"Man muss 100% geben"...

  • ...hört man mit großer Regelmäßigkeit von Lehrern (und von Referendaren werden sowieso mathematisch unmögliche 110% erwartet.)


    Hier ein interessanter Artikel aus der Zeit-Online zum Thema "Perfektionismus", der sich mit der arbeitsökonomischen Ineffizienz dieser Haltung auseinandersetzt.


    Ich habe mich in mehreren Aspekten an die Schule erinnert gefühlt.


    Nele

  • Was mcih oft stört ist: Wenn man sich im Unterricht und bei den Kindern engagiert , sieht das keiner. Hat man ein schönes Zimmer und tolle Unterlagen, perfekte Pläne usw. sieht das irgendwann jemand und kann das als positiv werten. Eigentlich sollte man mit dem Unterrichten mehr Zeit verbringen als mit dem Rest.


    Gerade im Ref. fand ich das grausam! Außerdem immer dieses Gerede im Seminar, wo man dann "beiläufig" Dinge erzählt hat, die der Seminarleiter hören sollte. Ich beneide die Referendare nicht!


    Gruß
    Anna

  • Was Frau Jansen zumindest in diesem Interview nicht äußert, ist die Neigung der Gesellschaft zum Perfektionismus. Das ist sehr in Mode. Ich will/soll perfekt aussehen, will perfekte Produkte kaufen, dabei perfekt bedient werden, den perfekten Urlaub machen, in einer perfekten Beziehung leben usw. usw.


    Das geht einher mit der Inflation der Superlative (in Werbung, Medien...). Nicht etwa Bohlen und zwei Vasallen suchen eine gute Stimme, nein, ganz Deutschland sucht den Superstar.


    Die perfekte Welt, das perfekte Leben bleibt aber, trotz gestiegener Ansprüche, eine Utopie. Das bedeutet: Immer mehr Menschen reiben sich an dem Dilemma auf, Erwartungen nicht zu erfüllen, an ihnen zu scheitern. Wer das begriffen hat und versucht, damit umzugehen, der findet bsw. im Understatement oder nach Frau Jansen beim 80%-Prinzip sein Heil. Sätze wie "Ich lasse da meinen Kindern mehr Freiraum" (Eltern) oder "Dann halte ich halt mal eine Stunde aus dem Stegreif" (Kollegen) illustrieren das. In dieser Haltung kann man natürlich auch wieder perfekt werden... :)

    "Die Welt ist kein romantischer Ort mehr.
    Einige Menschen in dieser Welt sind es aber trotzdem noch.
    Und darin liegt die Hoffnung…
    Lass die Welt nicht gewinnen, Ally McBeal."

    • Offizieller Beitrag

    Es ist immer eine Gratwanderung, den überhöhten Erwartungen unserer Gesellschaft/uns selbst absichtlich nicht 100% gerecht zu werden ohne dabei in eine Wurschtigkeit abzudriften. Ich halte viel von beruflichem und überhaupt von Ehrgeiz. Es ist gut, heilsam sogar, sich Erfolge zu erarbeiten. Es ist wichtig für die Gesellschaft, dass Menschen nach Verbesserung des status quo streben. Man muss erspüren lernen, wann es von Innovativität oder Ehrgeiz in Selbstaufgabe oder Besessenheit oder obsessivem Verhalten wie workaholism übergleitet - die Grenzen sind - nach oben wie nach unten - leider fließend.


    Gestern habe ich bei einer meiner Lieblingssendungen (die nicht direkt, aber doch irgendwie zu diesem Thema passt) dazu viel Interessantes gehört:
    http://www.swr.de/nachtcafe/-/…4096210/dk6to3/index.html
    Besonders interessant war dabei, dass es Vertreter aller Punkte auf der Skala gab - ich persönlich fand die Maxime des Professors Ekard am sinnvollsten: Ich darf/soll mich fragen, ob es gut für mich selbst ist, aber ich muss/soll auch fragen, ob es gut für andere ist.
    Im Falle des Perfektionismus übersetze ich das für mich: Ich darf/soll mich fragen, ob es gut für andere ist, aber ich darf/muss mich auch fragen, ob es gut für mich ist.

    WE are the music-makers, and we are the dreamers of dreams,
    World-losers and world-forsakers on whom the pale moon gleams
    yet we are the movers and shakers of the world for ever, it seems.

    • Offizieller Beitrag

    Und wir Lehrer sind nicht anders. Überlegt doch mal, bei wie viel Prozent der Gesamtpunktzahl bei einer Klassenarbeit ihr eine eins oder zwei gebt.
    Wer als Schüler nach der 80%-Regel arbeitet bekommt "nur" eine 3. :)


    kl. gr. Frosch

  • Zitat

    Original von BillyThomas
    Was Frau Jansen zumindest in diesem Interview nicht äußert, ist die Neigung der Gesellschaft zum Perfektionismus. Das ist sehr in Mode. Ich will/soll perfekt aussehen, will perfekte Produkte kaufen, dabei perfekt bedient werden, den perfekten Urlaub machen, in einer perfekten Beziehung leben usw. usw.


