Ein Geschichtelein, welche ich mal geschrieben habe....
Montag, 1. Stunde, Musik, Klasse 6
„Herr Meier, Herr Meier!“ kreischt ein kleines Mädchen quer durch den Musikraum und kommt, halb laufend, halb schlurfend, von links auf mich zu gestürmt. „Ich war zuerst da,“ ruft ein anders Mädchen, allerdings von rechts. „Aber meins ist wichtiger,“ dröhnt es, wiederum von links, an mein Ohr. Diesmal jedoch deutlich lauter und schriller, da das Mädchen inzwischen durch das Pult gebremst laut rumsend vorne angekommen ist.
Im selben Moment werde ich durch ein „Herr Meier, Arne hat mein Etui weggenommen“ vor einem nahenden Wurfgeschoss gewarnt. Arne kann nicht besonders gut zielen... Das musste ich in der letzten Stunde schmerzlich feststellen, als ihm bei seinem dynamischen Versuch die C-Dur-Tonleiter auf dem Xylophon zu spielen, die Schlegel beim Ausholen aus der Hand glitten, zielsicher einen halben Meter am eingestrichenen „f“ und dem linken Ohr seines Gegenüber vorbei flogen, um letztendlich von meinem Hinterkopf gebremst zu werden.
Doch durch einen lauten Aufschrei wird dieser Gedanke jäh unterbrochen: Besagtes Etui landet nicht an meinem, - nein - sondern an Matthias Kopf, dieser fängt bitterlich an zu weinen, Angelina springt auf und beschimpft Arne, dieser keift zurück, Philipp donnert Arne sein Musikbuch auf den Kopf.
So vertraut die lieblichen Klänge dieses dissonanten Quartetts auch immer wieder sind, verblassen darin doch zusehends die Erinnerungen an das vorherige Wochenende: „Ja,“ denke ich „es ist Montag.“
Um 8.30h steht der allmorgendliche Kollegenfrühsport an: Der 5-Minuten-Sprint. Heute mit Nieselregen, böigem Wind und Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Nein, dieser ist mitnichten Teil der niedersächsischen „Fitnesslandkarte“. Diese sportliche Maßnahme ist uns bereits seit eineinhalb Jahren, mit Abschaffung der Orientierungsstufe, beschert. Zahlreiche Kollegen setzen sich im 45-minütigen Zyklus zum Gebäudetausch auf ihre Fahrräder, starten den Wagen oder trotzen der Kälte durch einen flotten Fußmarsch. Auf Höhe „Marienstraße“ begegnet man den anderen Pendlern. Manchen auch später. Diese schaffen es allerdings wohl nicht mehr rechtzeitig zum Stundenbeginn. Da bin ich mir sicher.
Ich hab normalerweise Montags Glück und kann in aller Ruhe das Gebäude wechseln. Heute darf ich aber spontan den Kollegen aus der 5 vertreten, wie ich vor 6 Minuten erfahren habe. Naja, kein Problem. Man ist ja Profi. Ich organisiere schnell noch ein paar Atlas-Arbeitsblätter und frage mich beim Betreten der 5, was die Leute an David Copperfield so aufregend finden: Wir zaubern hier jeden Tag Dinge aus dem Hut, unterhalten Hunderte und überraschen sie mit (scheinbaren) Wundern.
Gebäudewechsel zur 3. Stunde.
Auf dem Weg zum Erdkunderaum komme ich durch den 500er-Bereich. Auf der Fensterbank posieren wie immer einige Grazien, teils ausgehfertig geschminkt und bauchfrei gestyled, umringt von mindestens doppelt so vielen Jungs, Mandarinenschalen und Müsliriegelverpackungen.
