Ein Beispiel für "authentisches" Lernen - oder: Holocaust zum Anfassen?!


  • Hm, also ob da jemand nicht mächtig über's Ziel hinausgeschossen ist? Oder ist einfach nur die Schulstufe falsch? Andererseits gibt's ja den Film "Blauäugig" ("Blue-eyed", 1996, mehr dazu hier: http://us.imdb.com/title/tt0115716/ ), der ja ähnlich funktioniert - und als pädagogisch wertvoll gilt, weil er das Entstehen von Stereotypen und Stigmata anschaulich vor Augen führt... Oder - zu diesem Thema - doch besser nur ein Lehrbuchtext (natürlich nicht in der Grundschule)?


    gruß, ph.

    Einmal editiert, zuletzt von philosophus ()

  • Ich weiß nicht, ob ein Lehrbuchtext das passende Medium sein kann. Wie aktuell das Thema auch bezüglich solcher Methoden ist, zeigt die aktuelle Arbeit der eyetoeye-Organisation (in Nachfolge zu Jane Elliott und blue-eyed), die entsprechende Veranstaltungen in Seminarform immer wieder durchführt - heute noch in vielen Ländern, auch in Deutschland, allerdings erst für Teilnehmer ab 16. (siehe http://www.eyetoeye.org/de/index.shtml ).
    Ich glaube, letztlich muss man in Deutschland besonders sensibel mit dem Thema umgehen, es ist hier viel schwieriger. Auf jeden Fall hat die Lehrerin in deinem Fallbeispiel einen gravierenden Fehler gemacht: Sie hätte sich vorab die Erlaubnis der Eltern einholen müssen. In einem Seminar haben wir vor einem Jahr die Frage diskutiert, ob wir eine solche Einheit in der Schule durchführen würden und ab wann. Der Tenor war schließlich dahingehend, dass die meisten es erst in der Sekundarstufe für realisierbar halten, generell aber wohl sowieso eher Abstand davon nehmen würden.
    Was allerdings das richtige Medium ist... ?( - ich bin gespannt auf andere Meinungen!
    LG
    Britta

  • Ich finde die Idee sehr spannend - es gibt sie ja im Prinzip schon seit "die Welle" - hier allerdings für die Grundschule völlig verfehlt, denn es ist ja entscheidend, diese Erfahrung genau zu reflektieren und nicht nur emotional zu schocken. ich glaube nicht dass Schüler der Grundschule oder auch der ersten Gymnasialklassen das hinreichend leisten können.


    Im Prinzip halte ich so ein Vorgehen aber legitim, wobei man das eben auch im Unterricht durchaus zur Debatte stellen kann: finden die SchülerInnen eine solche Herangehensweise angemessen oder verfehlt? Da ist es möglich, die Reflexion noch zu vertiefen.


    Das Problem besteht darin, dass die Schüler in Geschi ungefähr ab Klasse 9 oder 10 das Gefühl haben, sie hätten NS schon 1000ma gemacht. Tatsächlich steht es nur in der 10 und in der Oberstufe, also zweimal, auf dem Lehrplan in NRW. Allerdings wird es in Deutsch, Reli, Politik, auch Projekten usw. gern herangezogen, um Betroffenheit zu erzeugen - und in der Öffentlichkeit ist es auch sehr präsent. Dann sind die Kids irgendwann abgestumpft und überfüttert, und mir als Geschi Lehrer bleibt nichts anderes übrig als nach Hintertürchen zu suchen. So habe ich beispielsweise schon mit Legoprospekten zu KZ-Bausätzen gearbeitet (die gibt es nicht wirklich, sondern es handelt sich um Kunst) und davon ausgehend auch die Legitimität solcher oberflächlich gesehen spielerischen Verniedlichung diskutiert... so konnte ich SuS erreichen, die zuvor sehr desinteressiert waren.


    Das wäre im vorliegenden Fall bei noch ganz unbedarften Grundschülern sicher nicht nötig gewesen.


    Grüße,
    JJ

  • Ich halte das Vorgehen der Lehrkraft für sehr problematisch, mal abgesehen von der fehlenden Elterninfo etc.
    In der Schule gibt es Tag für Tag Versuche, Schülerinnen und Schüler - aus welchen Gründen auch immer - auszuschließen, zu diskriminieren. Das ist der Ernstfall - für Täter wie für Opfer und die, die "nur" zuschauen.... Aufmerksame Lehrkräfte kriegen das mit - auch wenn's zuerst nur die leisen Töne sind.
    Die Ausgrenzung von Menschen kann (muss) an diesen Vorfällen problematisiert werden, dann macht es Sinn, besonders für die Betroffenen - alles andere ist künstlich, wird zum Spiel, zur Unterhaltung.