    Komisch dabei ist, dass dieser Perfektionismus lediglich den "Lifestyle" betrifft. Dass der Perfektionismus Einzug in das Arbeitsleben findet, sehe ich dagegen sehr sehr selten, im Gegenteil, eher ist die Einstellung "Hauptsache durch" oder "Ich mogel mich schon irgendwie durch" vorzufinden. Im Studium heißt es dann eben, Hauptsache, man ist positiv - aber dann werden genau die selben von ihren Schülern Höchstleistungen verlangen. :rolleyes:


    Ich gehöre auch zu den Perfektionisten, nämlich insofern, dass ich bei den Arbeiten, die ich erledige, ein qualitativ hochwertiges Ergebnis abliefern möchte. Das zahlt sich auch aus, weil ich sehe, dass dies bemerkt und anerkannt wird. Es kommt aber auch immer auf die "Vermarktung" an. Spielen beide Faktoren gut zusammen, kann man auch Erfolg haben. Die Aussage, Perfektionisten wären weniger erfolgreich, finde ich ungenügend.

    • Offizieller Beitrag

    Ich glaube nicht, Josh, dass ein gutes Ergenis abliefern zu wollen schon Perfektionismus ist. Ehrlich gesagt halte ich es für eigentlich selbstverständlich, für einen grundlegenden Arbeitsethos.
    Perfektionismus ist es dann, wenn man nie zufrieden ist, wenn man das gute in ein sehr gutes und das wieder in ein absolut herausragendes Ergebnis verwandeln zu müssen meint - und auch damit nicht zufrieden ist. Das ist dann auch das Ungesunde.
    Den Ehrgeiz zu haben eine gute Arbeit machen zu wollen hingegen ist eine gesunde und wichtige Einstellung. Aus dem "ich wurschtel halt irgendwas zusammen" erwächst auch keine Arbeitszufriedenheit.

  • Zitat

    Original von Meike.
    Perfektionismus ist es dann, wenn man nie zufrieden ist, wenn man das gute in ein sehr gutes und das wieder in ein absolut herausragendes Ergebnis verwandeln zu müssen meint - und auch damit nicht zufrieden ist. Das ist dann auch das Ungesunde.


    Traurig, aber nach dieser Definition gäbe es keinen positiven (empfundenen) Perfektionismus. Wer nach diesem Prinzip agiert, braucht jemanden, der ihn aus diesem Teufelskreis herauszuholen versucht.

    "Die Welt ist kein romantischer Ort mehr.
    Einige Menschen in dieser Welt sind es aber trotzdem noch.
    Und darin liegt die Hoffnung…
    Lass die Welt nicht gewinnen, Ally McBeal."

    • Offizieller Beitrag

    Ich denke auch nicht, dass es irgendeinen positiven -ismus gibt. Wenn du beim -ismus angekommen bist, ist es schon pathologisch. Das gilt m.E. auch für die politischen, religiösen und ideologischen -ismen. :)
    -Ismus ist, wenn es ausartet und therapiert werden muss (für mich inclusive Katholizismus ;);) *wegduck* ) Okay, ich gebe zu, dass man diese Defionition so nicht im Wörterbuch findet, aber ich denke, du weißt, was ich meine.


    Gegen gesunden Ehrgeiz und deutliches Engagement ist allerdings nichts einzuwenden... das macht, wenn von Erfolg gekrönt, auch nicht krank...

  • Zitat

    Original von Meike.
    Ich denke auch nicht, dass es irgendeinen positiven -ismus gibt. Wenn du beim -ismus angekommen bist, ist es schon pathologisch. Das gilt m.E. auch für die politischen, religiösen und ideologischen -ismen. :)


    Rationalismus? Pazifismus? ;)


    Nele

  • oder Optimismus ?


    Vielleicht werden die -ismen dann problematisch, wenn unsere Persönlichkeit Störungen erfährt.


    Optimismus tendiert zur Blauäugigkeit?


    Dazu passt dann dieses - im Überblick auf Seite 3 :


    http://www.hardtwaldklinik2.de…ArtikelLehrer-Burnout.pdf


    PS: muss noch etwas hinzufügen. Prof. Bernhard kenne ich von einer Fortbildung her. Eher vergröberte seine Darstellung in "4" Persönlichkeitsstrukturen: der Depressive, der Zwanghafte, ??? (herrje, fällt mir doch nicht der 3. ein) und der Narzisst.
    Das klingt schlimmer als es ist, wenn wir Rahmen dieser Persönlichkeitsbilder bleiben.
    Nach dem Nachmittag stellte sich heraus, dass ich (auch mit dem Hang zum Perfektionismus, vor allem was Systematik in Ordern und Schreibtisch angeht), der zwanghafte Typ bin.


    PSS: sorry, tippe heute sehr fehlerhaft

    • Offizieller Beitrag

    Grnf! Ihr habt mir (fast) meine schöne Psychopathologie der -ismen kaputt gemacht. Mit der wollt' ich eigentlich ganz groß rauskommen. ;)
    Na gut, dann guck ich halt jetzt stattdessen "The Hills have eyes 2", kommt grad im Fernsehn.. :D
    Kannibalismus. Auch nicht so schön.

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    Einmal editiert, zuletzt von Meike. ()

  • Ich habe mir erst neulich wieder "Shaun of the Dead" angekuckt. Sehr empfehlenswert... :tongue:


    Nele

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