Hallo,
Ich muss im Rahmen eines Hauptseminars Abituraufsätze vom Deutsch-LK aus NRW von 2007 korrigieren. Ich habe ein Problem mit der ersten Teilaufgabe zur Lyrikinterpretation. Das Gedicht war "Vergänglichkeit der Schönheit" von Hoffmannswaldau!
In einem Aufsatz wurde der memento mori- Topos des Barock so gedeutet, dass sich die Frau nach dem Tod sehnt und deutlich erkennbar ist, dass sie ihre Hoffnung auf das Jenseits setzt. Der Schüler begründet das mit dem 2x verwendetem "endlich". Ich finde allerdings, dass das memento mori eher verdeutlicht, dass man sich des Todes bewusst sein soll. Dass er unaufhaltsam irgendwann kommen wird und nicht als Todessehnsucht erklären. Ich finde, dass diese Dimension im Gedicht nicht angelegt ist. Außerdem verstehe ich das "endlich" eher als "am Ende der Zeit". Man muss ja auch bedenken, dass das Gedicht zur Zeit des Barock entstanden ist und die Redewendungen anders waren. Ich weiß nicht, ob ich für den Gedanke des Shcülers Zusatzpunkte geben soll, weil ich das in meinem Erwartungsbild nicht einfließen lassen habe oder eher Punkte abziehen soll, weil ich finde, dass das eigentlich nicht so geht. Es ist problematisch, da ich nicht weiß, wie die Topoi des Barock im Unterricht behandelt wurden...
Was meint ihr? Ist vielleicht jemand hier, der das Abi korrigiert hat? Ich würde mich wirklich über Antworten freuen, da mir als Student die nötige Praxis in der Bewertung fehlt.
Liebe Grüße
Maria
Deutsch Abi in NRW Bewertung
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In "Vergänglichkeit der Schönheit" geht es meines Wissen eher um das Vanitas- als um das Memento-Mori-Motiv. Insofern hat der Schüler hier nicht besonders zutreffend interpretiert, finde ich.
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Das Problem ist, dass der Tod erwähnt wird- direkt! Und in den von NRW vorgegebenen Kriterienkatalog steht auch, dass memento mori vorkommen muss. Ich habe in meinem "probeaufsatz" allerdings komplett in die andere Richtung interpretiert...
Liebe Grüße -
Vielleicht bringt dich das ja weiter:
http://www.teachsam.de/deutsch…w_ub/hofmw_txt_4_ub_2.htm -
Danke für deinen Hinweis. Ich habe im Internet schon recherchiert und herausgefunden, dass es im Barock sowohl die Todesfurcht als auch die Todessehnsucht gab. Ich weiß nur nicht, ob sich eine schöne Frau, wie sie in dem Gedicht beschrieben wird, nach dem Tod sehnt. Ich bin mir bei der Bewertung generell unsicher, da ich nicht weiß, was im Unterricht behandelt wurde- ob z.B. auch die 2. Interpretationsmöglichkeit als Liebesgedicht behandelt wurde, ob man diese von Schülern für die Note sehr gut erwarten kann usw.
Liebe Grüße -
Hättet ihr vielleicht einmal das Gedicht zur Hand, das man das direkt am Text überprüfen könnte?
Nele
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Vergänglichkeit der Schönheit
Es wird der bleiche todt mit seiner kalten hand
Dir endlich mit der zeit um deine brüste streichen /
Der liebliche corall der lippen wird verbleichen;
Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand /
Der augen süsser blitz / die kräffte deiner hand /
Für welchen solches fällt / die werden zeitlich weichen /
Das haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen /
Tilgt endlich tag und jahr als ein gemeines band.
Der wohlgesetzte fuss / die lieblichen gebärden /
Die werden theils zu staub / theils nichts und nichtig werden /
Denn opfert keiner mehr der gottheit deiner pracht.
Diss und noch mehr als diss muss endlich untergehen /
Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen /
Dieweil es die natur aus diamant gemacht. -
Bevor man an historische Kontextualisierungen geht, finde ich die Frage relevant, ob die Interpretation des Schülers grundsätzlich stimmig ist. Voraussetzen können wir dabei, meine ich, ein "hermeneutisches" Textverständnis, also ein Verständnis, das annimmt, Texte seien mehr oder minder als Ganzes sinnvoll und in sich stimmig strukturierte Gebilde.
