Wie groß ist der Druck auf Viertklasslehrer?

  • oder ...


    Was ich schon immer wissen wollte, aber nie zu fragen wagte:



    Wie erlebt das eigentlich eine Lehrerin der 4. Klasse, wenn das Thema "Übertritt ans Gymnasium" akut wird?



    In der Presse liest man, dass dabei arme Kinder und solche mit Migrationshintergrund gegenüber gleich intelligenten
    Akademikerkindern benachteiligt würden. Von Kollegen am Gymnasium hört man, dass der Anteil fürs Gymnasium geeigneter Kinder
    unter den Fünftklässlern in den letzten Jahrzehnten immer kleiner geworden ist (auch meine Erfahrung).


    In einigen Bundesländern liegt die Übertrittsentscheidung ja allein bei den Eltern, aber in anderen entscheidet das Zeugnis
    der Grundschule über die weitere Schullaufbahn. Wie geht man damit als Grundschullehrer um? Gibt es Druck? Von wem?


    Grüße, Helmut (seit 1. August pensioniert)

  • Hallo Helmut,


    deine Beobachtung kann ich ganz und gar nicht bestätigen. Seit die Wirtschaft immer mehr auf Abiturienten zugreift, ist die Schülerschar, die zum Gymnasium geht eher größer geworden. Außerdem gibt es dabei dann etliche Schüler/innen, die an einer anderen Schulform besser aufgehoben wären.
    Bei uns ist es derzeit so, dass die Gymnasien die Schülerflut gar nicht mehr aufnehmen kann, während die Hauptschulen z. B. ums Überleben kämpfen müssen. Für mich ist das ein sehr bedenklicher Trend und ich denke, dass sich die Schulpolitiker schleunigst überlegen müssen, wie sie diesem Missstand begegnen können.


    LG Lieselümpchen

    Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich! (Afrikanisches Sprichwort)
    :)

  • Wir haben schon die gleiche Beobachtung gemacht: Immer mehr Schüler am Gymnasium, aber der Anteil (!) geeigneter wird immer kleiner.


    Bin gespannt, ob Kolleginnen von der Grundschule uns hier verraten, wie es in der 4. Klasse zugeht, wenn der Übertritt ans Gymnasium ansteht.


    Gruß, Helmut

  • Wir haben in diesem Jahr auch ganz stark mit dem Leistungsniveau unserer Fünftklässler zu kämpfen.
    Beim Gespräch mit der Grundschullehrerin hat diese mir bestätigt, dass sie bei den schwachen Schülern gegenüber den Eltern Bedenken geäußert habe, die Eltern es jedoch unbedingt am Gymnasium versuchen wollten. Die Lehrerin hat dann dem Druck nachgegeben.


    Im Gespräch mit der entsprechenden Mutter (die von meinem Gespräch mit der Grundschullehrerin nichts wusste) hat mich diese angesichts der vielen 5er, die ihr 10jähriger Sohn in den ersten Wochen am Gymnasium geschrieben hat, eiskalt angelogen und behauptet, es habe in der Grundschule nie Probleme gegeben und die Lehrerin habe keinerlei Bedenken gehabt.
    Der arme Junge hat jetzt mehrmals in der Woche Nachhilfe.


    Einerseits tut es mir weh, die Kinder weinen zu sehen, wenn ich Arbeiten und Tests zurückgebe, aber wirklich helfen kann ich ihnen auch nicht.
    Ich wünschte, es gäbe wie in Bayern ein Übertrittszeugnis, so dass die Gymnasiallehrer sich wenigstens in etwa ein Bild von den bisherigen Leistungen ihrer Schüler machen können - von mir aus erst zum Halbjahr, wenn man sich ein eigenes Bild gemacht hat...


    Frustrierte Grüße
    Lolle

  • Hallo,
    ich habe im Moment eine 4. Klasse. Leider habe ich nicht so viele Kinder, die meiner Meinung nach ins Gym könnten. Ich habe zwei Mütter, die ihr Kind genau da sehen möchten, allerdings halte ich die Kinder nicht für geeignet. Die eine Mutter überlegt, ob ih Sohn die 4 wiederholt, die andere Mutter lässt ihr Kind stundenlang am Schreibtsch sitzen und üben (das Kind muss immer alle differenziert Aufgaben *,** und *** erledigen obwohl nur eine Pflicht ist). Falls die beiden Mütter ihr Kind aufs Gym schicken, werde ich zwar etwas dagegen sagen, aber der Elternwille hat Vorrang. Von daher würde ich eher sagen, dass der Druck bei den Kindern viel größer ist als bei mir.
    Viele Grüße
    Lissy

