Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten Trends im Bildungswesen – eine kritische Betrachtung
Erschienen in THEMA Hochschule Fulda 2/2006, S. 4-6 Timm Grams, Fachhochschule Fulda, http://www.fh-fulda.de/~grams
Um international mithalten zu können, verlangt die Gesellschaft, dass unsere Absolventen sowohl fachlich und sozial kompetent als auch kreativ sind. Dafür wird zu wenig getan.
Über die Lage der Naturwissenschaften und der Mathematik an unseren Schulen und in der Gesellschaft gibt es inzwischen reichlich Daten und Analysen. TIMSS und PISA sind oft zi-tierte Untersuchungen. Die mathematische Vorbildung angehender Ingenieure war das Thema des Fuldaer Seminars „In Mathe schwach“ (Grams, 2005). Ich will dem noch ein paar Punkte hinzufügen und die Verbindung zur derzeitigen Hochschulenentwicklung herstellen (Bolog-na-Prozess, Ökonomisierung).
Gedacht ist das als Beitrag zu einer Diskussion, die bislang vorrangig in der Politik, nicht aber an den Hochschulen geführt wird. Dort gehört sie aber eigentlich hin.
Trend zur Oberflächenkompetenz
Die Evaluation meiner Lehrveranstaltungen für Erst- und Zweitsemester offenbart die folgen-den Studentenwünsche: „Der Lehrinhalt müsste schneller übermittelt werden.“ „Der Lehrende sollte direkter auf das gewünschte Lernziel zusteuern.“ „Es müsste mehr Minibeispiele ge-ben.“
Verlangt werden also ein größeres Angebot an Rezepten – „mit denen ich dann viel Geld ver-dienen kann“, wie vor Jahren einmal ein Student meinte – und ein Mehr an routinemäßiger Anwendung derselben. Bedarf an einem tieferen Verständnis und an eigener Entdeckungsar-beit wird nicht geäußert.
Mit vielen Minibeispielen, die sich routinemäßig lösen lassen, lässt sich eben mit wenig geis-tigem Aufwand ein bescheidener Lustgewinn erzielen.
Auch zum Studienabschluss hat noch nicht jeder ganz begriffen, worum es geht. Wir sind im Kolloquium zu einer Diplomarbeit. Es geht um Parameterschätzungen. Der Kandidat antwor-tet auf meine Frage, was die von ihm benutzte Excel-Funktion „Solver“ so mache: „Damit habe ich mich nicht befasst.“
Informatik-Gurus unterstützen diesen Trend zur Oberflächenkompetenz. Beispielsweise for-dert Klaus Haefner von der Universität Bremen: “Jedem Schüler ein Notebook” (24.11.00, Fulda). Er meint, dass Lesen, Sprechen, Kreativ-Sein, Innovationsfähigkeit, Organisieren-Können, Solidarisch-Sein typisch menschliche Qualifikationen seien. Für den Rest, nämlich die „kognitive Sklavenarbeit“, habe man das „Denkzeug“: “Schreiben und Rechnen wird nicht mehr gebraucht. Sprechen und Lesen reicht.”
Dagegen wende ich ein: Schüler, die nicht mehr schriftlich mit Zahlen umgehen, verlieren den Begriff der Zahl. Diese Menschen werden später dem Computer hilflos ausgeliefert sein und ihn nicht oder falsch verstehen. Der Rechner kann nämlich aus prinzipiellen Gründen die Welt nie eins zu eins abbilden. Die Computerarithmetik weicht von unseren mathematischen Vorstellungen ab. Programmierfehler sind allgegenwärtig. Modellierungsfehler auch. Die Bedienoberflächen stecken voller Fallen.
Wenn José Encarnaçao von der Technischen Universität Darmstadt, die Virtualisierung als Abfolge „Reale Umgebung → Abstraktes Modell → Digitale Repräsentation“ darstellt, dann
- 2 -
übersieht er, dass wir gar nicht wissen, was real, ist und dass es die Hauptaufgabe der Wis-senschaft ist, auf die Frage nach der Realität brauchbare Antworten zu liefern.
Auch Encarnaçaos Abfolge illustriert den Trend zur Oberflächenkompetenz und die Gefahr des Verlusts von Hintergrundwissen. Denn er geht noch weiter: Für ihn sollte virtuelle Reali-tät ein vorrangiges Lehrmittel sein.
Das geht dann hin bis zum Edutainment im Kinderzimmer. Kindern wird es durch die Ab-schirmung von der „wirklichen Wirklichkeit“ immer schwerer gemacht, ihre Umwelt zu be-greifen (Manfred Spitzer, 2002, 2005; Gerhard Neuweiler, Spektr. d. Wiss. 1/2005).
