Die Maßnahmen die du aufzählst finde ich sehr gut. Viele habe ich mir, in ähnlicher Form, auch schon so zurechtgelegt.
    Aktuell bin ich dabei meine Doppelstunden sehr stark strukturiert und klar zu planen. Denn dies ist etwas das den Jugendlichen fehlt. Eine klare Struktur. Nächste Woche steht mit der Klasse ein Ausflug an. Es kommt eine Fachkraft der Kasse und geht mit uns Wandern. Davon bin ich persönlich überhaupt nicht begeistert. Es ist eine Planung der vorherigen Kraft, die Schüler sind stark abgeneigt hier mitmachen zu wollen und ich bin mit ihnen alleine. In meiner ersten Stunde. Solange ich nicht meine ersten Stunden mit ihnen hatte und klare Regeln und Strukturen in die Klasse hineingebracht habe, werde ich nicht mit ihnen gehen. Außer der Klassenlehrer erklärt sich bereit seine Freizeit zu opfern und geht mit. Die Klasse ist meiner Meinung nach völlig außer Kontrolle und diese Verantwortung werde ich nicht übernehmen. Erst wenn ich die Jugendlichen besser kenne und einschätzen kann.

  • Deine Einschätzung hört sich doch super an! Je sicherer du bist in dem, was du wie machen willst, desto besser wird das ganze irgendwann Früchte tragen. Und ich würde das auch nicht machen, wenn du nicht vorher die Möglichkeit hast, deine Regeln deutlich zu machen. Ich denke immer "Sei du selbst"! :) Das merken die Schüler... je authentischer und ehrlicher miteinander umgeht, desto vertrauensvoller und stressfreier ist der Umgang miteinander. Und das heißt nicht, dass man die Rolle als Lehrer verlassen muss. Ich bin ganz klar Lehrerin in meinen Klassen, aber man kann mit mir reden. Meine Schüler wissen gaaaanz genau, was sie dürfen und was nicht. Und ich denke so sollte es sein.

  • Meine Vorgängerin war mit den Schülern auf der Du-Ebene. Ich habe für mich entschieden, da die SchülerInnen unsicher waren, das sie mich mit Vornamen anreden können aber wir trotzdem beim "Sie" bleiben.
    Ich habe die Klasse jetzt schon des öfteren in der Freizeit und beim gemeinsamen Mittagsessen betreut und da läuft es bisher zufriedenstellend. Morgen ist die erste Einheit Erlebnispädagogik. Wir gehen mit ihnen Nordic Walking. Für uns alle ( auch für mich ) eine völlig neue Erfahrung. Ich bin gespannt. Ab nächster Woche werde ich regulär unterrichten.


    Super wäre es, wenn ich noch von verschiedenen Leuten ein paar hilfreiche Tipps für die Praxis kriegen könnte. Etwas handfestes...Ich bin für alles dankbar.

  • Zitat

    Original von deadmanrulez
    Super wäre es, wenn ich noch von verschiedenen Leuten ein paar hilfreiche Tipps für die Praxis kriegen könnte. Etwas handfestes...Ich bin für alles dankbar.


    Ein paar Ideen, die ich bei Interesse gern näher erläutere.


      Du brauchst sozial kompetente Handlungskonzepte.
      Sozial kompetent können Schüler dann werden, wenn man mit
      ihnen sozial kompetent umgeht.

      Regeln entstehen aus gemeinsamem Handeln.
      Sie sind nicht Initiatoren sozialen Miteinanders.


      Thematisieren: Handeln von Schülern und Pädagogen
      als Anlass gemeinsamen Nachdenkens über Möglichkeiten sozialen
      Handelns aufgreifen.


    monika :)

    Die Disziplin des Lernens unterscheidet sich von der Disziplin der Schule.

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