Erstklässlerin verweigert und schottet sich ab

  • Hallo zusammen,
    ich wäre dankbar für eure Meinung / euren Rat zu folgender Situation:


    Ich bin seit September Klassenlehrerin einer ersten Klasse.
    In den letzten Wochen kam es bei einer meiner Schülerinnen zu einer Verweigerungs- und Abschottungshaltung, die von Tag zu Tag schlimmer wird.


    Am Anfang hatte ich den Eindruck, dass die Schülerin vom Kennenlernen der Buchstaben über das freie Schreiben bis hin zum Rechnen (und was sonst noch in der 1. Klasse gemacht wird) alles gerne und motiviert angeht.


    In letzter Zeit ist sie aber kaum dazu zu motivieren, in einer Stunde auch nur mehr als zwei Wörtchen zu schreiben oder zwei Aufgaben zu rechnen. (Dabei kann sie das eigentlich recht gut.) Sie hat eine Ablehnung gegen alles, was mit Schreiben zu tun hat.


    Ich muss dazu sagen, dass die Kinder sehr selbstständig und in ihrem eigenen Tempo arbeiten können. Es besteht für das Mädchen also keinerlei Zeitdruck. Dennoch vermute ich eine Art von Überforderung, ich weiß bloß nicht, worauf sie zurückzuführen ist. Ich habe mir schon überlegt, ob sie von der auf Selbstständigkeit ausgerichteten Unterrichtsorganisation überfordert sein könnte und eigens für sie einen Plan entworfen, auf dem genau festgelegt ist, mit welchem Material bzw. Heft sie arbeiten soll, doch auch diese konkreten Vorgaben lehnt sie ab. Auch gemeinsame Phasen boykottiert sie und weigert sich beispielsweise gelegentlich in den Stuhlkreis zu kommen. Es könnte sein, dass sie sich in der Klasse nicht wohl fühlt, ich erkenne aber keine Anzeichen für die Ursachen. Gemeinsam mit ihr und ihrer Mutter habe ich überlegt, mit welchen ihrer Mitschülerinnen sie sich am besten versteht und habe die Kinder entsprechend zusammengesetzt. Doch sie versucht erst gar nicht, freundschaftlichen Kontakt zu diesen Kindern aufzunehmen, sondern fühlt sich wegen jeder Kleinigkeit von ihrer Sitznachbarin geärgert. (Fällt ihr beispielsweise ein Heft herunter und die Nachbarin hebt es netterweise auf, sagt sie zu ihr, sie solle ihr das Heft nicht wegnehmen.)


    Je deutlicher man eine Forderung an sie richtet, desto mehr blockt sie diese ab. Wenn ich hart bleibe und nicht nachgebe, spitzt sich die Situation derart zu, dass sie sich total abwendet und sich zurückzieht. Ich weiß nicht, wie ich auf dieses Verhalten reagieren soll. Bestehe ich auf meine Forderungen, macht sie total zu und lässt sich auch nicht von angekündigten (und eingehaltenen!) Konsequenzen beeindrucken, lasse ich sie gewähren, tut sie nichts. Ich habe das ungute Gefühl, dass so wertvolle Lernzeit für sie verloren geht.


    Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass es um die L-S-Beziehung nicht schlecht steht. Sie kommt morgens gut gelaunt in die Schule und sucht den Kontakt zu mir.


    Ich bin ratlos und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Wie kann ich dieser Schülerin einen Weg in die Klassengemeinschaft ebnen und sie zum Lernen motivieren?


    Vielleicht hat jemand ähnlich Erfahrungen und einen Rat für mich.
    Ich möchte nicht, dass für dieses Kind schon in der 1. Klasse so vieles schief läuft!


    Vielen Dank schon einmal!


    Mila

  • Ich würde mit der Mutter reden, was die Kleine denn so von der Schule erzählt. Irgendwas steckt dahinter. Vielleicht aber auch nur etwas undramtisches, wie Erschöpfung (nun sind ja auch bald Ferien) oder Langeweile (nun findet sie Schule langweilig, denn es ist nicht mehr neu). Meine Kleinen sind auch langsam angepisst von immer schreiben, lesen, rechnen.

  • Mit den Eltern reden würde ich auch auf jeden Fall.


    Zum Punkt: Sie will nicht arbeiten, nicht unter Druck, nicht wenn du sie laufen lässt.
    Ich habe auch so einen Schüler: Ich habe bei ihm zeitweise Erfolg, wenn ich ihn, wenn er meint er hätte keine Lust oder doch nur rumspielt anstatt zu arbeiten, sein Arbeitsmaterial wegnehme und sage: "Du darst heute nicht mehr arbeiten". Dann darf er in der Stunde aber auch nicht rumspielen, sondern muss ordentlich an seinem Platz sitzen bleiben. Ziel: Er soll sich langweilen und dadurch wieder Lust am Arbeiten haben. Hört sich evtl. hart an, aber es funktioniert. Manchx funktioniert bei ihm auch, dass er, wenn er in der Stunde nicht arbeitet, dies in der Pause nachholen muss. Das funktioniert bei ihm auch. Vielleicht auch bei deiner Schülerin.


    Bei mir stäubte sich anfangs auch ein Kind total gegen das Schreiben, er hatte die totale Panik vor der Anlauttabelle, zu viele Buchstaben/Laute. Er hatte regelmäßig Bauchschmerzen, als wir schreiben wollten. Ich habe die Mutter gebeten die Anlauttabelle Zuhause stärker zu üben, nach und nach hat er sich mit mir zusammen ans Schreiben gewagt und macht es mittlerweile gern.