  • Hallo,
    ich unterrichte momentan eine 4. Klasse in BaWü, wo ja die "Grundschulempfehlung" bindend ist (Aufnahmeprüfung ist bei nicht erteilter RS-/Gym-Empfehlung möglich). Muss sagen, dass ich schon feststellen kann, dass einige Kinder unter Leistungsdruck stehen (und teilweise im Moment regelrecht "versagen", dem nicht gewachsen sind). Allerdings geht es meines Erachtens nach weniger ums Gym, aber die RS sollte es für die Eltern schon sein! Finde persönlich die Selektion nach Kl. 4 sehr fragwürdig, aber darum geht's ja an dieser Stelle nicht. Der Drang zum Gym ist hier nicht so spürbar (ländliche GS). Eltern, die um Punkte in Klassenarbeiten kämpfen etc. habe ich bisher weniger erlebt, aber schon zu genüge solche Geschichten von Kollegen gehört.
    Gruß, sunshine_lady

  • M.E. erhöht sich der Druck auf die Grundschullehrer bzgl. Übertritt in weiterführende Schulen parallel zur politischen Lage.


    Bei mir erschienen in diesem Durchgang zum ersten Mal Erstklässler zur Einschulung mit einem T-Shirtaufdruck: Abitur im Jahre X. So weiß jeder, wohin die Reise gehen soll.


    Kinder, die keine Gymnasialempfehlung bekommen, werden z.T. klassenintern diskrimiert.


    Dementsprechend stufe ich den Druck auf mich als Lehrerin hoch ein.


    LG


    Ulli

  • Das T-Shirt "Abi 20XX" hatte bei mir auch schon ein Kind an - ausgerechnet eines, für das sogar die RS-Empfehlung noch äußerst wackelig ist. Ob man mit so einem Shirt dem Kind einen gefallen tut? Richtig witzig kann ich es nicht finden.

  • ...habe Erfahrungen im Grund- und Hauptschulbereich...
    In RLP ist der Elternwille frei - die Empfehlung der Grundschule also eine reine Formsache; trotzdem habe ich meist die Erfahrung gemacht, dass sich die Eltern überwiegend danach richten.


    Aber ein ketzerischer Satz sei hier einmal gesagt: Es gibt keine Haupt-, Real- oder Gymnasialschüler! Es gibt nur Schüler, denen man so individuell wie möglich helfen sollte.


    In RLP wird ab 2008 die Hauptschule und Realschule formal zusammengelegt (auf dem Land existieren schon viele Regionalschulen, die das praktizieren, hinzu kommen nun noch sog. Realschulen "plus"); damit löst man aber kein Problem, sondern verlagert es nur...


    Politiker suchen immer die kostenneutralen Lösungen.
    Dass wir zu früh selektieren, ist ja inzwischen Allgemeingut - trotzdem wird daraus nicht die einzig richtige Konsequenz gezogen: Lasst die Schüler zusammen! Mindestens Orientierungsstufe noch gemeinsam - besser Gesamtschulen, wo immer es geht. Das dreigliedrige Schulsystem hat sich längst überlebt - aber man operiert immer weiter an einer Leiche...

    Denken ist etwas, das auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht.
    B. Brecht, Me-Ti

  • Zitat

    Original von oktoberfeld
    ...


    Aber ein ketzerischer Satz sei hier einmal gesagt: Es gibt keine Haupt-, Real- oder Gymnasialschüler! Es gibt nur Schüler, denen man so individuell wie möglich helfen sollte.
    ...


    Absolut d'accord!


    Nur - genau dies ist das Ziel der verschiedenen Schularten. Glaubst du wirklich, dass ein Schüler, der geistig behindert ist, das Abitur schaffen kann? Das wäre nämlich die Konsequenz, wenn man den Gedanken wirklich durchspielt.


    Menschen sind unterschiedlich. Sie haben verschiedene - auch biologisch bedingte Unterschiede. Ich unterrichte an der Hauptschule und sehe täglich, wie die Kinder bereits bei einfachen logischen Sachverhalten Probleme haben, diese zu kapieren.


    Mein Sohn hat gerade das Abitur gemacht, mein Neffe die Realschulprüfung. Ich kenne die Anforderungen, die an diesen Schularten gestellt werden. "Meine" Hauptschüler würden hier kläglich scheitern.

    Vorurteilsfrei zu sein bedeutet nicht "urteilsfrei" zu sein.
    Heinrich Böll

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