  • Hallo,
    Natürlich hat die Lehrerin sich wohl in der Schulstufe vertan.
    Was ich noch dazu denke, etwas unsortiert (lerne gerade Geschichte für die Mündlichen) und vielleicht nicht unkontrovers:
    Bei der Aktion dieser Lehrerin, werden die Schüler - mehr oder weniger erfolgreich - dazu gebracht, sich in die Postition der Opfer einzudenken / -fühlen. Ich denke es wäre angebrachter, die Postition der Mitläufer oder Täter in den Vordergrund zu stellen. Nicht nur aus theoretischen Überlegungen: weil es in diesem Zusammenahng leichter ist, Opfer zu sein, als sich der Verantwortung der Mitläufer / Täter anzunähern. Sondern einfach deshalb, weil ich es für schwieriger halte, diese Seite in einer Art und Weise zu vermitteln, die nicht bei der Erzeugung von Schuldgefühlen (und damit evt. bei Abwehr) stehen bleibt.
    Was ich konkret meine:
    Als Schülerin (ca. Anfang Gymnasium) war ich einmal eine Teilnehmerin bei einer Veranstaltung, in deren Rahmen wir die Rollen von Mitgliedern der HJ / des BDM übernahmen: alte Uniformen, Haarfrisur etc. Und dann wurde mit uns auch dementsprechend umgegangen: `richtig´Grüßen, Ansprache etc. Danach eine sehr, sehr gute Reflexion.
    Für mich war es die Einführung in Perspektivenwechsel / hist. Denken: Ich war stolz, wie gut und schnell ich den Gruß erwiedern konnte... bis dann schlagartig das Hirn einsetze...


    Grüße, Julie

  • Zitat

    Bei der Aktion dieser Lehrerin, werden die Schüler - mehr oder weniger erfolgreich - dazu gebracht, sich in die Postition der Opfer einzudenken / -fühlen. Ich denke es wäre angebrachter, die Postition der Mitläufer oder Täter in den Vordergrund zu stellen. Nicht nur aus theoretischen Überlegungen: weil es in diesem Zusammenahng leichter ist, Opfer zu sein, als sich der Verantwortung der Mitläufer / Täter anzunähern. Sondern einfach deshalb, weil ich es für schwieriger halte, diese Seite in einer Art und Weise zu vermitteln, die nicht bei der Erzeugung von Schuldgefühlen (und damit evt. bei Abwehr) stehen bleibt.


    .."angebrachter" würde ich es keinesfalls nennen. Wenn man genügend Zeit hat, ist sicherlich auch die Täter- und Mitläuferperspektive zu problematisieren. Aber zunächst einmal kommen die Kids mit ehr verschwommenen Vorstellungen und allen möglichen Gerüchten im Rucksack an, die sie irgendwo als Wahrheit gehört haben - da würde ich nicht dem dem Einfühlen in HJ-Mitglieder anfangen oder hier den Schwerpunkt setzen - auch wenn es nicht so gemeint ist, kann das sehr schnell in Richtung Verständnis und Entschuldigung gehen, weil der Beurteilungshorizont der SuSdoch recht eng ist.
    Grüße,
    JJ

  • Zitat

    auch wenn es nicht so gemeint ist, kann das sehr schnell in Richtung Verständnis und Entschuldigung gehen, weil der Beurteilungshorizont der SuSdoch recht eng ist


    Ich sehe das Problem. Da ist natürlich eine gute Hinleitung und anschließende Reflexion absolut unverzichtbar.
    Ich denke halt nur, daß das Problem der `Mitläufertums´ auch einen wichtigen Punkt darstellt , und nicht nur, wenn man dann noch Zeit hat. Aber anderseits bin ich noch ohne praktische Erfahrung was das Vorwissen und die Reflexionsfähigkeit von Schülern angeht...


    Gruß, Julie

  • Bin nicht ganz einverstanden mit deiner Perspektive, Justus, und stimme eher für Julie Mangos Position. Ich erlebe im Gym (und zwar Sek I und II) immer wieder, dass sich wunderbar auf's hohe Ross des "Ich niemals - aber was hätte ich als Opfer gelitten" gesetzt und die entsprechenden Betroffenheitsschleifen abgespult werden. Mit unreflektierter Verteufelung der Täter ist aber auch niemandem gedient. Bei vielen SuS bleibt dann eine vage Melange aus Übersättigung, Unverständnis und Provokations-Faszination übrig.