Der Schüler schreibt eine Interpretation, die wesentlich auf der zweifachen Verwendung des Wortes "endlich" basiert. Dieses Wort bedeutet seiner Meinung nach im Text nicht "schließlich" im Sinne einer bloß konstatierenden Äußerung, sondern bezeichnet die Erleichterung angesichts der Tatsache, dass etwas, was man erwartet und ersehnt hat, am Ende eintritt.
Tatsächlich kommt das Wort im Gedicht nicht 2, sondern 3 Mal vor, was vielleicht nicht ganz irrelevant ist. Ich finde, die erste Stelle lässt am ehesten die Interpretation des Schülers zu, zumindest, wenn man bereit ist, von historischen Kontexte zu abstrahieren:
ZitatEs wird der bleiche tod mit seiner kalten hand / Dir endlich mit der zeit umb deine brüste streichen /
Etwas mehr Probleme macht bereits Stelle 2:
ZitatDas haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen / Tilget endlich tag und jahr als ein gemeines band.
Hier ist allerdings bereits der Wortsinn der Zeilen nicht ganz leicht zu ermitteln. Gehe ich richtig: Das Haar, jetzt wie Gold, wird von der Zeit in ein "gemeines" (nicht prachtvolles) Band verwandelt? Wenn "endlich" hier einen Sehnsuchtsaspekt hat, meint es also die Freude am eigenen Verfall, man könnte denken: Weil dieser Verfall den Blick aufs Wesentlich erleichtert.
Recht schwierig im Schülersinne finde ich spontan die dritte Textstelle:
ZitatDiß und noch mehr als diß muß endlich untergehen /
Hier erzeut m. E. das Wort "muß" eine leicht Dissonanz bezüglich der Sehnsucht, die das "endlich" angeblich impliziert. Wenn man die Interpretation des Schülers also nur anhand der Verwendung von "endlich" in Frage stellen will, wäre hier ein Ansatzpunkt. Hier ist nicht mehr relativ neutral von "wird" oder "tilgt" die Rede, sondern der Aspekt des Zwangs kommt ins Spiel, der sich direkt mit dem "endlich" verbindet. Dies ist sicher ein Hinweis "endlich" neutral im Sinne von "am Ende" zu deuten.
Wenn man sich Mühe gibt, kann man aber auch hier Erklärungen finden, die dem Schüleransatz entsprechen. Das "muss" würde einfach den natürlichen Lauf der Dinge bezeichnen, den man auch begrüßen kann.
Man kann sich fragen, ob nicht noch mehr gegen die Schülerinterpretation spricht, wenn man den Blick erweitert (und zwar erneut: ohne historisches Kontextwissen). Ich finde, dass der Text insgesamt relativ nüchtern wirkt, TROTZ der starken Bildersprache. Beschrieben wird der Effekt des Alterns und des Todes, und zwar drastisch, aber zunächst ohne große Wertungen. Todessehnsucht ist dabei nur sehr bedingt zu entdecken. Bis auf die 3 "endlichs" gibt es, finde ich, eigentlich keine Belegstelle dafür. Damit wird die Interpretation in ihrem Material etwas dünn.
Dem entspricht die häufige Verwendung der Worte "wird/werden" - beschrieben wird die Zukunft in ihrem Sein, unbelastet von Wertungen. Die Moral des Textes ist denn m. E. auch nicht bzw. nur zum Teil auf den Tod gerichtet, sondern schon auf das Leben. "Innere Werte" - um es einmal etwas unscharf zu formulieren - sind das einzig Entscheidende, weil sie der Zeit widerstehen.
Ein sehr großes (!) Problem ist m. E. in diesem Kontext auch der Titel. Das Gedicht heißt nicht "Der kommende Tod", "Sehnsucht nach dem Tod" oder ähnliches, sondern "Vergänglichkeit der Schönheit" - und darum geht es ja auch, um eine Beschreibung (!) der verfallenden körperlichen Reize. Schon der Titel hat damit einen betont nüchternen, wenig emotional besetzten Zug.
DENNOCH finde ich, dass die Schülerinterpretation nicht so abwegig ist, dass man sie in Bausch und Bogen verdammen kann. Ich finde, Du solltest berücksichtigen, wie sehr der Schüler seine Überlegungen ausführt und inwiefern er auch evtl. Probleme, wie die eben genannten, auflöst. Wenn man als Deutschlehrer viele Barockgedichte gelesen hat, wird man im "endlich" vermutlich keine Sehnsucht erkennen - ich wäre jedenfalls nicht drauf gekommen - aber ich meine, wenn man versucht, kontextfrei zu lesen, kann man durchaus DEN Sinn akzeptieren, den der Schüler den Zeilen verleiht.
