Lesekompetenz - Berufsschulklasse bringt mich an meine Grenzen

  • Hallo zusammen,


    ich unterrichte seit ein paar Wochen Deutsch in einer Berufsschulklasse. Die Schüler machen allesamt eine Ausbildung über einen Bildungsträger,das heißt, sie sind hauptsächlich dort und "üben" den Beruf, absolvieren darüber hinaus auch Praktika.


    Die Ausbildung wird durch das Arbeitsamt finanziert, da sie auf dem Lehrstellenmarkt aus den verschiedensten Gründen keine Chance haben.


    Die meisten sind bereits Anfang 20, einige junge Mütter sind dabei, viele mit ziemlich sprunghaften Lebensgeschichten.
    Ich mag die Klasse gerne, sie sind lebhaft und auch interessiert.


    Das große Problem an der Sache ist: Die meisten (nicht alle!) Schüler können nur auf sehr niedrigem Niveau lesen (wurde auch in einem Lesetest festgestellt). Sprich: ein Artikel in einer Tageszeitung, ein Abschnitt in einem berufsbezogenen Sachtext überfordert sie schon völlig. Sie lesen ewig und wissen dennoch nicht, um was es in dem Text eigentlich geht Es fehlt absolut an Lesekompetenz. Selbst einfache Fremdwörter sind unbekannt.
    Kernaussagen erfassen, einen kurzen Text in eigenen Worten zusammenfassen: Unmöglich.


    Ich schaffe NIE, was ich mir für die Stunde vorgenommen habe, da immer wieder unüberwindbare Hürden auftreten, an die ich nicht gedacht habe.


    Muss momentan auch immer an die tollen Sachen denken, die ich im Studium gelernt habe: Kafka analysieren, die Rolle der Manns in der Exilliteratur, mittelhochdeutsch Grammatik und barocke Lyrik - ja toll, was ich jetzt dringend brauche, wäre eine Idee, wie ich mit dieser absolut nicht vorhandenen Lesekompetenz umgehe (von Schreibkompetenz will ich gar nicht erst anfangen).


    Mein erster Schritt war, eine Binnendifferenzierung innerhalb der Klasse vorzunehmen, damit sich die wenigen "Guten" wenigstens nicht langweilen.


    Dann habe ich versucht, die Ursachen zu erforschen.
    Teilweise ist die Schwäche darauf zurückzuführen, dass die jungen Leute aus Immigrantenfamilien stammen und erst mit 10, 12 oder 16 Jahren die deutsche Sprache gelernt haben. Daheim wird kein Deutsch gesprochen, sondern beispielsweise Russisch.
    Aber diese Erkenntnis bringt mich ja auch nicht wirklich weiter.


    Wenn ich nach Strategien zur Förderung der Lesekompetenz recherchiere, stoße ich massenweise auf Ideen und Literatur für die Primarstufe und die Sek 1. Ich habe es aber mit Leuten zu tun, die fast alle über 20 sind!


    Wo könnte ich nur ansetzen? Jeden ganz klassisch ein gutes Buch lesen lassen??
    Wenn sie sich nicht deutlich steigern, dann sehe ich absolut schwarz für die Prüfung, da viele momentan nicht in der Lage sind, überhaupt die Prüfungssituationen zu verstehen.
    :(

  • Liebe Mariposa,
    ich arbeite momentn als DAF-Lehrerin und mir kommt dein Problem als solches bekannt vor!
    Vielleicht hilft es dir, dich vom "normalen" DU erst einmal zu verabschieden und dich an DAF- oder DAZ-Büchern zu orientieren. Wichtig ist, glaube ich, diesen Suchweg im Internet zu gehen, da es natürlich erst einmal um den Spracherwerb geht und nicht um die Fördrung von Lesekompetenz von "normalen", deutschen Grundschülern. Aber in zweiter Linie geht es eben immer auch um die Lesekompetenz. Bei dem Verlag Hueber gibt es auch DAF-Bücher für Erwachsene Lerner.


    In den normalen Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache finden sich nach verschiedenen Niveaustufen und Grammatik-Problemen geordnet Texte, die didaktisch aufbereitet sind. Das ist zwar nicht Kafka oder Thomas Mann, hilft aber bei Schülern mit sprachlichen Schwierigkeiten weiter.
    Von Schroedel gibt es folgendes Buch: Deutsch als Zweitsprache, Sprachförderung in der Sek I, Grundlagen, Übungsideen Kopiervorlagen. Steht zwar Sek 1 drauf, ist aber durchaus auch für ältere geignet oder man kann die Sachen abwandeln. Ich habe damit schon gearbeit.
    Den Weg über D-als Zweitsprache scheint mir bei deiner Klientel am günstigsten zu sein, weil die didaktischen Probleme noch etwas anders gelagert sind als bei DAF.
    Ich habe natürlich noch nicht darüber nachgedacht, ob das mit irgendeinem Lehrplan kollidiert, wenn du dich mehr an Spracherwerb und der damit einhergehenden Lesekompetenz orientierst. "Prüfung" klingt ja nicht so schön, wenn man sich zuerst um andere Probleme kümmern muss.
    Ich wünsche viel Erfolg, gute Ideen und Durchhaltevermögen!


    Viele Grüße
    inixx

  • Stimme zu, ich verwende an einer 2-jährigen Berufsfachschule mit vorwiegend in Deutschland gebürtigen Schülern immer mal wieder ein DAF-Buch (oft um erschrocken festzustellen, dass die Grammatikkenntnisse unserer Schüler schlechter sind als die eines "richtigen" DAF-Schülers nach einem Jahr!!!)


    Die Erfüllung des Lehrplans soll natürlich weiterhin das Ziel sein, wenn aber sämtliche Grundlagen fehlen, müssen diese zuerst nachgearbeitet werden.


    Ohne Lesekompetenz und Textverständnis kann man schließlich keine Prüfung bestehen.

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