    Aus dem Grund meine ich, dass "das Thema" frühestens in der Mittelstufe ernsthaft angegangen werden kann. Und wenn es denn wirklich vermittelt werden soll, halte ich den "Schleichweg" - der ja letzten Endes auch in "Der Welle" vollzogen wird -, nämlich zuerst die Faszination klar zu machen, bevor die Entlarvung kommt, für den sinnvollsten. Mit Abziehbildchen von Nazi-Monstern und Holocaust Gräuel ist niemandem gedient.


    Was nicht heißen soll, dass das Thema "Ausgrenzung und Diskriminierung" nicht in der Grundschule behandelt werden soll und muss. Aber warum dafür das dritte Reich auffahren, das für die SuS noch viel zu komplex und eh schon im Dunkel der Geschichte verschwunden ist? Niemand versucht, Grundschülern islamischen Extremismus anhand von frühneuzeitlichem Katholizismus (einschl. Insquisition und Hexenverbrennung) zu erklären. Niemand erklärt den Irak-Krieg anhand der Politik des britischen Empires. Ich finde nicht, dass 8-Jährige die Reichskristallnacht verstehen müssen.


    w.

    Frölich zärtlich lieplich und klärlich lustlich stille leysejn senffter süsser keuscher sainer weysewach du minnikliches schönes weib

  • Zitat

    wunderbar auf's hohe Ross des "Ich niemals - aber was hätte ich als Opfer gelitten" gesetzt und die entsprechenden Betroffenheitsschleifen abgespult werden. Mit unreflektierter Verteufelung der Täter ist aber auch niemandem gedient. Bei vielen SuS bleibt dann eine vage Melange aus Übersättigung, Unverständnis und Provokations-Faszination übrig.


    Das ist richtig, aber genau das wird in einem guten Geschi-Unterricht auch nicht passieren!
    Ich habe mich im Kollegium aber schon mit einigen Leuten diesbezüglich angelegt, da "das Thema", gerade weil es beim ersten oder zweiten "Durchnehmen" noch schockt und betroffen macht, gern von Reli, Deutsch usw. aufgegriffen wird. Leider machen die Leute dann mit undifferenzierter Betroffenheitslyrik mehr kaputt, und genau das kommt heraus, was du beschreibst. Ist ja auch klar bei einer Intention, die nicht auf historische Reflexion per se zielt, sondern andere Dinge anstrebt. Zudem kennen viele LehrerInnen das Thema vor allem aus dem eigenen Unterricht und von Guido Knopp und wissen nicht viel anderes damit anzufangen als zu moralisieren.


    Wie gesagt steht es erst in Klasse 10 in Geschi auf der Tagesordnung, eben weil es ein Reflexionsverständis erfordert! Wenn die Kids die Schnauze nicht dann schon voll davon hätten, wenn sie bei mir ankommen, dann hätte man es wesentlich einfacher. Zudem finde ich ja den geschilderten Ansatz nicht falsch, ich würde ihn nur nicht ins Zentrum stellen. Denn gerade weil sie so eine wirre, rein emotionale Melange mitbringen, aber kaum Orientierungswissen haben, kann das brandgefährlich werden.


    Grüße,
    JJ

    • Offizieller Beitrag

    Ich stimme Wolkenstein zu - besonders auch hinsichtlich der Haltung der Schüler in der Mittel- Oberstufe.
    Die indirektere Art des Umgangs mit dem Thema verhindert (manchmal) eben diese "oh nee, nicht schon wieder!" Haltung - das Exemplarische kann hier doch einiges bewirken.


    Allerdings sehe ich selbst da neuerdings Probleme - denn das Thema ist inzwischen fast zur Unkenntlichkeit belegt mit Reflexreaktionen aller Art. Diese rangieren von Schock über Abwehr wegen Übersättigung bis hin zur "Faszination des Bösen" - da eine angemessene Lücke zu finden und eine gute Methode ist sehr, sehr schwer.


    Zu früh mit solchen Schock-Mitteln zu arbeiten (Grundschule schon mal gar nicht!) halte ich für verfehlt, aber auch in der Mittelstufe kann selbst ein indirekterer Weg eine Sackgasse werden. Ich erinnere mich an ein "Experiment" unseres phantastischen Theatermenschen, der in seiner Deutschklasse einen Versuch zur Ausgrenzung machte: Eine Masse Schüler stellte sich um einen (wechselnden) Einzelnen herum und bewegte sich als geschlossene Mauer gegen ihn / sie, drängend und bedrängend. Danach umgekehrt, die Personen wurden einzeln in eine Ecke gesetzt und nahmen am Unterricht für eine Weile nur noch passiv, zuschauend und allein teil.
    Trotz ausführlicher Reflexion gab es scharfe Proteste, da sich einzelne Schüler von diesem Rollenerlebnis nicht mehr trennen konnten und damit über längere Zeit nicht klar kamen, Konflikte hatten sich in der Klasse verschärft, es wurde sich gefragt, wie die Auswahl der Auszuschließenden zustande kam, etc.