Allein für die Tatsache, dass er im Gebrauch von endlich einen "Sehnsuchts"-Aspekt erkennt, würde ich ihm daher vermutlich keine Punkte abziehen. Im Gegenteil finde ich diesen Gedanken durchaus interessant. Es bleibt natürlich die Frage, ob es dem Schüler gelingt, ihn mit weiteren Textsignalen in Einklang zu bringen.
Allerdings muss ich einschränken, dass ich nicht weiss, wieviel Gewicht die Korrekturichtlinien dem historischen Kontextwissen zuschreiben. Wenn man das Gedicht aus der Perspektive des 16. Jahrhunderts liest, wird man "endlich" wohl nicht im Sinne von "Gott sei Dank, es ist soweit" interpretieren, OBWOHL für das Barock sicher die Todessehnsucht ein wichtiger Aspekt ist (in DIESER Hinsicht liegt der Schüler dann ironischerweise auch historisch richtig...). Aber kann/muss/soll ein Schüler das wissen?
Also: Meiner Meinung nach ist die Deutung des "endlich" bei einer textimmanenten Betrachtung zunächst einmal akzeptabel, die Bewertung hinge dann wieder von der Gesamtinterpretation ab. Auch wenn man flüchtige Kenntnisse des Barock hat, ist die Deutung aber m. E. nicht total abwegig, allenfalls genauere Kenntnisse historischen Wortgebrauchs würden sie hier disqualifizieren.
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Aha - danke schön!
Ich halte die Todessehnsucht für eine Fehllesung, die allein schon dadurch klar wird, dass die Persona nicht die Frau ist - sie ist ein Sprecher, der die körperliche Vergänglichkeit eines weiblichen Körpers kommentiert.
"Endlich" heißt in diesem Kontext tatsächlich in einem älteren Sprachstand "letztlich" und drückt keine Sehnsucht aus.
M.E. ist in der Bildersprache des Gedichts sowohl der Vanitas-Gedanke als auch das memento mori ausgedrückt - man sieht die Schrumpelmumie der vertrockneten Matrone ja nachgeradezu vor sich! Gleichzeitig endet das Gedicht aber auch in dem Bild des diamantenen Herzens, dass die Beständigkeit jenseits der eitlen Vergänglichkeit des fleischlichen Lebens ausdrückt.
Nele
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Zitat
die allein schon dadurch klar wird, dass die Persona nicht die Frau ist - sie ist ein Sprecher, der die körperliche Vergänglichkeit eines weiblichen Körpers kommentiert.
Yepp, die Perspektivfrage finde ich auch wichtig, je nach sprachlicher Phantasie des Schüler reicht sie m. E. aber nicht aus, seinen Ansatz sofort zu verwerfen. Sie müsste in der Interpretation aber wohl angesprochen werden.
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Vielen, vielen Dank für die Antworten.
In meinem Erwartungsbild heißt der Punkt: Für die Note sehrgut muss der Prüfling das Vorhandensein der barocken Topoi (vanitas als zentrales Thema, memento mori, carpe diem) feststellen, am Text belegen und mit historischem Wissen begründen. Dafür gibt es 5 BE. Ich habe keine genaueren Anforderungen über die einzelnen Topoi formuliert. Aber in meinem exemplarischen Abiaufsatz habe nicht auf die Thematik der Todessehnsucht hingewiesen, sondern die Allgegenwärtigkeit des Todes durch die Erfahrungen des 30- Jährigen Krieges begründet.