Mit dem allgemeinen Trend zur Oberflächenkompetenz geht das sinkende Interesse von Schülern einher, einen Ingenieurstudiengang zu beginnen. Schüler und Schülerinnen halten sich zwar für Experten im Umgang mit der Technik, zeigen jedoch geringes Interesse, sich intensiv mit der komplexen Materie zu befassen (Kirsten Schindler, 2005).
Die folgende Geschichte aus einer höheren Schule markiert so etwas wie den Endpunkt der Entwicklung. Ein Schüler weigert sich, die Integralrechnung zu lernen. Seine Begründung: Auf meinem Taschenrechner gibt es das Integralzeichen. (Mitgeteilt von Carsten Rathgeber, Fulda.)
Das Lehrkonzept des Abholens funktioniert nicht
Unsere Pädagogik ist seit den 60-er Jahren auf das Beseitigen von Hindernissen ausgerichtet. Eine pädagogische Volksweisheit lautet so: „Man muss die Leute dort abholen, wo sie sind“.
Dort wo „die Leute“ sind, dort ist die Sesamstraße, dort sind bild- und lustorientierte Einweg-vermittlungen, forderungsfreie Glücksversprechungen, „elektronische Schnuller“ – Suchtmit-tel also, die zum viel beklagten Konsumverhalten in der Bildung verführen.
Genau das ist es, was ich auf meinen Veranstaltungen zur Lehrerfortbildung von den Lehrern höre: „Ohne grafische Bedienoberfläche kriege ich meine Schüler nicht an den Rechner“.
Es wird mit Videoeinspielungen gearbeitet und mit mathematischer Experimentiersoftware. Kurven lassen sich mit der Computer-Maus manipulieren; die Lösungen kommen daher, noch bevor das Problem so richtig wehtun kann. Ich frage mich, was die Schüler dabei lernen sol-len. Da kann doch nichts haften bleiben – bestenfalls entsteht eine Weltbeherrschungsillusion.
Ich bin überzeugt davon, dass „Abholen“ nicht funktioniert, wenn es heißt „Mehr desselben“. Die Konkurrenz gegen Steven Spielberg und George Lucas können wir nicht gewinnen.
Bildung als leicht konsumierbare Ware
Der Zeitanteil der naturwissenschaftlichen Kurse am gesamten Angebot von Volkshochschu-len beträgt – wenn man einmal Feng-Shui, Astrologie und Veranstaltungen wie „Grillen in der Streuobstwiese“ nicht mit dazu zählt – weniger als ein Prozent.
Auf einer „Krisensitzung“ der Volkshochschule wird beraten, wie man den Leuten die Na-turwissenschaften mundgerecht nahe bringen kann. Ein Teilnehmer schwimmt gegen den Strom: Wir versuchten immer, den Leuten klar zu machen, wie einfach die Naturwissenschaf-ten sind. Er glaube nicht, dass man so das Interesse wecken könne. Medizin und Juristerei seien vergleichsweise hoch angesehen. Und in diesen Fächern finde man ein ganz anderes Verhalten: Man stelle sich als Elite dar, zu der jedermann gern gehören möchte; und für die Erreichung dieses Ziel sei dann jede Anstrengung gerechtfertigt.
Vielleicht ist es tatsächlich so: Indem wir den Schülern und Studenten immer wieder sagen, dass alles gar nicht so schwer ist, und indem wir mit Bildchen und Animationen die scheinba-re Harmlosigkeit darstellen, nehmen wir dem Thema die Faszination.
- 3 -
Im Extremfall ist es so, dass der Lehrer dem Schüler die Sache nahe bringt, ohne dass der Schüler sich von sich aus der Sache nähert. Aktiv ist der Lehrer – passiv der Lernende. Der Lehrer sorgt für mundgerechte und leicht verdauliche Bildungshäppchen, lockert das Ganze mit Bildern und Filmen auf (denn: Spaß muss sein). Er achtet darauf, dass alles in kleine Schubfächer passt, so dass der Denkapparat des Schülers möglichst nicht überlastet wird. Er stellt auch sicher, dass nach der termingerechten Erledigung dieser Wissensportionen im Rahmen einer Klausur später nicht mehr darauf zurückgegriffen wird. Die Schubfächer unter-liegen nämlich der ökonomischen Mehrfachnutzung: Vom abgehakten Wissen restlos gesäu-bert sind sie aufnahmebereit für neue Wissensportionen.
Wen wundert’s, dass in dieser Lage ein Schüler den Lehrer fragt: „Was wollen sie tun, damit ich bestehe?“ (Mitgeteilt von Hellmut Scheuermann, Hofheim im Taunus.)
