Hallo Zusammen,
2x im Jahr bespreche ich mit etwa 200 Schülern die mündlichen Noten in Einzelgesprächen. Diese Woche ist es wieder soweit.
Heute gab es - wie in den Jahren zuvor - bei einer Schülerin der Oberstufe Tränen. Sie pokert hoch, will eine 1, ich muss sie enttäuschen. Resultat: und X(. Das Gespräch dauerte letztendlich fast 15 Minuten.
Meine Reaktion: *panic* und *jetztbloßruhigbleiben*
Es gibt bestimmt Kollegen, die mit solchen Konfliktgesprächen innerlich souverän umgehen können. Zu denen gehöre ich (noch?) nicht.
In diesem Jahr habe ich allerdings eine weitere Nuance in dem Beziehungsmuster zwischen mir und der Schülerin gespürt, die ich kurz mit dem Begriff "Übertragung" bezeichnen würde. (Ich habe mich in den letzten Monaten ziemlich intensiv mit diesem zwischenmenschlichen Phänomen beschäftigt).
ZitatDer Begriff der Übertragung stammt aus der Tiefenpsychologie, insbesondere der Psychoanalyse. Er bezeichnet dort den Vorgang, dass ein Mensch alte – oftmals verdrängte – Gefühle, Affekte, Erwartungen (insbesondere Rollenerwartungen), Wünsche und Befürchtungen aus der Kindheit unbewusst auf neue soziale Beziehungen überträgt und reaktiviert. Ursprünglich können diese Gefühle auf die Eltern oder Geschwister bezogen gewesen sein, bleiben aber auch nach der Ablösung aus dem Elternhaus in der Psyche präsent und wirken dort weiter. Dieser Vorgang ist zunächst weitestgehend normal und weit verbreitet, kann aber, wenn die übertragenen Gefühle sich gegenüber tatsächlichen gegenwärtigen Beziehungen als nicht angemessen erweisen, zu erheblichen Problemen und Spannungen führen.
Bei der o.g. Schülerin hatte ich zum ersten Mal so überdeutlich den Eindruck, dass es im Grunde gar nicht um die Note selbst geht, sondern um eine "Übertragungsreaktion". Ich hatte den Eindruck, sie konstruiert diese Konfliktsituationen, um an mir und mit mir ihren inneren Konflikt "abzuarbeiten". Sie fordert eine super Note - m.E. weiß sie unbewusst eigentlich, dass sie die nicht verdient, und MUSS somit enttäuscht werden. Dies bietet ihr die Gelegenheit, ihren Ärger, Frust und Traurigkeit (whatever) mit mir zu reinszenieren.
Diese Einsicht hat mir erst einmal geholfen, tatsächlich ruhig zu bleiben und nichts persönlich zu nehmen, was ich mir da anhören musste. Dennoch war ich auch hilflos, weil ich nicht wusste, wie ich jetzt mit dieser Situation umgehen soll.
Ganz deutlich sind solche Reaktionen ja bei Pubertierenden, die jemanden brauchen, an dem sie sich ab und an ihre Hörner abstoßen können. Damit habe ich auch keine Probleme.
Schwierigkeiten macht es mir bei erwachsenen Schülern, bei denen es ja um die Abinote geht. Dem emotionalen Drama, das von diesen Schülern kreiert wird, kann ich mich nur schwer entziehen, es wirkt fast bedrohlich auf mich, da es eben NICHT von Jugendlichen sondern Erwachsenen kommt.
Kurz und gut: Wie geht ihr mit solchen "Übertragungsreaktionen" um, d.h. wenn ihr ganz klar spürt, es geht den Schülern/Eltern nicht um die Sache selbst, sondern darum, ein "persönliches Drama" mit euch durchzuspielen, in der Hoffnung, dass ihr mit sogenannten "Gegenübertragungsgefühlen" (seien es Scham, Angst, etc) reagiert und sie somit einen Triumph davontragen können?
Hoffe, mich einigermaßen verständlich gemacht zu haben, und dass dieses Thema nicht allzu esoterisch anmutet.
Viele Grüße
klöni