Da ich wahrscheinlich die Ausführungen der Schüler nicht zitieren darf, versuche ich die Begründung zu beschreiben.Der erste Schüler begründet das so:
- Tod als Liebhaber (um die Brüste streichen)
- "endlich: klingt nach Erlösung
- "Dies und noch mehr als dies muss endlich untergehen": dem Leser wird deutlich gemacht, dass die Person, welche den Verfall beschreibt, ihn sich "vielleicht sogar" wünscht, da durch den Untergang der Schönheit der Übergang zum Jenseits ermöglicht wird
- dem Verfasser kommt es mehr auf das Leben nach dem Tod an und Tod ist etwas WünschenswertesDer 2. Schüler so:
- Frau kann "endlich" den Tod fühlen, nach welchem sie sich gesehnt hat
- Menschen zur damaligen Zeit sehr gläubig, Hoffnung auf Jenseits mit besserem Leben -- das gab ihnen Kraft die Leiden des Krieges zu verarbeitenIm Moment habe ich dem zweiten Schüler einen und dem 1. Schüler 2 Zusatzpunkt(e) gegeben, wobei ich in den Anmerkungen geschrieben habe, dass die Darstellung undifferenziert ist und "endlich"auch "am Ende" der Zeit bedeuten könnte. Der Zusatzpunkt deshalb, weil ich mit der Antwort nicht gerechnet habe und beide Schüler ziemlich oft auf diese Erlösungs-Sehnsuchts-Thematik in ihrem Aufsatz eingehen und ich denke, dass sollte honoriert werden oder? Es sind ja auch keine Studenten. Woher sollten sie wissen, dass endlich auch am Ende heißen kann, wenn es in den Wort-Anmerkungen nicht aufgeführt ist.... Ich müsste wissen, wie es im Deutschunterricht behandelt wird. Wenn dort der Topos memento mori als Todessehnsucht charakterisiert wird, kann ich schlecht Punkte abziehen oder keine Zusatzpunkte vergeben.
Liebe Grüße
Maria -
Hallo,
ich weiss zwar nicht, was für ein System ihr mit Zusatzpunkten habt, und ich weiss nicht, ob ich für die Ideen der Schüler zusätzliche (!)Punkte vergeben würde, aber ich finde, alles in allem klingt es nach einer sinnvollen Bewertung.
ZitatEs sind ja auch keine Studenten. Woher sollten sie wissen, dass endlich auch am Ende heißen kann, wenn es in den Wort-Anmerkungen nicht aufgeführt ist....
Das hätte man vielleicht wirklich angeben sollen.
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Ich formuliere mal auf die Schnelle:
Das Gedicht hat m.E. durchaus auch fast boshafte Aspekte. Die Frau, deren Schönheit die Männer anbeteten, wird auf den kommenden körperlichen Verfall aufmerksam gemacht. Das Herz als Diamant zu beschreiben zeigt zwar die Beständigkeit des Materials, aber auch die Härte.
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Ich finde auch, dass das Gedicht sehr vielseitig ist. Deshalb fällt die Bewertung auch so schwer. ich finde schon, dass für 15 Punkte beide Interpretationsmöglichkeiten (Appell auf innere Werte und Liebeswerben) angeführt werden müssen, da ich in vielen Foren gelesen habe, dass das Gedicht im Unterricht schon behandelt wurde und generell Barocke Literatur ein zentrales Thema im Unterricht war. Deshalb bin ich auch ein bisschen "entsetzt", dass die zwei Aufsätze, die ich kontrollieren muss, kaum Epochenkenntnisse anbringen, obwohl das in der Aufgabenstellung direkt verlangt wurde...
Das Schlimmste ist eigentlich, dass ich nicht weiß, was man von Schülern erwarten kann bzw. das "Uniniveau" von Hausarbeiten wieder runter zu schrauben... Deshalb denke ich, dass ich zu hohe Anforderungen habe.
Liebe Grüße
Maria -
Diese Hausarbeit macht mich wirklich fertig Vor allem aber macht sie mir Angst vor meiner Arbeit als Deutschlehrerin.
Ich habe beide Aufsätze mit meinem wirklich differenziertem und detailliertem Erwartungsbild korrigiert. Der eine Aufsatz erhält 8 Punkte und der andere 6 Punkte. Das Problem ist nun folgendes: Mir wurde nun gesagt, dass ich einen von den Lehreren mit der Note 2 und einen mit der Note 4 bewerteten Aufsatz bekommen habe. Das heißt, dass meine Bewertung schlechter ist und das muss ich jetzt irgendwie begründen. Es ist auch komisch, dass mir aufgrund von den ersten Leseeindrücken beide Arbeiten nicht gefallen haben.
Ich suche jetzt fieberhaft nach Begründungsmöglichkeiten, was allerdings schwer ist, da ich keinerei Vorstellungen hab, was man von einem Schüler, der im Abitur nur wenig Zeit hat, erwarten kann und was "Spitzfindigkeiten" eines Studenten sind. Wenn ich die 2 Schülerarbeiten mit meinem exemplarischem Aufsatz und dem im Klett-Heft vergleiche finde ich, dass viele Interpretationspunkte einfach fehlen und der Aufbau total schwammig ist. Mittlerweile bin ich so konfus, dass ich mir nicht mal mehr sicher bin, welcher Aufsatz jetzt eigentlich der bessere sein soll.... Oh Mann, ich bin echt verzweifelt
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