Solcherart andienende Pädagogik ist weder gerecht noch sozial. Ihre Folgen sind
• Oberflächliches Entertainment und Verlust der Freude am Problemlösen
• Konsumentenhaltung und Passivität
• Beschränkung auf Routinetätigkeiten, auf etwas also, das der Computer besser kann
• Verlust der Fähigkeit der Abstraktion und des Denkens in Konzepten
• Schubfachdenken anstelle vernetzten Denkens
Hochschulentwicklung in falscher Richtung
Nicht nur an den Schulen sieht es so aus. In dieselbe Richtung geht der aktuelle Trend, Hoch-schulen als Dienstleistungsunternehmen zu sehen.
Dahinter steckt die Vorstellung, dass vornehmlich die Hochschulen zu liefern haben. Der Kunde Student ist der Abnehmer. Er soll nach diesem Denkmuster zukünftig ja auch vermehrt zur Zahlung für die Lieferungen herangezogen werden. Konsequenterweise haben Hochschu-len heute ein Marketing und ein Corporate Design – als müssten sie Waschmittel unter das Volk bringen.
Es gibt weitere Anzeichen für die Ökonomisierung der Bildung.
Der Bologna-Prozess fördert 1. die Work-Load-orientierte Beurteilung von Lehrveranstaltun-gen, 2. die Evaluation nach vordergründiger „Kundenzufriedenheit“, und 3. die Orientierung der Erfolgsbeurteilung der Fachbereiche nach der Zahl der „gelieferten“ Absolventen.
Wen wundert es, wenn Kollegen dazu übergehen, die Leistungsanforderungen am Leistungs-willen der Studierenden auszurichten? Und wem ist zu verübeln, wenn er unter diesen Rand-bedingungen auf das Bohren dicker Bretter verzichtet und stattdessen einen Stapel dünner Bretter vorlegt?
Das System standardisierter und separat abprüfbarer Wissenshäppchen findet seinen instituti-onalisierten Niederschlag in einem unnötig starr ausgeprägten Modulsystem.
Außerdem wird das System der gestuften Abschlüsse, insbesondere der Bachelor-Abschluss, eine Nivellierung nach unten bewirken.
Vom passiven zum aktiven Lernen
Die Lehre muss sich, wenn sie gelingen soll, an ein paar grundlegenden Ideen orientieren. Diese müssen wir nicht neu erfinden. Aber offenbar muss man heute wieder einmal daran erinnern.
Gelingendes Lernen startet mit einem Gefühl der Unwissenheit, die hilflos macht. Am Anfang muss eine bewegende Frage stehend, „bewegend im Sinne von beunruhigend“ (Martin Wa-genschein, 1968).
- 4 -
Startpunkt aller pädagogischen Bemühungen ist, Betroffenheit beim Lernenden zu erzeugen. Das Mittel dafür ist die Konfrontation mit dem Unvollkommenen.
Anregungen zu dieser Methode gibt es schon seit vielen Jahrzehnten. Walter Lietzmann, Ge-org Pólya, Max Wertheimer, Martin Wagenschein und andere haben hier Bahn Brechendes geleistet.
Die produktive Auseinandersetzung mit dem Unvollkommenen kann echte Freude bereiten: „Hindernisse überwinden ist der Vollgenuss des Daseins“ (Arthur Schopenhauer). Felix von Cube, der Verhaltensbiologe und Erziehungswissenschaftler, drückt es so aus: „Lust ohne Anstrengung ist ein Langweilefaktor. Die verdiente Belohnung von Anstrengung erfahren wir intensiver“. Seiner Meinung nach liegt das daran, dass der Mensch von der Evolution für eine harte Wirklichkeit – sozusagen für den Ernstfall – programmiert ist und nicht für das Schla-raffenland.
Ein Erlebnis aus einer Lehrveranstaltung im höheren Semester demonstriert das. Es ist ein größeres Projekt zu bearbeiten. In seinem Verlauf sind einige ziemlich harte Nüsse mathema-tisch-logischer und programmiertechnischer Natur zu knacken. Das Genörgel während des Semesters angesichts der hohen Anforderungen und der frustrierenden Fehlversuche ist un-überhörbar. Aber es ist genau diese Lehrveranstaltung, bei der ich zum Schluss in wirklich strahlende Augen blicke. Die Studenten können das Glücksgefühl anlässlich der erledigten anspruchsvollen Aufgabe nicht so recht unter ihrer sonst gern zur Schau getragenen Coolness verbergen.
Wir müssen aufpassen, dass es auch zukünftig Raum für solche Erlebnisse gibt. Eine Hoch-schulentwicklung, die solche Gelegenheiten immer seltener werden lässt, ist verkehrt.
Fulda, Samstag, 19. August 2006 Timm Grams
Fand ich ganz interessant
Gruß
E_T