Schüler wiederholen lassen?

  • Hallo,
    ich stehe gerade vor einer schwierigen Entscheidung und bräuchte mal euren Rat.
    Ich bin zum ersten mal Klassenlehrerin und meine Kids sind mittlerweile in der 2. Vor den Osterferien bekam ich einen Brief von einer Mutter in dem sie überraschend den Antrag auf sofortige Zurückstellung ihres Sohns in die 1. Klasse stellte.
    Ich war etwas überrumpelt weil wir zwar schon über dieses Thema gesprochen hatten, aber eigentlich zu dem Schluss gekommen waren, noch die Entwicklung im zweiten Halbjahr abzuwarten. Die Eltern haben zuhause wohl sehr große Probleme mit dem Kind. Er ist sehr frech, schwer zum Arbeiten zu bewegen und dadurch, dass ihn die Hausaufgaben oft überfordern, wird die Situation noch schwieriger.
    In der Schule bietet sich mir allerdings ein ganz anderes Bild. Sein Verhalten ist relativ unauffällig, er bearbeitet seine Aufgaben meistens konzentriert und kommt auch mit den Anforderungen klar.
    Zu erwähnen wäre noch, dass der Junge positiv auf ADHS getestet wurde. Die Eltern haben gehört, dass ADHS Kinder oft in den späteren Klassen Probleme bekommen und wollen ihn quasi deswegen "auf Nummer sicher" wiederholen lassen.
    Ich bin nun unsicher, wie ich entscheiden soll. Klar liegt die Entscheidung bei der Klassenkonferenz, aber ich unterrichte außer Sport und Religion alles in dieser Klasse und so würde die Entscheidung letztlich doch bei mir liegen.
    Wenn ich mir die drei Bereiche Mathematik, Schreiben und Lesen ansehe sieht es bei dem Jungen so aus:


    In Mathematik hat er Probleme, besucht auch schon länger den Förderunterricht. Tests würden (würden sie benotet) zwischen Dreier- und Viererbereich liegen.
    Lesen kann er gut, da sehe ich überhaupt keine Probleme.
    Beim Schreiben fällt es ihm nicht schwer, Ideen zu entwickeln, die Rechtschreibung ist aber noch sehr schwach, er wendet kaum Strategien an. Da ich aber noch nie eine zweite Klasse hatte habe ich keine Vergleichsmöglichkeiten und weiß nicht, ob seine Leistungen "noch ok" sind oder nicht. Ich schreibe euch mal einen kleinen Text auf, wie er ihn geschrieben hat, damit ihr einen Eindruck habt.


    "Ichn (In) den negsten tästs (Tests) hate ich keine fäler und dan kome ich in die Klase da sha ich Frau Simon und die anderen Kinder Frau Simon sakt ein paa Kiender wolen dier wass sagen ja wiea wolen sagen äs tut uns leit das wier diech gergat (geärgert) haben."


    Was meint ihr dazu? Gibt's in euren Klassen ähnliche Fälle? Und wäre es richtig ihn "nur" wegen der Rechtschreibung und der relativ schwachen Leistung in Mathematik zurückzustellen?
    Ich möchte das Kind ungern wiederholen lassen zumal er selbst es natürlich absolut nicht will.

    Was du nicht kennst, das, meinst du, soll nicht gelten? Du meinst, daß Phantasie nicht wirklich sei? Aus ihr erwachsen künftige Welten: In dem, was wir erschaffen, sind wir frei. (Michael Ende)

  • hallo,


    ich hätte da mal eine schulrechtliche frage: geht bei euch eine sofortige rückstellung in die 1.klasse mitten im 2. halbjahr?
    wenn ich es richtig im kopf habe, geht das bei uns (bayern) nicht. klar ist das immer eine sache, wie damit umgegangen wird...


    was die leistung im schreiben angeht, wäre ich schon wachsam. wenn das beispiel hier seiner generellen leistung entspricht, empfinde ich es sehr schwach.


    in mathematik ist der 3er/4er bereich ja nicht sooo schlimm.


    wichtig finde ich auch den punkt, dass der junge an sich nicht wiederholen will. die eltern sollten bedenken, dass diese einstellung das zusammenleben nicht positiv beeinflusst.


    ich würde mir von den eltern auch nochmals genau aufzeigen lassen, was sie sich von einer rückversetzung versprechen.
    wenn das argument dahingehend ist, dass sie sich stress daheim rausnehmen möchten, fände ich das bedenklich - schließlich scheint er sich ja in der schule "normal" verhalten zu können.


    schwierig, schwierig...

