In einem anderen Thread wird eine interessante Diskussion zum Thema Klassengröße geführt.
Ich möchte das Thema mal noch aus einem etwas anderern Blickwinkel betrachten und damit einige Gedanken ausformulieren, die mir schon seit einiger Zeit im Kopf rumschwirren. Da ich dabei doch recht stark vom eigentlichen Beitragsthema abkomme, mache ich mal einen neuen Thread auf.
In der genannten Diskussion wurde ja unter anderem die Frage aufgeworfen, ob es nicht an fehlender Disziplin und mangelndem Leistungswillen der SchülerInnen liegen könne, dass ein Unterricht in goßen Klassen nicht (mehr) funktioniert. Auch der IQ oder die übermäßige Betonung des Spaßprinzips wurden angesprochen. In allen Fällen liegt der Focus mehr oder weniger stark auf den Schülern und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in die sie eingebettet sind.
Ich drehe den Spieß jetzt mal um. Um es gleich deutlich zu sagen, geht es mir dabei aber nicht um eine Schuldzuweisung nach dem Motto: Wir Lehrer sind zu doof große Klassen zu unterrichten, obwohl es doch gehen müsste (laut der eingangs erwähnten Studie). Doch so wie die Schüler zumindestens zum Teil ein Produkt ihrer Gesellschaft sind, sind wir diesen Einflüssen natürlich auch ausgesetzt. Meine These wäre nun, das sich insbesondere jüngere Lehrer (zu denen ich auch gehöre) Verhaltensweisen zu eigen machen, die gesellschaftlich zwar völlig normal und akzeptiert sind, sich aber auf unsere berufliche Tätigkeit - und insbesondere auf unsere Arbeit in großen Klassen - teilweise negativ auswirken können.
Ich muss noch ein wenig weiter ausholen, um mich verständlich zu machen.
Drei Bereiche halte ich für besonders bedenkenswert:
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[*]Das Verschmelzen von Jugend- und Erwachsenenwelt
[*]Das Prinzip der "partnerschaftlichen Erziehung"
[*]Gewandelte pädagogische Leitsätze
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In vielen Lebensbereichen (Mode, Musik, Freizeitverhalten...) lässt sich seit Jahren beobachten, das die Grenzen zwischen Jugend- und Erwachsenenwelt verwimmen. Ein Großteil der Musik die ich höre, hören meine SchülerInnen bspw. auch.
In vielen Bereichen sind Erwachsene Jugendlichen also heute "näher" als früher. Die größere emotionale Nähe bewirkt aber bei uns möglicherweise eine geringere Konfliktfähigkeit bzw. -bereitschaft: Stehe ich den SuS nahe, kann ich ihr (nicht regelkonformes) Verhalten gut nachvollziehen (weil ich mich in bestimmten Situationen ja ähnlich verhalte oder zumindest ähnlich denke), neige ich evtl. eher dazu, Verhalten der SuS zu entschuldigen oder zumindest in einem milderen Licht zu betrachten.
Das kann oft genau die richtige Strategie sein, um eine Situation nicht unnötig eskalieren zu lassen. Wir werden uns aber wohl einig sein, dass Jugendliche eben auch klare Grenzen und entsprechende Konflikte bei Grenzüberschreitungen zur erfolgreichen Sozialisation brauchen. Ich würde aber behaupten, dass wir ihnen diese aus den oben angesprochenen Gründen nicht mehr in dem Maße bieten, wie es vielleicht sinnvoll wäre.
Der "partnerschaftliche Erziehungsstil" verstärkt diese Tendenz. Eltern betrachten ihre Kinder oft schon im Kleinkindalter als eigenständige, charakterfeste Persönlichkeiten. Das Kind ist ein gleichberechtigter Lebenspartner. Regeln werden deshalb erklärt und nicht durchgesetzt, unabhängig davon, ob das Kind entwicklungspsychologisch in der Lage ist, eine Erklärung zu verstehen. Endlose Diskussionen sind die Folge. Fortgesetztes Fehlverhalten wird von Elternseite mit dem "eigenen Charakter" des Kindes und seiner ausgeprägten Selbstständigkeit entschuldigt.
Michael Winterhoff beschreibt das Problem anschaulich und detailliert in seinem Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen werden". (Nebenbei: Ich halte das Buch in vielen Details für problematisch, der Grundanalyse stimme ich jedoch zu.)
Ich würde behaupten, dass auch viele Lehrer zumindest Teile des partnerschaftlichen Erziehungsstil verinnerlicht haben, schließlich können wir uns nicht von gesellschaftlichen Trends abkoppeln. Diese Sichtweise verstärkt aber das Problem der mangelnden Konfliktbereitschaft. Als "Partner" erfahre ich zudem einen Autoritätsverlust, denn ich stehe ja auf "Augenhöhe". Deshalb ist es auch für SuS dann nichts ungewöhnliches, wenn sie mit uns im Konfliktfall ähnlich umgehen wie mit Gleichaltrigen.
Schließlich kommen bestimmte Veränderungen im pädagogischen Bereich hinzu. Ich bezeichne das als "Auflösung von Strukturen". Das fängt schon im Kindergarten mit dem Prinzip der offenen Gruppen an. Das Kind geht hier viel stärker als das früher der Fall war individuell seinen Neigungen nach. Das mag viele Vorteile haben. Gleichzeitig werden die Kleinen damit aber auch viel seltener mit Situationen konfrontiert, in denen sie als Teil einer großen Gruppe einfach "funktionieren" müssen - unabhängig davon, ob das, was man gerade tut, Spass macht oder nicht. Wenn wir in den weiterführenden Schulen im Sinne der neuen Bildungsstandards verstärkt auf methodisches Lernen Wert legen, mit dessen Hilfe der Schüler zum selbstbestimmten Lernen erzogen werden soll, setzen wir dieses Prinzip in abgewandelter Form oft weiter fort.
Fazit:
Zum erfolgreichen Lernen in Großgruppen bedarf es (neben anderen Faktoren) einem notwendigen Maß an klaren Strukturen und Reglen sowie einem "Leithammel", der die Einhaltung derselben überwacht. Die beschriebenen Vorgänge untergraben jedoch diese Rolle des Lehrers. Gleichzeitig bleibt die Fähigkeit zur Integration in größerer Lerngruppen auf Seiten der SuS unterentwickelt, da sie z.B im Kindergarten aber auch an den Schulen nicht mehr in dem Maße eingefordert wird, wie das früher der Fall war.
Hm, dass ist jetzt länger geworden, als ich dachte.