„Hallo Herr Meier,“ zwitschert es lieblich von der Seite. Es sind Carina und Nathalie aus der 9, heute mal in zartem rosa Blüschen, Miss-Sixty-Ethno-Jeans und hohen Stiefeln aus weißem Teddybärfell. Daneben in einer Traube „ihre Jungs“ Kevin und Sören aus der 12 und ein paar weitere Jungen mit Baggy-Jeans und Baseball-Cappy. Ein extrem Cooler trägt sogar ein Häkelmützchen. Unweigerlich blitzt vor meinem geistigen Auge ein Bild der frühen 80er Jahre auf, als bei Oma die Klorollen unter einem gehäkelten mützenähnlichen Etwas verschwanden. Aber ich verdränge den Gedanken schnell wieder und frage: „Na, wie war die Mathe-Arbeit?“ „Al-tÄhr! Voll krrrass, ey,“ sagt der bemützte „Coolio“. „Die wa' ächt leisure. Der Hamma. Abba jetz' mach ich erstma' ein auf chill-out. Standard!“ „Yo! Peace,“ denke ich und fordere die Umstehenden auf, doch bitte noch den Müll wegzuräumen, bevor sie sich in die „Chill-Out-Lounge“ begeben. Die übliche Diskussion (besonders widerborstig gebietet sich „Coolio“) beginnt mit dem üblichen „Das sind doch nicht meine Mandarinenschalen“, „Wieso sollen wir den Müll wegräumen, es gibt doch einen Flurdienst“ und „In 2 Stunden kommen doch die Putzfrauen. Die haben dann ja gar nichts mehr zu tun“, wird durch den Gong zur dritten Stunde beendet und die Schüler verschwinden schnell in den Klassenräumen.
Im Sog der letzen zufallenden Tür erhebt sich eine Brottüte, wirbelt auf, senkt sich in rotierendem Flug langsam gen Boden und bleibt zusammen mit den Mandarinen-schalen und Müsliverpackungen in der Einsamkeit und Stille der Flure zurück.
3. und 4. Stunde: Jahrgang 12, Erdkunde Prüfungskurs.
Heute steht eines meiner aktuellen Lieblingsthemen „Entwicklung des Tourismus in Dubai“ auf dem Plan. Zwei Schüler wollen als Einstieg ein Referat zum Thema „Die Zukunft des Öls als Energiequelle“ halten, im Anschluss werden wir Dubai im Atlas etwas genauer unter die Lupe nehmen und einige Wirtschaftsrahmendaten auswerten und wenn noch Zeit bleibt im Internet einige Seiten und Werbevideos zu „The Palm“ und dem 7. Sterne Hotel „Burj Al Arab“ ansehen. Ich habe in den letzten Woche etwas recherchiert und unter anderem im Internet einiges an spannendem Material gefunden. Und es ist wirklich sehr eindrucksvoll, was in Dubai passiert. Die Schüler waren auch ganz begeistert, als ich in der letzten Stunde einige Einstiegsbilder zum Thema zeigte.
Ich betrete also voller Vorfreude den Erdkunderaum. Doch wieder einmal kommt alles ganz anders...
Ich ahne erstes Ungemach, als Thorsten auf mich zukommt: „Herr Meier, Lena ist krank. Ich war gestern bei ihr und ihr geht es total dreckig.“ Lena ist die Freundin Thorstens und zusammen wollten sie das Referat halten.