  • @ Uli: was du vermutest, empfinde ich genauso...nämlich, dass die Eltern in erster Linie Stress vermindern wollen.


    Laut meiner Schulleiterin ist bei uns die Zurückstellung jederzeit im Schuljahr möglich.

    Was du nicht kennst, das, meinst du, soll nicht gelten? Du meinst, daß Phantasie nicht wirklich sei? Aus ihr erwachsen künftige Welten: In dem, was wir erschaffen, sind wir frei. (Michael Ende)

  • aber dann sollten sie lernen, den stress in einer anderen form zu vermindern!
    übertrieben gesehen würde das ja bedeuten: immer wenn es stress gibt, suchen sie eine lösung außerhalb des problemfeldes. anstatt symptombekämpfung wäre doch wohl besser die bekämpfung der ursache!

  • Leistungsstand alleine ist ja nicht ausschlaggebend. "unter Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Schülers, seiner bisherigen und voraussichtlichen Entwicklung, seines Leistungsstandes und seiner Fähigkeiten zu erfolgen hat. Es ist eine pädagogische Prognose zu erstellen, die die gesamte Persönlichkeit des Schülers, seine Anlagen, seine Leistungsbereitschaft und -fähigkeit sowie sein soziales Umfeld einschließt." So stehts in Bayern im Schulgesetz.
    Sind die Eltern für keinerlei Förderansätze oder Therapien emfänglich? Keine Hausaufgabenbetreuung von außen möglich, damit daheim der familiäre Stress wegfällt?
    Eltern neigen ja bekanntlich zur Beratungsresistenz. Denke mal nur an deinen Schüler. Würde der Rücktritt ihm persönlich was bringen? Motivation, Erfolgserlebnisse auf die er aufbauen kann, Entwicklungsmöglichkeiten, da kein Druck bzw. Stress mehr mit den Eltern oder z.B. Therapieansätzen wegen ADHS.

  • Also ich muss uli komplett zustimmen. Das sieht für mich so aus, als ob die Eltern zwar erleichtert sind weil sie "endlich wissen, an was ES liegt", in Wahrheit das Problem aber nach außen verschieben. Die Klasse zu wiederholen ist nicht immer die Lösung eines Problems. Schlimmer noch: Sie wollen Problemen, die ja auftreten KÖNNTEN, damit VORBEUGEN!
    Ich denke, da solltest du als Pädagogin noch mal "einschreiten" und deine Bedenken äußern.
    Ein ADHS - Kind jetzt auch noch ohne ersichtlichen Grund aus seiner schulisch sozialen Stabilität zu reißen könnte das Problem sogar noch verschärfen. Denn wie bekannt brauchen diese Kinder ganz stark eine exakte Orientierung. D.h. er müsste sich in einer neuen Klasse wieder komplett neu orientieren.
    Das kann üble Folgen haben.
    Das wäre vielleicht ein zusätzliches Argument für dich als Lehrerin.


    Die Eltern sollten eher eine außerschulische therapeutische Maßnahme in Betracht ziehen. Das würde sich positiv auf ALLE Bereiche des Kindes auswirken.



    Panama

    "Du musst nur die Laufrichtung ändern..." sagte die Katze zur Maus, und fraß sie.

  • Ich finde es auch sinnlos hier nur wegen den Eltern wiederholen zu lassen.
    ABER: Wenn ich mir die paar Sätze anschaue und dann noch davon ausgehe, dass es auch in Mathe nicht so läuft und mir dann noch überlege, dass dieses Kind bald in der 3. Klasse sein soll... Autsch!!! Ich finde, das sieht nicht gut aus.
    Bei uns würde das in einigen Fällen auf eine Überprüfung auf Förderschulbedarf hinauslaufen. Dazu muss man aber natürlich mehr in Betracht ziehen als nur die Rechtschreibleistung und Mathematik. Wie sieht es denn in HSU und Sprache untersuchen aus?
    Damit ich nicht falsch verstanden werde: Bei uns werden nicht die unbequemen Schüler abgeschoben. Aber meistens gehen die Noten in der 3. und 4. Klasse noch ein Stück in den Keller. Und dann wäre dieses Kind schon sehr weit unten und die Lücken dürften stetig größer werden.