  • Danke für die Antwort!


    Das mit der Pause habe ich mir auch schon überlegt. Das werde ich beim nächsten Mal probieren.

  • Das, was du beschreibst, kommt gar nicht so selten vor. Erstklässler beginnen mit viel Freude und Elan sich dem zu widmen, was in der Schule als 'Lernen' bezeichnet wird. Plötzlich steht alles still. Lerneifer und Kontaktbereitschaft werden reduziert, in deinem Fall sogar abgelehnt.


    Meine Vermutung: Inzwischen hat das Kind beim schulischen Lernen irgendetwas erlebt, dass es veranlasst sein anfängliches Engagement einzustellen. Es könnte sein, dass dieses Erleben im Bereich des Misserfolges liegt. Auch Erwachsene reagieren bei Misserfolg so ähnlich: Sie stellen das Lernen auch ein, weil sie plötzlich feststellen, sie können das, was sie lernen möchten, nicht erreichen. So hat z.B. eine vierzigjährige Frau aus meinem Bekanntenkreis das mit Freude begonnene Klavierspielen aufgegeben, weil sie Schwierigkeiten dabei erlebte, die sie nicht meistern konnte. Entmutigt hörte sie auf. Dies könnte bei deiner kleinen Schülerin so ähnlich sein. Sie könnte z.B. festgestellt haben, dass sie nicht so schön, nicht so schnell ... schreiben kann, wie andere Kinder ihrer Klasse. Sie möchte aber genauso erfolgreich sein, wie die anderen Kinder - das ist ein Grundbedürfnis jeden Schülers, ja ich würde sagen ein allgemein menschliches Grundbedürfnis: Jeder möchte mit den anderen mithalten können.


    Es könnte weiter der Fall sein, dass man zu Hause enttäuscht ist, weil das Kind nicht so erfolgreich lernt, wie es am Anfang den Anschein hatte. So muss die kleine Schülerin beides verkraften: Die eigene Enttäuschung und die der Eltern, Geschwister ... Dies kann sehr beeinträchtigend für eine Erstklässlerin sein. Wie beeinträchtigend, hängt u.a. ab von der persönlichen Konstitution (Frustrationstoleranz, Reife, Belastbarkeit ...), von der Fähigkeit der Umgebung zu merken, dass dieses Kind da ein Problem hat...


    Die Zuneigung zur Lehrerin bringt sie womöglich zusätzlich in Schwierigkeiten. Da sie erlebt hat, dass ihr vieles nicht so gelingt, wie sie bzw. ihre Umgebung sich dies wünscht, verweigert sie die Erfüllung der Anforderungen, weil sie vielleicht fürchtet, dass sie getadelt wird, dass sie die Zuneigung ihrer Lehrerin verliert und sie in den Augen ihrer Mitschüler an Wert verliert. Vielleicht wird sie ausgelacht oder von ihren Mitschülern abfällig kritisiert? So steckt sie in einer Sackgasse. Sie möchte lernen und hat Schwierigkeiten erlebt und meint, es geht nicht. Also stellt sie es ein.


    Es hilft herauszufinden, 'wie' sie zu ihrer entmutigenden Schlussfolgerung gelangt ist. Du könntest sie vielleicht fragen, wie es kommt, dass sie jetzt nicht mehr so gern schreibt. Meistens fällt Kindern dazu etwas ein, wenn man ihnen Raum dafür lässt. Warum-Fragen bringen dagegen nichts, denn meistens ist es Bündel von Faktoren, die kleine und große Menschen zum aufgeben veranlassen. Sie hat irgendwie resigniert, sie ist entmutigt.


    Biete ihr begleitend andere Schreibgeräte, Papiere, Tafeln zum Schreiben an. Es ist dabei wichtig, jeden Druck von ihr zu nehmen - d.h. nicht sie in Ruhe zu lassen. Im Gegenteil: Sie braucht jetzt geduldige Anleitung. Du könntest ihr sagen, dass sie nicht schreiben muss, denn niemand muss lernen. Sie kann aber lernen, wenn sie es möchte und du kannst ihr in Aussicht stellen, mit ihr gemeinsam herauszufinden, wie sie Schreiben lernen kann, wenn sie es möchte. Sie vertraut dir und das ist die Brücke über die das gemeinsame Herausfinden und ihre Weiterentwicklung gelingen kann.


    Die Auffassung, nicht lernen zu müssen, steht im Gegensatz zu dem, was wir Lehrer sonst glauben denken zu müssen. Wir machen Druck, wenn Schüler sich verweigern. Doch Du schreibst ja schon, dass dies überhaupt nichts bewirkt. Denn das Kind hat sich entschieden. Das Kind befindet sich m.E. eigentlich in einem Irrtum, der dazu führt, dass es das Problem auf eine Weise löst, die sich eigentlich gegen sein ureigenstes Lernbedürfnis richtet. Es kommt darauf an, ihm aus diesem Irrtum herauszuhelfen und ihm Möglichkeiten des Weiterlernens aufzuzeigen - ohne Druck, ohne Tadel, ohne Apelle ...


    Monika

    Die Disziplin des Lernens unterscheidet sich von der Disziplin der Schule.

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