Anknüpfung: Im vorhergegangenen Thread ging's um eine bestimmte Situation, in der ein Kind sich daneben benahm und auf religiöse Gründe verwies, da liefen aber mehrere Probleme zusammen. Dehalb noch einmal losgelöst:
Wie viel religiöse Toleranz ist angebracht?
Im Thread wurden mehrere Meinung geäußert, die für mich in die Richtung "Die (selten benannt: Muslime) sollen sich gefälligst an uns anpassen, bei dem Frauen-/ Menschenbild sollten wir (Westler) unsere eigenen Werte durchsetzen und fertig". (Ich überspitze hier bewusst, aber nicht sehr).
Die Behauptung, die (sanfte, tolerante) Integration sei in Deutschland gescheitert, ist unsinnig, weil es in Deutschland nie eine Integration im eigentlichen Sinne gegeben hat. Bei der ersten Generation Gastarbeiter wurde davon ausgegangen, dass sie möglichst bald wieder nach Hause sollten, deshalb wurde auf Integrationsanstrengungen bewusst verzichtet: Familienzusammenführungen waren schwierig, nachkommende Frauen und Kinder wurden irgendwo geparkt, die Kinder meist auf der Hauptschule, unabhängig von ihrem tatsächlichen Potential. Der zweiten Generation ging's begrenzt besser, sie wurden zwar zu Aushängeschildern eines naiven "Was ist die Welt schön bunt, nun erzähl uns doch mal von deiner Heimat" (welche Heimat?) Multikulti genommen, meist bestand die Integration aber eher in einem mit Toleranz verwechselten Ignorieren der Probleme. Jetzt, wo uns das Ganze in der dritten Generation um die Ohren fliegt, wird behauptet, die Integration habe versagt, nun müssten wieder harte Grenzen her. Dabei wird übersehen:
Erfreulicherweise hat sich trotz des Fehlens staatlicher Unterstützung in Deutschland inzwischen ein muslimisches Bürgertum gebildet, etwa vergleichbar mit den jüdischen Deutschen der Weimarer Republik, mit kulturell "gemischten" Identitäten, die es zu respektieren gilt. Islam als Teil der deutschen Religions- und Kulturlandschaft ist da und nicht mehr auszulöschen, mögen die Fundis noch so sehr nach einer Rückbesinnung auf christliche Werte schreien. Die muslimische Mittelschicht ist unsere einzige Chance auf einen aufgeklärten Islam in Deutschland, deshalb sollten wir aus schierem Selbstinteresse nach Möglichkeiten eines gemeinsamen Lebens suchen.
Die fanatisch-konservativen islamistischen Spitzen entstehen gerade dort, wo der Zugang zu Bildung und besseren Lebensmöglichkeiten verwehrt wird, unter anderem durch Zwangsaufklärung per Ordre de Mufti - denn Entzugsmöglichkeiten gibt es immer. Natürlich ist es richtig, Grundwerte festzulegen: Verpflichtende Deutschkenntnisse, verpflichtende sexuelle und staatsbürgerliche Aufklärung, Gleichbehandlung der Geschlechter usw. Wenn das aber nicht von echter Aufklärung begleitet, sondern nur angeordnet wird, führt es zu stärkerer Abgrenzung, nicht zu Integration.
Beispiel Deutschpflicht auf dem Schulhof. Die Berliner Realschule hat vorexerziert, wie man es machen soll: Im gemeinsamen Gespräch zwischen Lehrern, Eltern und Schülern, als Regel, an die sich gehalten wird, weil man in vernünftigem Gespräch überein gekommen ist, dass alle etwas von dieser Regel haben. Meine identitätsgemischten Schüler haben heftig und lang über dieses Thema gestritten, heraus kam: Als Übereinkunft ja, als Verordnung von Oben nein, weil sie zuviel ihrer eigenen Identität verlieren würden. Ich denke, das kann man verallgemeinern.
Die meisten von uns sind Lehrer, also Leute, die glauben, etwas zu vermitteln zu haben, und sich mit Begeisterung in das Leben anderer Leute einmischen. Uns sollte als goldene Regel ins Herz gebrannt sein, dass all unsere Bemühungen nur dann etwas bringen, wenn wir unsere Schüler da abholen, wo sie sind - auch kulturell. Das ist anstrengend, denn es heißt, sich zu informieren, was eigentlich in der besonderen Spielart des Islam, mit der ich es konkret zu tun habe, welche Wertigkeit hat. Es ist mühsam, weil immer wieder Grundsätze an Einzelfälle angeglichen werden müssen. Und es verunsichert, weil man immer wieder improvisieren und die eigenen Wertigkeiten in Frage stellen muss (wo wir uns doch so schon um sooo viele Lernschwächen, Allergien und all diese anderen lästigen Dinge, die es in der guten alten Zeit NIEEEE gab, kümmern müssen...). Ich glaube nur, dass es erstens nicht anders geht und sich zweitens lohnt. In den Bereichen Literatur und Film führt der Migranteneinfluss bereits jetzt zu einer Revitalisierung und Bereicherung, die bei reiner Deutschtümelei nie zu erreichen gewesen wäre - bei anderen Bereichen kenne ich mich nciht so aus, habe aber den Eindruck, dass das durchaus vergleichbar ist. Deshalb tut echte Integration not - für beide Kulturen.
w.