    Bibo

  • Meines Meinung nach kann ein AOSF aber nur in Betracht gezogen werden, wenn man dem Kind die Möglichkeit gegeben hat, 3 Jahre in der Eingangsstufe zu verweilen. Gerade die RS-Leistungen finde ich auch schon extrem schwach für einen zukünftigen Drittklässler.
    Wie sieht es denn mit anderen Bereichen aus: Arbeitstempo, Belastbarkeit (Reaktion auf nicht so tolle Leistungen - ich denke da an die Noten in Klasse 3), emotionale Reife insgesamt?


    Auffällig finde ich, dass der Junge bei dir gut arbeitet, bei den Eltern aber so ein Theater macht. Vielleicht könntet ihr gemeinsam dafür eine Lösung finden.
    Wie wurde die ADHS diagnostiziert? Ich frage, weil ich einen ähnlichen Schüler hatte, der in der Schule total unauffällig war, zu Hause aber Stress gemacht hat. Die Mutter ist daraufhin zum Arzt, hat gemeint, ihr Sohn hätte wohl ADHS und bräuchte dringend Medikamente - und schwupps - verschrieb der Arzt sie auch (ohne irgendeine weitere Untersuchung). Irgendwie sehe ich da Parallelen zwischen den beiden Fällen, denn entweder hat ein Kind ADHS und ist immer auffällig oder eben gar nicht. Vormittags nicht und nachmittags wohl - das erscheint mir komisch.


    Grüße


    Sina

  • Erstmal danke für eure Antworten!
    @ Sina: Arbeitstempo und Belastbarkeit sind leider auch nicht so dolle. Er hat ein sehr geringes Selbstwertgefühl und sagt von sich aus immer schon, dass er schlecht ist.
    Das mit der ADHS UNtersuchung haben die Eltern selbst in die Hand genommen, ich habe wiederholt darum gebeten, das Gutachten zu sehen um es in die Akte des Schülers zu heften aber die Eltern sind dieser Bitte bisher noch nicht nachgekommen (wohl aus Schludrigkeit).
    Auffällig ist er im Unterricht schon. Er quatscht oft rein und kommentiert immer alles, was er tut und was um ihn herum geschieht. Nur die Arbietshaltung ist wohl in der Schule eine ganz andere als zu Hause.

    Was du nicht kennst, das, meinst du, soll nicht gelten? Du meinst, daß Phantasie nicht wirklich sei? Aus ihr erwachsen künftige Welten: In dem, was wir erschaffen, sind wir frei. (Michael Ende)

  • Also, zusammengefasst:


    Stärken:
    - Lesen
    - Schreibideen entwickeln



    Defizite:
    - sehr schlechte Rechtschreibleistungen
    - eher unterdurchschnittliche Leistungen in Mathematik
    - Arbeitstempo langsam
    - wenig belastbar
    - geringes Selbstwertgefühl
    - Hausaufgabenproblem (was wohl auch mit dem Elternhaus bzw. Verhältnis Eltern-Kind zusammenhängt)


    Ich würde auch aufgrund des Gesamtbildes über ein dreijähriges Verweilen nachdenken. Wie sieht es mit der Anstrengungsbereitschaft aus? Ich vermute, wenn der Junge schon bei regulären HA Theater zu Hause macht, wird es schwer werden, dort mit ihm Defizite gezielt und über einen längeren Zeitraum parallel zur zusätzlichen Unterstützung in der Schule aufzuarbeiten.
    Zu beachten wäre noch, wie weit er insgesamt "entwickelt" ist - eher noch kindlich oder schon recht "frühreif", sodass er in einer neuen Lerngruppe stark auffallen würde.


    Egal, ob die Entscheidung für oder gegen ein dreijähriges Verweilen fällt - ich stimme vielen hier zu, dass die Eltern einfach nur den HA-Stress umgehen wollen. Das wird so langfristig aber nicht klappen.


    Und diese ADHS schwirrt mir immer noch im Kopf rum - ich kenne so viele Fälle, wo ohne jede Untersuchung ADHS "diagnostiziert" wurde und die Kinder nun mit Medikamenten vollgestopft werden, damit Mama und Papa ihre Ruhe haben - dabei war das Verhalten der Kinder nur eine logische Konsequenz einer nicht vorhandenen Erziehung. Und bevor es jetzt "Schläge "eurerseits gibt: Ich weiß, dass eine wirklich vorhandene ADHS (!) nichts mit fehlender / schlechter Erziehung zu tun hat.


    LG


    Sina

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