„Oh, die Arme,“ sagte ich. „Bestell ihr schöne Grüße und eine gute Besserung. Hälst du dann das Referat alleine?“
Thorsten: „....????“
Ich: „Wir brauchen das Referat zum Einstieg.“
Thorsten ganz entrüstet: „Nein, das geht nicht. Auch wenn wir das zusammen gemacht haben, kenne ich ja Lenas Part nicht. Lena hatte den ersten Teil. Der fehlt ja dann. Und ich hab ihre Folien ja auch nicht mit. Das geht auf keinen Fall!“
Okay, das kann durchaus Sinn machen, denke ich mir. Wenn ein Referat auf bestimmten Tatsachen aufbaut, fehlen möglicherweise für die Zuhörer wichtige Informationen. „Aber das ist ja noch kein unlösbares Problem,“ sage ich zu Thorsten. „Die Informationen, die Lisa zur Verfügung hatte, kann ich möglicherweise auch so ergänzen. Ich übernehme dann Lisa Teil und du machst deinen.“
Thorsten, jetzt gänzlich echauffiert: „WAS?? Nein, wie soll das denn gehen? Das ist doch gar nicht abgesprochen. Das geht doch nicht. Und außerdem habe ich doch auch das Hand-Out und die Folien nicht mit.“
„Moment. Du hast eben gesagt, du hast LISAS Folien nicht mit,“ erwidere ich. Thorsten grinst. „Und hast du nicht auch gesagt, dass du sie gestern gesehen hast? Warum hast du dann das Material nicht dabei?“
Thorsten grinst wieder: „Ja...... Äh.....“ Das Gespräch verläuft im Sande. Okay, dann muss ich improvisieren. Kein Problem, man ist ja Profi.
So haben wir auch mehr Zeit für die Arbeit mit dem Atlas. Naja... die hätten wir, wenn nicht wieder nur drei von 22 Schülern einen Atlas dabei hätten: „Was, den sollten wir mitbringen? Das haben Sie gar nicht gesagt.“, „Mein Bruder brauchte den heute“, „Ich wollte den nicht mitbringen. Der ist doch schon sechs Jahre alt. Ich dachte, der ist veraltet“... Okay. Dann muss es irgendwie mit der Afrika-Wandkarte gehen. Auch wenn dort noch „Deutsch-Südwest-Afrika“ und das „Deutsche Reich“ als Größenvergleich abgebildet sind.
Auf dem Weg zum Kartenraum werde ich durch ein Poltern aufgeschreckt. Auf der Treppe liegt „Coolio“, sein Mützchen in einer Lache Actimel, welches dem ursprünglichen Besitzer zur Stärkung der Muskelkraft wohl zu spät kam, unter seinem Schuh eine verlorene Salami-Scheibe, auf der er offensichtlich ausgerutscht ist. „Coolio“ jammert: „Oh, Herr Meier. Können Sie mir helfen?“ Ich murmle nur ein „Das war doch nicht meine Salamischeibe. Wieso sollte ich dir helfen, es gibt doch einen Flurdienst“ und „In 2 Stunden kommen doch die Putzfrauen. Die haben dann ja nichts mehr zu tun,“ und verschwinde im Kartenraum.
In der 6. Stunde stürmt eine 8. den Erdkunderaum. Dabei spielt sich folgende Szene ab: Florian sitzt in der ersten Reihe. Er beweist Weitblick, als er gleich beim Betreten bemerkt, dass an seinem Platz kein Stuhl steht. Also nimmt er im Vorbeigehen einen Stuhl aus der 2. Reihe und hievt ihn in einem abenteuerlichen Manöver über die Tischreihe auf seinen Platz und setzt sich. Unterdessen kommt Dennis an seinem Platz in der 2. Reihe an. „Oha,“ denkt er sich, „da fehlt ja ein Stuhl“. Was er nicht weiß: Dieser steht unter Florians Gesäß in der ersten Reihe. Also nimmt er den Stuhl vom Nebenplatz und setzt sich. Als nun Martin an eben diesem Platz ankommt, an dem nun ein Stuhl fehlt, wiederholt sich das Schauspiel etwa drei-, viermal, bis Igor die Klasse betritt und an seinem Platz – oh Wunder – ein Stuhl fehlt. Seine Nebenleute amüsieren sich köstlich, sitzen sie doch auf seinen Stühlen. Was ich noch hinzufügen muss ist, dass der 17-jährige Igor nicht nur seine Mitschüler um 20cm und 30kg übertrifft, sondern auch noch Quarterback im Jugend-Footballteam des SV-Holtorf Sportgruppe Süd ist. Die folgende, etwas unschöne Szene kürze ich mal ab: Nie wieder wird irgendjemand Igor irgendetwas wegnehmen!