    Es ist ein so schmaler Grat, dass es für einen Lehrer kaum noch möglich ist ihn angemessen zu beschreiten. Aus dem Deutschunterricht kenne ich die Schülerbetroffenheitsphrasen, die die Lieben, am Thema überfressen, auf knopfdruck abspulen. Dass sie dabei irgendetwas in Richtung ehrlicher Betroffenheit spüren, merke ich selten.
    Brecht oder Böll zu lesen fällt mir schwer, weil ich weder dem Autor, noch dem Thema NS Zeit und danach, noch den Schülern gerecht werden kann. Jedenfalls nicht so, wie ich meine, dass es sein müsste.


    Bleiben die großen Fragezeichen - dieselben Fragezeichen, wie bei den Thema "native American experience" oder "black community" in Englisch - wie dringt man über das Hirn in die Herzen vor?


    ratlos,


    Heike


    Eine Lösung habe ich bis dato auch noch nicht -

    WE are the music-makers, and we are the dreamers of dreams,
    World-losers and world-forsakers on whom the pale moon gleams
    yet we are the movers and shakers of the world for ever, it seems.

    Einmal editiert, zuletzt von Meike. ()

  • Hallo!
    Ich halte das Thema für unglaublich schwer! Ich stehe solchen Experimenten sehr skeptisch gegenüber, weil man dadurch versucht, Schüler etwas nachempfinden zu lassen, was meiner Meinung nach so nie klappt. Denn die Situation von Minderheiten im NS ist einmalig in der Geschichte der Menschheit. Aufgewühlt werden alte Konflikte, neue ergeben sich, Schüler machen eine Grenzerfahrung mit sich und anderen - eine historische Erfahrung ist das nicht!
    Besonders weil von den Schülerinnen und Schülern nicht nur - so meine Erfahrungen - Betroffenheit auf Knopfdruck kommt, sondern häufig die viel schlimmere Aussage: Es war nicht alles schlecht was Hitler gemacht hat, mein Vater sagt usw. Die Kids entblößen im Unterricht brutal die Stammtischparolen der Eltern, vielleicht sogar die der Gesellschaft! Da kriege ich regelmäßig das kalte Grausen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man an die Herzen der Schüler - wie Heike so schön und treffend sagt - am ehesten durch das Medium Film (Dokumentarfilm) kommt. Die Schüler prägen sich Bilder ein, die sie nie wieder vergessen. Auch ich bin nach dem Film immer völlig fertig und betroffen. Dann ein gutes Gespräch als Mensch, nicht als Lehrer, kann helfen, ehrliche Gefühle zu erwirken.
    Gruß Cleo

  • Zitat


    ... Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man an die Herzen der Schüler - wie Heike so schön und treffend sagt - am ehesten durch das Medium Film (Dokumentarfilm) kommt. Die Schüler prägen sich Bilder ein, die sie nie wieder vergessen. Auch ich bin nach dem Film immer völlig fertig und betroffen. Dann ein gutes Gespräch als Mensch, nicht als Lehrer, kann helfen, ehrliche Gefühle zu erwirken.
    Gruß Cleo


    Ich finde mich in diesem Beitrag gut wieder - die "Erfahrungen", die die Kinder in der weiter oben beschriebenen Situation gemacht haben, werden nicht zu einer Erweiterung ihres geschichtlichen Bewusstseins führen können - dazu fehlt es an Kenntnissen über die historischen Fakten und Hintergründe, dazu sind sie, mit Verlaub, auch noch zu jung. Sie werden merken, wie blöd es ist, Außenseiter zu sein, dass es auch sehr nachteilig ist etc., aber ein Transfer wird ihnen nicht gelingen. Ich mag diese Art von "Betroffenheitsunterricht" einfach nicht. Die SuS werden sich nicht als Verfolgte des Naziregimes gefühlt haben - sowas lässt sich nicht "spielen".
    Die Bilder, die die Kinder in Filmen sehen, sind sehr viel nachhaltiger und Grundlage vieler Fragen - eine Lehrkraft braucht sehr viel Sensibilität, aber auch fundierte geschichtliche Kenntnisse um beidem berecht zu werden, der Betroffenheit und den Fragen der Kinder: was damals passiert ist, wie es passieren konnte und warum so viele Menschen mitgemacht haben.

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